Manchmal muss man Zahlen aus Statistischen Landesämtern einfach einmal von einer anderen Seite betrachten, um zu sehen, dass die heutige Politik dazu hinten und vorne nicht passt. „Über vier Prozent mehr Einpendler und rund ein Prozent mehr Auspendler in Sachsen 2017“, meldete das Sächsische Landesamt für Statistik am 14. November. Hurra! Oder doch lieber: So ein Mist!?

Die Meldung im Ton des Amtes: „2,075 Millionen Einwohner des Freistaates Sachsen gingen im Jahresdurchschnitt 2017 einer Erwerbstätigkeit nach (knapp ein Prozent mehr als 2016) und hatten ihren Arbeitsplatz entweder in Sachsen oder in anderen Ländern innerhalb Deutschlands (Inländerkonzept).

Die Zahl der Auspendler – Erwerbstätige mit Wohnort in Sachsen und Arbeitsplatz außerhalb von Sachsen – betrug 146.800 Personen und erhöhte sich um 1,1 Prozent. Die Zahl der Einpendler nach Sachsen (128.400 Personen) stieg im Vergleich zu 2016 mit einem Plus von 4,2 Prozent wesentlich deutlicher an. Hauptursache für diesen hohen Anstieg war die steigende Zahl der Einpendler aus dem Ausland.

Im Jahr 2017 lag damit für Sachsen ein Auspendlerüberschuss in Höhe von gut 18.000 Personen vor. Dieser Pendlersaldo war auf dem niedrigsten Stand seit Beginn der Berechnungen im Jahr 1991. Mit der Entwicklung der erwerbstätigen Inländer 2017 blieb der Freistaat unter der bundesweiten Tendenz, denn in Deutschland erhöhte sich die Erwerbstätigenzahl nach dem Inländerkonzept um 1,4 Prozent.“

Immer mehr Menschen pendeln also zur Arbeit – raus aus Sachsen, rein nach Sachsen. Immer mehr Menschen sind Tag für Tag auf Achse. Was nicht neu ist. Länder und Städte sind ja meist wahnsinnig froh, wenn die Pendlerzahlen steigen. Denn das ist dann ein Zeichen dafür, dass es mehr Jobs gibt und mehr Leute hier eine Arbeit gefunden haben. Der Laden flutscht also.

Irgendwie.

Nur zeigen diese Zahlen auch etwas anderes. Denn wenn an einem zentralen Ort (wie der Stadt Leipzig) jedes Jahr tausende neue Arbeitsplätze entstehen, macht das eben nicht nur lauter Leute froh, die bislang in Freital, im Vogtland oder in Görlitz auf der faulen Haut lagen. Wir wissen ja, dass sie nicht auf der faulen Haut lagen. Aber irgendwann gibt es bei ihnen keine qualifizierten Jobs mehr. Dann packen sie Kind und Kegel ins Auto und ziehen um. Oder – wenn sie nicht wegziehen wollen, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollen – dann pendeln sie – mit Auto, Bus oder Zug.

Die Pendlerströme, die mittlerweile auch immer mehr Polen und Tschechen nach Sachsen einpendeln lassen, erzählen also von einer Verschiebung. Genau der Verschiebung, die heute nicht nur Ostdeutschen Angst macht: Die Arbeitsplätze, die einstmals Millionen Menschen in der Fläche einen Broterwerb gegeben haben, verschwinden. Mit der Deindustrialisierung ganzer Regionen (nicht nur in Ostdeutschland) kam eine stille aber unheimlich konsequente Kettenreaktion in Gang.

Den Industriearbeitsplätzen folgten die Dienstleistungsarbeitsplätze, diesen die in Verwaltung und Sozialbereich. Und jeder und jede, die fortgingen, nahmen noch einen oder eine mit. Dieser Prozess führt nicht nur in den USA (wie im „Rust Belt“), sondern auch in vielen Regionen Europas und Deutschlands dazu, dass in die verlassenen Landschaften der Frust einzieht. Die rechtsradikalen Parteien fassen zuallererst in genau solchen Regionen Fuß. Sie holen die Hoffnungslosen ab und versprechen ihnen, dass ein „starker Führer“ alles wieder in Ordnung bringt. Versprechen kann man ja alles, wenn der Abend lang ist.

Aber wir haben keine Wirtschaftsteilung bis in die ländlichen Regionen mehr, die das in Ordnung bringt. Im Gegenteil: Wir haben eine, in der alle Regionen und alle Städte miteinander und gegeneinander konkurrieren und nur noch jene Zentren prosperieren, die aufgrund ihrer Lage und Struktur besser ausgestattet sind als der Rest. Städte wie Leipzig, wo der Pendlerverkehr jetzt so langsam anfängt, Ärger zu machen. Denn in der Rushhour verstopft er die Straßen, füllt S-Bahnen und Straßenbahnen bis zum Anschlag.

Die unheimliche Mobilisierung aller, die für die modernen Arbeitsplätze mobilisiert werden können, hat gravierende Folgen – in den Städten mit drastisch überbeanspruchter Infrastruktur, in den ländlichen Regionen mit Entvölkerung und um sich greifender Verlassenheit.

Es ist erstaunlich, dass das selbst die Landesprogramme nicht abbilden. Es wird nur reagiert, aber nicht gestaltet. Und gern tut man auch so, als könnte man die sich verschiebenden Gewichte einfach ignorieren.

Dabei sind diese Prozesse völlig unabhängig von Landespolitik im Gang. Und sie werden sich weiter verschärfen, je mehr die Wirtschaft 4.0 sich auf die starken Metropolen konzentriert. Was sie tun wird. Es ist jetzt schon zu besichtigen.

Und Sachsen ist in dieser Beziehung sogar noch glücklich dran, dass das in drei Punkten des Landes tatsächlich noch passiert. Denn nur das produziert im Land noch das, was man so landläufig unter Wachstum fasst.

Oder wie es die Landestatistiker ausdrücken: „Im Vergleich der fünf neuen Länder (+0,7 Prozent) konnte Sachsen einen etwas höheren Zuwachs verbuchen. Alle neuen Länder hatten auch 2017 einen Überschuss an Auspendlern, d. h. die Zahl der Erwerbstätigen mit einem Arbeitsplatz in einem anderen Land war größer als die Zahl der jeweiligen Einpendler. Der Auspendlerüberschuss in Sachsen war im Niveau der geringste unter den fünf neuen Ländern.“

Anderswo fahren die Leute eben hunderte Kilometer weit, weil die nächsten qualifizierten Jobs in Berlin, Niedersachsen, Hamburg oder Hessen sind.

So viel zum ostdeutschen Heimatgefühl.

Und in Sachsen ist der Ruf nach möglichst preiswerten Arbeitskräften mittlerweile so groß, dass die kleinen Helferlein für unseren Alltag auch aus dem Nachbarlande kommen.

Verblüffend ist eher, dass auch die sächsischen Auspendlerzahlen weiter gestiegen sind, dass viele qualifizierte Arbeitskräfte ihren Job eben auch wieder nur in Bayern oder Baden-Württemberg finden. Wer arbeiten kann, folgt dem Ruf der Arbeit. Und für ein ordentliches Westgehalt nimmt man das im Niedriglohnland Sachsen nach wie vor auf sich. Es lohnt sich ja.

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