In den vergangenen drei Jahren hätte man ja oft ins Zweifeln kommen können: Sind die Deutschen jetzt völlig hysterisch geworden? Kein Abend verging ohne hyperventilierende Talkshows zum Thema Zuwanderung, oft völlig verzerrt durch die Steilvorlagen der Rechtsradikalen, die den Diskurs bestimmten. Die AfD feierte mit ausländerfeindlichen Slogans Wahlerfolge. Aber sind wirklich die meisten Deutschen so migrationsfeindlich? Die Friedrich-Ebert-Stiftung wollte es wissen.
Zum Wochenbeginn veröffentlichte sie eine Studie genau zu diesem Thema. 3.000 Bundesbürger/-innen wurden vom 15. November bis zum 11. Dezember 2018 durch die pollytix strategic research GmbH befragt. Zu einem Zeitpunkt, als die emsigsten Debattierer so taten, als würden sich zwei unversöhnliche Blöcke gegenüberstehen: die Abschotter und die Weltoffenen, die Heimatverteidiger und die Globalisten.
Als wäre es den Neuen Rechten tatsächlich binnen weniger Jahre gelungen, das Land zu spalten.
Aber da ging es wohl nicht nur der L-IZ so, dass sie sich wunderte, was für eine schräge Diskussion das ist. Das kam einem irgendwie bekannt und sehr biblisch vor: Wer nicht mit mir ist, der ist wider mich.
Und dann?
Alles deutet darauf hin, dass viele, viele Medien (auch die Fernsehschnellmelder) sich haben ins Bockshorn jagen lassen. Und nicht nur sie. Auch die konservativen Parteien, die von dem ganzen Gerede so erschrocken waren, dass sie eiligst selbst migrationsfeindliche Töne spuckten.
Aber die Wahrheit ist: Extrem sind in Deutschland immer noch nur Minderheiten.
Die Hälfte der Bundesbürger gehören, wie es die FES ausdrückt, zur „beweglichen Mitte“, sind also durchaus in der Lage, sich differenzierte Meinungen zu bilden, auch gemischte Meinungen und Einstellungen. Nicht weil sie politisch irgendwie „Mitte“ sind, sondern weil Lebenserfahrung mit sich bringt, dass man auch Kompromisse denken kann, Vereinbarungen, die niemanden ausgrenzen, aber auf verträgliche Lösungen zielen.
Das war ja ursprünglich mal der Gedanke von Mitte: Menschen, die für Radikalisierungen nicht zu haben sind.
Und das Ergebnis ist erstaunlich deutlich: 49 Prozent rechnen sich zu dieser beweglichen Mitte. Weitere 26 Prozent schätzen sich als weltoffen Orientiere ein. Das sind zwar viele – aber es nicht die suggerierte Majorität, die den scheinbar so Heimatverbundenen ständig Vorgaben macht. Es sind freilich 26 Prozent der Gesellschaft, die ihr Leben als der Welt offen denken und gestalten. Was die Heimatverbundenen nicht mal stören muss. „National Orientierte“ nennt sie die Umfrage: Immerhin auch 25 Prozent, aber wirklich radikal sind darunter auch nur maximal 11 Prozent.
Und dass man das Thema Nation ernst nehmen muss, ist auch den restlichen 75 Prozent bewusst. Vielleicht ist es jetzt wirklich an der Zeit, über Nation neu nachzudenken. Denn eine gesichtslose Weltgemeinschaft, wie von den Rechtsradikalen beschworen, gibt es ja nicht. Auch die EU hat die Mitgliedsnationen nicht ausgelöscht. Für die meisten Menschen ist ihre Geburtsnation immer noch der wichtigste Identifikationsrahmen. Und augenscheinlich fühlen sich die meisten darin auch aufgehoben – nur eine Minderheit hat starke Ängste, dass das gefährdet ist.
Solche Ängste muss man ernst nehmen, egal, ob sie reale Ursachen haben oder die Nachrichten aus den Medien übersteigern. Was ich für wahrscheinlich halte. Wer heute noch ein wenig Gemütsruhe bewahren will, der entsorgt die ganzen technischen Empfangsgeräte, in denen zu 90 Prozent ja wirklich nichts anderes mehr stattfindet als Erregungsberichterstattung. Die oft an Hysterie grenzt, statt sachlich und verständlich zu erklären.
