Während sich in den deutschen Talkshows rund um den 3. Oktober wieder allerlei Ich-weiß-was-Nasen aus dem westlichen Landesteil mit dem üblichen Quoten-Ossi am Tisch selbstgefällig darüber unterhielten, wie gut ihnen die Deutsche Einheit gelungen ist, nutzte Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) die Gelegenheit wieder, die deutsche Zweiheit mit harten Zahlen zu belegen.

Und wie weit wir überhaupt von einer einigermaßen realitätsnahen deutsch-deutschen Geschichtsschreibung entfernt sind, machte natürlich ein echter Ostdeutscher – Markus Meckel, einst Außenminister der letzten DDR-Regierung – in der Frankfurter Paulskirche vor halbgefüllten Sitzreihen deutlich. Was eigentlich schon alles sagt. Was die Deutschen da aus dem sibirischen Osten zur ganzen Sache zu sagen haben, interessiert nicht wirklich.

„Wir haben noch längst keine gemeinsame Geschichtserzählung gefunden“, sagte Meckel.

„Laut Meckel gibt es in Deutschland weiterhin eine geteilte Geschichtsschreibung. Die DDR-Geschichte werde als ‚Anhang, Exkurs oder Sondergeschichte‘ behandelt“, schreibt die F.A.Z. dazu. „Für viele Westdeutsche seien die Ostdeutschen die ‚Hinzugekommenen‘. ‚Sicher, man hat sich über die Wiedervereinigung gefreut und war bereit, einiges zu tun. Aber alles hat seine Grenzen, und irgendwann ist ja auch mal gut.‘“

Noch schärfer formulierte Sascha Lobo das aus (westdeutscher) Sicht in seiner Kolumne im „Spiegel“: „Ähnlich grausam sieht es in den Chefredaktionen der deutschen Leitmedien aus, ‚FAZ‘, ‚Süddeutsche‘, ‚Zeit‘, ‚Spiegel‘, ARD, ZDF, ‚taz‘, ‚Bild‘, ‚Welt‘, überall herrscht eine fast klinisch reine Westperspektive.

Es ist nicht so, dass Ostdeutsche nicht dort arbeiten würden, aber irgendwie haben sie es allesamt in fast 30 Jahren nicht bis an die Spitzen geschafft. In der Debattenöffentlichkeit kommen explizit Ostdeutsche hauptsächlich in zwei Dimensionen vor: als Bundeskanzlerin und als Nazis. Das ist inakzeptabel.“

Was er mit der Forderung nach einem Digital-Soli für den Osten verbindet.

Er tut etwas, was die Chefredakteure der genannten Medien fast nie tun: Er betrachtet die Sache wirtschaftlich. Und wenn das Bruttoinlandsprodukt in einem ganzen Landstrich auch nach 28 Jahren nur 70 Prozent der Vergleichsregion West beträgt, dann hat das Folgen. Bis in die Geldbeutel der Betroffenen hinein. Und der Geldbeutel entscheidet darüber, was jemand sich leisten kann, ob er „sparen“ kann, Wohneigentum kaufen kann, Karriere macht und in den Spitzenpositionen des Landes auftaucht. Denn das alles kostet Geld. Geld ist die soziale Währung der Bundesrepublik Deutschland.

Und es macht einen gewaltigen Unterschied, ob jemand 690 Euro im Monat mehr bekommt als der andere. Das ist nämlich der Unterschied im Median-Brutto-Einkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten West und Ost. Mit Betonung: sozialversicherungspflichtig. Ein Viertel der Ostdeutschen ist in Tätigkeitsfeldern ohne sv-Pflicht unterwegs. Meist für deutlich weniger Geld. 690 Euro im Monat sind 8.280 Euro im Jahr.

Wenn dann auch noch das gern zitierte 13. Monatsgehalt als Weihnachtsgeld dazukommt, wird die Spanne noch größer. Und das ist nur der Median. Wie viel weniger die verdienen, die unter dem mittelsten Einkommen liegen, verrät die Statistik nicht, genauso wenig, wie viel mehr die verdienen, die drüber liegen.

Aber so in etwa gibt der Median eben doch an, wie groß die Einkommensunterschiede im Land sind.

Mit den Worten von Paul M. Schröder: „In allen ostdeutschen Kreisen lag das mittlere sozialversicherungspflichtige Bruttomonatsentgelt der in diesen Kreisen arbeitenden sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten unter dem mittleren sozialversicherungspflichtigen Bruttomonatsentgelt der in der Bundesrepublik Deutschland sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten insgesamt (3.209 Euro).

