Es gibt Zahlen, über die man sich streiten kann. Wenn man streitlustig ist. Etwa die Frage, woraus sich eigentlich das Leipziger Wachstum speist. „Aus neuen Arbeitsplätzen“, sagt FDP-Stadtrat Sven Morlok. Recht hat er. Man wäre ja schon froh, wenn auch die Regierungspolitik die Sache so sachlich und nüchtern sehen könnte. Dann würde man vielleicht auch zugeben, dass Großstädte deshalb prosperieren, weil sie funktionierende Transitorte sind. Migration ist der Treibstoff der Wirtschaft.
Da hab ich jetzt aber was hingeschrieben. Aber jede Leipziger Bevölkerungsstatistik belegt es. Anders ist der massive Schrumpfungsprozess der 1990er Jahre, in dem Leipzig über 100.000 Einwohner verlor, genauso wenig zu erklären wie das Wachstum um über 100.000 Einwohner in den letzten 15 Jahren. Denn es resultiert ganz allein aus dem Saldo von Zuwanderung und Wegzug.
Wenn Menschen dableiben, dann bedeutet das, dass sie hier eine Arbeit und eine Existenzgrundlage gefunden haben. Und das trifft eben nicht nur auf die Zehntausende junger Sachsen zu, die seit 2000 in Leipzig gelandet und hängengeblieben sind, sondern auch auf tausende junger Menschen aus Westdeutschland, auf junge Europäer, die Leipzig als europäische Stadt empfinden, und auch auf Migranten aus aller Welt.
Die Statistik, die Andreas Martin im neuen Quartalsbericht für Leipzig aufmacht, zeigt es sehr deutlich, dass hinter dem außerordentlichen Wachstum seit 2011 zu über der Hälfte der Zuzug von Migranten steht. Nicht nur von Flüchtlingen. Die Ankunft der Kriegsflüchtlinge aus Syrien datiert ja erst ins Jahr 2015. Aber schon vorher trugen Migranten besonders stark zum Bevölkerungswachstum in Leipzig bei. Oder mit den Worten von Andreas Martin: „Diese tatsächlich sehr dynamische Entwicklung basiert zu einem Großteil (53,8 Prozent) auf dem Zuzug von Einwohnern mit Migrationshintergrund.“
Mit Betonung auf Migrationshintergrund. Denn Ausländer bleibt man ja nicht ewig. Wenn man wirklich Fuß fast, erwirbt man selbst oder spätestens irgendwann die Kinder die Staatsbürgerschaft. Nach einigen Generationen gehört man einfach dazu, fragt kein Mensch mehr nach russischen, polnischen oder französischen Wurzeln. Die Vorfahren aller Leipziger waren irgendwann einmal Migranten. Ausnahmslos.
Und alle sind sie nach Leipzig gekommen, weil man hier eine Existenz aufbauen konnte. Und sei es nur als Handwerksgeselle oder Küchenmagd im stolzen Mittelalter. Wer kennt die Berufe aller seiner Vorfahren?
Aber die Leipziger Entwicklung zeigt eben auch, wie hoch die Integrationskraft einer Großstadt ist, die strategisch günstig gelegen, weltoffen und fleißig ist. Dann wird sie nicht nur für junge, kluge Köpfe aus ihrem näheren Einzugsgebiet interessant, sondern auch für Menschen aus anderen Ländern.
Von rund 10.000 Menschen, die Leipzig in den letzten Jahren jedes Jahr an Einwohnern dazugewann, waren rund 5.000 Menschen mit einem Migrationshintergrund, die anderen waren aus deutschen Gefilden zugewandert. In den Jahren 2015 und 2016 übertraf dann die Zahl der Migranten deutlich die der Zugezogenen ohne Migrationshintergrund.
Durch den Rückgang der Flüchtlingszahlen pegelte sich das Verhältnis 2017 wieder in Richtung der älteren Zahlen ein, auch wenn die Zahl der Migranten mit (ausländischem) Migrationshintergrund dauerhaft hoch bleiben wird. Denn sie sind ja im Schnitt deutlich jünger als die einheimische Bevölkerung (30,6 Jahre im Verhältnis zu 42,4 Jahren), und das heißt: Sie gründen Familien, bekommen Kinder.
In den Kitas und Schulen ist schon deutlich zu beobachten, was das heißt: Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt schon deutlich über 20 Prozent.
Die Stadt funktioniert also genauso, wie sie über 1.000 Jahre lang funktioniert hat – nur dass die Migranten nicht mehr nur aus Franken, Schwaben und Böhmen kommen, sondern der Einzugsbereich sich deutlich vergrößert hat.
Ohne den Krieg in Syrien wären vielleicht die Syrer nie so stark vertreten. Aber sie sind natürlich seit 2015 die größte Zuwanderungsgruppe. Und da kein Mensch eine Lösung für das Syrien-Debakel hat, werden viele von ihnen mit der Zeit garantiert richtige Leipziger und Westsachsen. Sie werden in all die Branchen einsteigen, die jetzt schon händeringend Arbeitskräfte suchen. Und sie werden mithelfen, dass die Leipziger Wirtschaft brummt.
Wer etwas anderes erwartet, ist mit dem Klammerbeutel gepudert.