Ergebnis: Eine Mehrheit der Befragten macht sich Sorgen über zunehmende Kriminalität und Terroranschläge, den Einfluss des Islam, die Kosten der Integration und den Wohnungsmarkt.
Aber die meisten teilen eben nicht nur diese Sorgen. Noch viel mehr sind besorgt über die Spaltung der Gesellschaft: satte 81 Prozent. Also ganz unübersehbar auch viele der national Orientierten. Und 86 Prozent sind besorgt über zunehmenden Rechtsextremismus und damit verbundene Gewalt.
Was eben auch bedeutet, dass es der AFD ganz und gar nicht gelungen ist, die Gesellschaft nach rechts driften zu lassen. Und während national Orientierte den Politikern nicht zutrauen, die Probleme der Zeit zu lösen, sehen sowohl die bewegliche Mitte als auch die weltoffen Orientierten die Politik durchaus in der Lage, Lösungen zu finden. Zumindest als Potenzial. Auch hier gibt es Skeptiker. Aber deutlich ist auch, dass hier ebenfalls eine Mehrheit Migration positiv sieht: Deutschland sollte die Migration als Chance ergreifen.
Worin ja eindeutig auch eine Anforderung an die derzeit Regierenden steckt: Organisiert das richtig. Verschlampert das nicht. Denn manches, was seit 2015 zu erleben war (und auch schon davor), war Schlamperei, so ein spürbarer Unwille, Integration wirklich als Arbeitsaufgabe zu sehen.
Und da ist dann die Frage nach der langfristigen Vision spannend, denn da attestieren alle drei Gruppen der aktuellen Politik das Fehlen einer langfristigen Vision. Was vielleicht der wichtigste Grund für den Unmut an der Politik Angela Merkels ist: Sie fährt auf Sicht, hat aber keine Strategie über den Tag oder die Wahlperiode hinaus. Und das macht viele Deutsche augenscheinlich wahnsinnig – die Heimatverbundenen genauso wie die Weltoffenen.
Probleme köcheln vor sich hin, dringende Aufgaben werden in Kommissionen vertagt und man wartet Jahr um Jahr darauf, dass auch nur für ein einziges Themenfeld mal ein zukunftsfähiger Vorschlag auf den Tisch kommt. Das betrifft nicht nur die Migrationspolitik, sondern auch die Klimapolitik oder die Verkehrspolitik.
Es betrifft auch nicht nur Angela Merkel. Andere Regierende und Ministrierende haben sich genauso eine Aussitzpolitik angewöhnt.
Weniger überraschend ist, dass national Orientierte eher geringere Bildungs- und Berufsabschlüsse haben und sich die meisten Zukunftssorgen machen. Was eben auch das Problem der unzeitgemäßen Sozialpolitik berührt. Man kann nicht immer nur Wirtschaftspolitik für Großkonzerne machen und die Menschen, die ganz unten die Dienstleistungen bringen, fortwährend in Unsicherheit schmoren lassen. Das macht wütend, wenn man am wirtschaftlichen Wohlstand einfach keinen Anteil hat, egal, wie viel man arbeitet.
Sodass diese Studie noch deutlicher als andere Studien zeigt, dass das Migrationsproblem im Kern ein soziales Problem ist. Ein Problem von Respekt, Lebenssicherheit und Anerkennung.
Nach Ost und West wurde nicht differenziert, aber man kann wohl davon ausgehen, dass diese Sorgen und Ressentiments in einer Extra-Auswertung für den Osten noch deutlicher zu sehen wären. Wobei ja schon die Gesamteinschätzung zur Lösungskompetenz der Regierenden eindeutig ist. „Im Feld der Migration und Integration, wo die Bürger_innen der Bundesregierung mehrheitlich Planlosigkeit attestieren, bedeutet dies, der Wahrnehmung in Teilen der Bevölkerung entgegenzuwirken, dass der Staat im Bereich Migration und Einwanderung ohne Plan agiert“, schreiben die Studienautoren, die augenscheinlich auch so einen kleinen Hang zur Abschwächung haben.
Es geht nicht um eine Aufhübschung des Eindrucks, sondern um belastbare Pläne, sichtbare Projekte. Oder auf den Punkt gebracht: eine echte Integrationspolitik, die für alle sichtbar und nachvollziehbar ist. Zeit wird’s.
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