Was wir derzeit in England erleben, ist ja in gewisser Weise ein elitäres Schmierentheater. Ein ganzes Parlament behandelt den Austritt aus der EU so, als wäre das nur ein bisschen politischer Aschermittwoch. Dann ist der Klamauk vorbei, England ist raus und der Laden brummt wieder. Dabei wachsen die Befürchtungen, dass ein Brexit ohne Austrittsregelung hart und chaotisch wird. Das IWH in Halle hat versucht, das in Arbeitsplätze umzurechnen.
Kann man das überhaupt? Ist der Vorgang nicht viel zu komplex mit Folgen nicht nur im Welthandel und all den Freihandelsverträgen, die dann von heute auf morgen ungültig werden?
Wahrscheinlich kann man es nicht. Und auch das IWH hat sich nur einen Teilaspekt hergenommen, der wenigstens so überschaubar ist, dass man ihn auch mal durch den Rechner jagen kann, um mit einer schicken Formal am Ende ein scheinbar logisches Ergebnis zu bekommen.
So sind die Rechner in Halle vorgegangen:
„Ein ungeordneter Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) würde viele Volkswirtschaften der Welt beeinträchtigen. Wie eine neue Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) auf Basis von Daten für 43 Länder zeigt, könnten insgesamt mehr als 600.000 Arbeitskräfte die Folgen eines sogenannten harten Brexits zu spüren bekommen. Die größten Auswirkungen hätte demnach Deutschland mit mehr als 100.000 betroffenen Arbeitskräften zu verzeichnen, gefolgt von China (knapp 60.000) und Frankreich (circa 50.000) sowie Polen und Italien (je circa 46.000 Arbeitskräfte). Dabei sind Entlassungen nur eine von mehreren Möglichkeiten. Wegen des Fachkräftemangels in vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften könnten Betriebe auch versuchen, ihr Personal zu halten, indem sie beispielsweise Kurzarbeit ansetzen oder neue Absatzmärkte erschließen.“
Die Zahl von 100.000 geisterte ja schon am Wochenende durch die Medien. Ziemlich unhinterfragt. Auch weil die meisten Wirtschaftsredakteure wirklich glauben, Wirtschaft sei eine eindimensionale Rechnung.
Der Ausgangspunkt:
Ein harter Brexit würde die globalen Wertschöpfungsketten durcheinanderwirbeln
Die Rechenvorlage:
In ihrer Untersuchung haben die IWH-Ökonomen detailliert aufgeschlüsselt,
(a) welche Industrien
(b) in welchen Ländern betroffen wären und
(c) welche Folgen dies für die jeweiligen Arbeitsmärkte hätte.
Die Einschränkung:
„Alle Berechnungen basieren auf der Annahme, dass in Großbritannien nach einem harten Brexit die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen aus der EU um ein Viertel sinkt, ohne dass sich die britische Nachfrage für Güter aus anderen Regionen erhöht. Grund dafür sind höhere Preise, denn Importe aus den verbleibenden EU-Staaten würden wegen neuer Zölle teurer.“
Das ist, wie man sieht, ein sehr statisches Modell von Wirtschaft, das man so in der Realität nicht findet. Was passiert eigentlich mit der Nachfrage, die die Briten dann nicht mehr auf dem europäischen Festland befriedigen? Und die Europäer verkaufen ja keine fest vereinbarten Stückzahlen nach England, sondern suchen sich, wenn möglich, neue Absatzmärkte. Oder sie stellen die Produktion auf Waren um, die sich auf dem Festland besser absetzen lassen. Usw. Jeder Unternehmer weiß das, dass sein Erfolg nicht in festen Absatzmärkten besteht, sondern in flexibler Anpassung an Absatzmärkte, die sich ständig verändern.
Der Brexit ist natürlich eine sehr abrupte Änderung.
Aber eher zeigt die Berechnung, dass es eigentlich unmöglich ist, selbst solche abrupten Änderungen dann in konkret verschwindende Arbeitsplätze umzurechen.
Der Versuch:
„Innerhalb der dann verkleinerten Europäischen Union könnten knapp 180.000 Arbeitsplätze in Firmen betroffen sein, die ihre Produkte direkt nach Großbritannien liefern. Weil die Märkte global vernetzt sind, sind ebenso Zulieferer betroffen, die außerhalb der EU angesiedelt sind. Das erklärt die starke Betroffenheit von Ländern wie China. Ein Blick auf die betroffenen Wirtschaftszweige zeigt, dass weltweit Dienstleistungen, Landwirtschaft, Metall- und IT-Industrie stark betroffen sind“, versuchen die IWH-Autoren ihr Untersuchungsfeld zu beschreiben.
Aber wie gesagt: Was passiert mit der Nachfrage in Großbritannien? Kaufen die Leute dann nichts mehr? Oder erlebt das Pfund – nur als Beispiel – eine heftige Inflation, weil jetzt alle importierten Güter teurer werden?
Nur so als Frage.
„Ein harter Brexit würde die globalen Wertschöpfungsketten durcheinanderwirbeln“, sagt Studienautor Oliver Holtemöller, stellvertretender Präsident und Leiter der Abteilung Makroökonomik am IWH, etwas Richtiges, schiebt dann aber eine Aussage nach, die er mit dieser Rechnung jedenfalls nicht belegen kann: „Deshalb kann ein ungeregelter Austritt Großbritanniens aus der EU erhebliche Wohlstandseinbußen mit sich bringen. Aus ökonomischer Sicht bleibt zu hoffen, dass es doch noch zu einer Einigung kommt.“
Darüber hinaus haben die IWH-Wissenschaftler die Effekte auf die 401 deutschen Kreise untersucht. Aber halt im Rahmen ihrer Rechnung. Ein harter Brexit würde danach in Deutschland insbesondere die Autoindustrie und darum vor allem die Kreise Wolfsburg (Sitz von Volkswagen) und Dingolfing-Landau (BMW) treffen. In der deutschen Autoindustrie (Produktion und Handel) insgesamt könnten 15.000 Beschäftige von den Absatzeinbußen betroffen sein. Oder auch nicht, wenn es den Autoherstellern gelingt, neue Märkte zu erschließen oder mit neuen Produkten Erfolg zu haben.
Und ganz zu schweigen von den Abwanderungstendenzen von der Insel, die es jetzt schon gibt. Ganze Unernehmen verlagern ihren Sitz aufs Festland. Und damit wandert ja logischerweise auch ihr Umsatz. Es sieht wohl eher so aus, dass die schönen Rechenmodelle der heutigen Wirtschaftslehre vielleicht ermöglichen, einzelne Verlagerungseffekte zu berechnen – aber eben nur in einem idealtypischen Rahmen, in dem die meisten Variablen, die das Wirtschaftsgeschehen dynamisch, aber auch leicht chaotisch machen, ausgeblendet sind.
Die scheinbare Griffigkeit der Zahlen täuscht darüber hinweg, wie groß in Wirklichkeit die Unsicherheit solcher Vorhersagen ist.
Die Berechnungen des IWH basieren auf Zahlen der World Input Output Database (WIOD). Anlass der Studie ist die Brexit-Abstimmung des britischen Parlaments am 15. Januar 2019. Es lehnte den Austrittsvertrag ab, den Premierministerin May mit der EU ausgehandelt hatte. Das Votum hat die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Austritts Großbritanniens aus der EU erhöht.
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