Lediglich in 17 (2016: 15) der 77 ostdeutschen Kreise (Arbeitsort) – ausschließlich Kreisfreie Städte – lag das ‚mittlere sozialversicherungspflichtige Bruttomonatsentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten‘ über dem ‚mittleren sozialversicherungspflichtigen Bruttomonatsentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten‘ im Landkreis Cloppenburg (2.609 Euro), dem westdeutschen Kreis (Arbeitsort) mit dem niedrigsten ‚mittleren sozialversicherungspflichtigen Bruttomonatsentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten‘ im Vergleich der 324 westdeutschen Kreise.“

Und noch einmal aufgeschlüsselt: „Die getrennte Betrachtung der 324 westdeutschen und 77 ostdeutschen Kreise als Arbeitsorte zeigt: In den westdeutschen Kreisen (Arbeitsort) reichte das mittlere sozialversicherungspflichtige Bruttomonatsentgelt der in diesen Kreisen arbeitenden sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten von 4.635 Euro in Ingolstadt (BY) (Rang 1) bis 2.609 Euro im Landkreis Cloppenburg (NI) (Rang 341 im Vergleich aller 401 Kreise).“

Und der Osten, so Paul M. Schröder: „In den ostdeutschen Kreisen (Arbeitsort) reichte das ‚mittlere sozialversicherungspflichtige Bruttomonatsentgelt der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten‘ von 3.126 Euro in Berlin (BE) (Rang 173 im Vergleich aller 401 Kreise) und 3.066 Euro in der Stadt Jena (TH) (Rang 202 im Vergleich aller 401 Kreise) bis 2.183 Euro im Landkreis Görlitz (SN) (Rang 401).“

Nach Jena und Berlin kommt dann lange nichts. Irgendwann kommen dann Potsdam mit 3.038 Euro Median-Einkommen am Wohnort auf Rang 234 und Dresden mit 2.962 Euro auf Rang 296. Und auf Rang 325 kommt dann endlich auch Leipzig mit 2.811 Euro Median-Einkommen der SV-Pflichtigen. Wobei das gegenüber 2016 wieder ein kleiner Fortschritt war – da lag Leipzig noch mit 2.711 Euro auf Rang 326 hinter – achjemine: Cottbus. Achjemine deshalb, weil Cottbus sich noch stärker verbessert hat – auf Rang 322.

Leipzig ist und bleibt eine Stadt mit durchschnittlich geringen Einkommen. Was eben auch am Wirtschaftsbesatz liegt. Während in fast allen Kategorien westdeutsche Städte mit starken Industriekonzernen (von Wolfsburg bis Ingolstadt) dominieren, ist Leipzig nun einmal eine Dienstleistungsstadt.

Und zwar eine, die noch vor wenigen Jahren ein gewaltiges Gefälle zum Umland hatte: Die Leipziger verdienten hunderte Euro weniger als die Bewohner der angrenzenden Landkreise. Schröder weist zu Recht darauf hin, dass die Einkommen der Pendler hier eine Rolle spielen, weil das in Bremen und Bremerhaven bis heute eklatant ist: Die beiden Städte geben dem Umland viele gut bezahlte Arbeitsplätze, stecken selbst aber in finanziellen Nöten.

Übrigens ein Effekt, der auch auf den Osten insgesamt und Sachsen im speziellen zutrifft. Hunderttausende Ostdeutsche pendeln bis heute zu besser bezahlten Arbeitsplätzen in angrenzende westliche Bundesländer.

Was dann für den Osten ein leichtes Plus von 53 Euro am Einkommen am Wohnort gegenüber den Einkommen am ostdeutschen Arbeitsort bedeutet. In Sachsen liegt der Wert bei 58 Euro.

Und man muss nicht lange suchen: Alle drei Stadtstaaten (Berlin, Hamburg, Bremen) leiden darunter, dass sie in der Region zwar der beste Arbeitgeber sind, viele hochbezahlte Erwerbstätige aber jeden Tag aus den angrenzenden Bundesländern einpendeln.

Wie gesagt: Den Effekt hatte Leipzig vor wenigen Jahren auch. Aber 2016/2017 ist der Effekt gekippt: Wurden am Arbeitsort Leipzig 2016 noch 6 Euro (im Median) mehr verdient als die sv-pflichtig beschäftigten Leipziger selbst verdienten, war es 2017 mit 3 Euro Plus für die Stadtbewohner erstmals andersherum. Das heißt: Es wohnen deutlich mehr Menschen mit gut bezahlten Berufen mittlerweile in der Stadt.

Was nicht bedeutet, dass nicht nach wie vor viele Bewohner der beiden Landkreise zur Arbeit nach Leipzig pendeln. Im Landkreis Leipzig ergibt das nach wie vor ein Einkommensplus von 29 Euro gegenüber den Beschäftigungsangeboten im Landkreis selbst. Im Landkreis Nordsachsen gibt es mit 25 Euro so ein kleines Plus ebenfalls, das eben davon erzählt, dass auch die Nordsachsen in großer Zahl zur Arbeit pendeln – in der Regel nach Leipzig.

Und es frappiert auch, dass beide Landkreise mittlerweile auch einen niedrigeren Einkommensmedian als Leipzig haben. Auch das war einmal anders, gerade Ende der 1990er Jahre, als viele, die es sich leisten konnten, sich Wohneigentum „im Grünen“ gekauft hatten und Leipzig selbst zur „Armutshauptstadt“ wurde. Damals sogar auf Bundesebene, später nur noch auf Landesebene. Das hat sich spürbar geändert.

Auch wenn Paul M. Schröders Statistik eben noch allzu deutlich zeigt, wie gravierend die Einkommensunterschiede in West und Ost sind. Was eben auch bedeutet, dass das Denken in westdeutschen Kategorien, das die Bundespolitik bis heute bestimmt, immer bedeutet, dass der wirtschafts- und einkommensschwächere Osten „vergessen“ wird und oft mit Gesetzen zu tun bekommt, die nicht ansatzweise zu den üblichen Einkommen passen.

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