Am Freitag, 5. April, veröffentlichte das Berlin-Institut seine neue Studie zur demografischen Entwicklung in Deutschland. Das Fazit lässt sich eigentlich auf den Punkt bringen: Die Politiker sind ratlos. Sie doktern nur an Symptomen herum, ignorieren aber noch immer die Prozesse, die das Land gründlich verändern. Auch den Osten, der massiv überaltert. Dafür wird Leipzig wohl weiter wachsen, bis hier 700.000 Menschen wohnen.

Demografischer Wandel heißt: Weniger Arbeitskräfte, steigende Kosten in den Sozialsystemen und immer stärker zutage tretende regionale Verwerfungen verlangen nach neuen Antworten von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat die demografische Lage der Nation untersucht und erstmals eine eigene, regionale Bevölkerungsprognose für alle 401 Kreise und Kreisfreien Städte berechnen lassen.

Dank Zuwanderung und leicht gestiegener Kinderzahlen ist die Einwohnerzahl entgegen früherer Voraussagen mit rund 83 Millionen auf eine neue Rekordmarke geklettert. Auch in den nächsten Jahren dürfte die Bevölkerung laut der neuen Prognose kaum schrumpfen und 2035 bei etwa 82,3 Millionen Menschen liegen.

„Allerdings verschärfen sich in Deutschland die regionalen Verwerfungen zwischen den prosperierenden Großstädten und den entlegenen, strukturschwachen Regionen“, sagt Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts.

Dem Osten geht die Bevölkerung verloren

In allen fünf ostdeutschen Flächenländern werden der Prognose zufolge die Bevölkerungszahlen bis 2035 zurückgehen – am stärksten mit fast 16 Prozent in Sachsen-Anhalt. Weite Regionen zwischen Rügen und dem Erzgebirge werden mehr als jeden fünften Einwohner verlieren. Die Alterung der Gesellschaft führt dazu, dass im brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße 2035 auf eine Geburt vier Beerdigungen kommen dürften. Gleichzeitig liegt im Osten aber auch die am schnellsten wachsende Stadt der Republik: Leipzig muss bis 2035 ein weiteres Einwohnerplus von rund 16 Prozent verkraften. Auf die derzeit knapp 595.000 Einwohner berechnet bedeutet das: Bis 2035 sind die 700.000 Einwohner wahrscheinlich.

Und zwar nicht, weil Leipzig so außergewöhnlich ist, sondern weil die „Jobs der Zukunft“, wie sie das Berlin-Institut nennt, alle in den Großstädten entstehen. Das ist jetzt schon so. Lediglich in den südlichen Bundesländern entfalten auch Landkreise abseits der Großstädte eine solche Innovationskraft, dass sie auch für junge, hochqualifizierte Arbeitskräfte attraktiv sind. Dort aber, wo – wie in NRW – alte Industrien verschwinden, geraten sogar Großstädte in den Abwärtsstrudel.

Zu den wenigen weiteren Leuchttürmen in den fünf ostdeutschen Flächenländern zählen Potsdam, Dresden, Erfurt, Jena, Rostock, Halle und Magdeburg.

„Wachstum und Schrumpfung liegen somit dicht beieinander und beides muss gestaltet werden. Keine leichte Aufgabe für die Politik“, meint Manuel Slupina, Mitautor der Studie. „In den Wachstumsregionen mangelt es an Wohnraum, Kitas und Schulen. Wo aber die Einwohnerzahlen massiv zurückgehen, sind neue, unkonventionelle Ideen zur Daseinsvorsorge nötig, um die stark gealterte Bevölkerung gut zu versorgen.“

Ein ähnliches Bild wie im Osten zeigt sich in den westlichen Bundesländern, allerdings deutlich weniger ausgeprägt. Die heute schon attraktiven Städte von Hamburg über Frankfurt am Main bis München können sich auf Zugewinne einstellen. Doch vielerorts im Ruhrgebiet und im Saarland, sowie in ländlichen Regionen entlang der früheren innerdeutschen Grenze, in der Südwestpfalz oder an den Küsten werden die Einwohnerzahlen weiter sinken.

Urbane Großräume wachsen, das Land schrumpft weiträumig

Bis zum Jahr 2035 dürfte sich die Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands kaum verändern, aber die regionalen Unterschiede weiten sich aus. Rund 60 Prozent der Kreise und Kreisfreien Städte werden der Prognose zufolge bis 2035 an Bevölkerung verlieren.

„Die Politik wünscht sich zwar eine ‚Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse‘, doch die Realität zeigt, dass wir es eher mit einer Vielfalt der Lebensbedingungen zu tun haben,“ sagt Reiner Klingholz. Das zeigt sich auch in den Gesamtnoten des Index, die von 2,32 für die bayerische Landeshauptstadt München bis 4,71 für die Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen reichen.

Dresden schafft es dabei mit einer Note von 2,63 tatsächlich in die Spitzengruppe der Kreise, immerhin auf Rang 15.

Leipzig schafft es nur auf eine Note von 3,05. Und das, weil es für richtig harte Kriterien schlechte Noten gab: Einkommensniveau Note 6, Schulabgänger ohne Schulabschluss Note 6 (ein saftiges Versäumnis der sächsischen Bildungspolitik), Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe Note 5. Das reißt den Durchschnitt natürlich runter.

Das Ranking offenbart ein bekanntes Nord-Süd-Gefälle, vorne liegen vor allem wirtschaftsstarke Städte mit ihren Umlandkreisen in Bayern und Baden-Württemberg. Am Ende finden sich Regionen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und dem Saarland. Im Osten liegen zwar viele vom demografischen Wandel schwer gezeichnete Kreise, aber in den Problemzonen des Westens ist die Lage mittlerweile schwieriger.

„Daran zeigen sich die punktuellen Erfolge des Aufbaus Ost und die Tatsache, dass die jahrzehntelange Abwanderung von Ost nach West gestoppt ist“, sagt Manuel Slupina. Mit Dresden hat sich sogar eine ostdeutsche Großstadt in die Gruppe der Top-20 vorgearbeitet.

Die regionale Bevölkerungsprognose wurde vom CIMA Institut für Regionalwirtschaft berechnet.

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