Und dasselbe trifft auch auf die Afghanen zu, die die höchstnärrischen Lederhosenträger der CSU wieder in ein Land zurückschicken möchten, in dem Mord und Totschlag die Tagesordnung sind. Kein Mensch hat auch nur einen Plan, wie der Bürgerkrieg in Afghanistan aufhören soll. Die Afghanen stellen – nach Syrern und Rumänen – die drittgrößte Zuwanderergruppe der letzten drei Jahre. Bei der Pressekonferenz zum Quartalsbericht ging ja schon die Mutmaßung um, die meisten Rumänen seien gar nicht angemeldet und würden wohl alle schwarz auf dem Bau beschäftigt.
Aber die Zahlen legen eher die Vermutung nahe, dass sie sehr wohl angemeldet sind. Der Zoll geht ja längst regelmäßig auf Kontrolle – nicht nur auf Baustellen, auch in Gaststätten. Da meldet man seine Arbeitskräfte wohl lieber an.
Aber wer die Liste durchsucht, findet Zuwanderer aus den unterschiedlichsten Ländern, die Leipzig garantiert auch deshalb attraktiv finden, weil Zuwanderer aus verschiedensten Ländern diese Stadt bereichern. In der Reihenfolge der letzten Jahre: Syrer, Rumänen, Afghanen, Iraker, Polen, Russen, Bulgaren, Türken, Vietnamesen, Italiener, Franzosen … Manches erzählt natürlich von schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen im Heimatland. Und wer schon in der EU lebt, hat natürlich bessere Karten: Er oder sie können sich ihren Wohn- und Arbeitsort frei wählen.
Wer draußen lebt, hat mit den ganzen Problemen der deutschen Asyl- und Einwanderungsbürokratie zu tun. Und dem immer noch fehlenden Einwanderungsgesetz, für das eigentlich jetzt so langsam die Wirtschaftskammern kämpfen müssen, wenn ihnen die Zukunft des Wirtschaftsstandorts wichtig ist.
Und Andreas Martin listet auch wieder schön auf, welche Migrantengruppen Leipzig besonders bunt machen. Und das ist zuallererst die große Gruppe der Menschen, die aus der Russischen Föderation zugewandert sind: 8.450 mittlerweile. Nur die Syrer kommen da mit 8.441 Personen fast heran. Danach folgen Polen (4.641), Rumänen (3.598) und Vietnamesen (3.431).
Selbst aus Frankreich, Großbritannien, den USA, Griechenland und Spanien leben jeweils über 1.000 Menschen in Leipzig. Einige werden ganz sicher auch studieren. Andere haben in den hochdotierten Leipziger Forschungsinstituten angedockt oder eine Firma aufgemacht. Es wird gar nicht mehr anders gehen: Leipzig wird immer internationaler werden.
Inzwischen haben 83.406 Leipziger einen (direkten) Migrationshintergrund, sind also in den beiden jüngsten Generationen zugewandert und haben dazu beigetragen, dass Leipzig wieder auf über 590.000 Einwohner anwuchs.
Die Alternative wäre tatsächlich – auch wenn es einige Leute nicht wahrhaben wollen – dauerhafte Schrumpfung. Städte leben aber von Zuwanderung. Auch wenn das wie ein Kommen und Gehen aussieht. Sie sind ein Ort des Transits. Und manche bleiben für immer da, weil sie an diesem Transitort alle Chancen gefunden haben, ihre Träume vom Leben zu verwirklichen.
Es gibt 10 Kommentare
Ab wann wird aus “normalem” ein “überdimensionales” Wachstum? Bei 20 Prozent in 10 Jahren?
Die Probleme von Preisen und Infrastruktur entstehen, weil die Entscheider auf ein blödsinniges Markmodell, das neoliberale, hereinfallen, von dem immer noch behauptet wird, es könne alle Probleme lösen.
Kein Wachstum bedeutet zuwenige Kinder und damit bald exponentielles Schrumpfen. Die Bevölkerungskugel wird zur umgekehrten Pyramide, die dann einbricht. Dann wächst auch kein Wohlstand mehr.
Mh.
Ist das Thema des Textes ein Hochlied auf Migranten?
Zu denen einst Menschen aus “Franken, Schwaben und Böhmen” gehörten?
Die jetzt aber nicht mehr dazu gezählt werden? Warum?
Weil sich dadurch die Statistik ganz schön ändern würde…
Was sind dann Migranten?
Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund?
Menschen mit mindestens 300km Entfernung zu Leipzig?
Wo liegt die Grenze?
Das ist so interessant wie eine Statistik über Zuzügler mit grüner oder brauner Augenfarbe.
Dass Leipzig wächst, liegt sicher auch an der steigenden Jobkonzentration.
Deswegen, weil die – effiziente – Menschenauswahl hier am größten ist.
Und die ist weitestgehend migrationsunabhängig.
Selbst im Niedriglohnsektor.
Keine Firma geht heute gern mehr aufs Land.
Zum Wachstum:
Ein normales – nicht wie zurzeit überdimensionales – Wachstum ist sicher gut für eine Stadt.
Weil sich die Stadt dann noch anpassen kann.
Zu schnelles Wachstum befördert explodierende Preise, fehlende Wohnungen und unangepasste Infrastruktur.
Attraktiv ist eine Stadt m.E. auch ohne Wachstum.
Weil es trotzdem Fluktuation gibt, durch z.B. Studenten.
Weil neue frische Köpfe heranwachsen – ältere aus dem Stadtleben scheiden.
Und weil der Wohlstand wächst, wachsen auch die Bedürfnisse und die Stadt wandelt sich.
Mir ist dazu noch was eingefallen. Ein gutes Mittel bei Wachstum gegenzusteuern ist folgendes: Kein Neubau von preiswerten Wohnungen und explodierende Mieten, keine neuen Schulen, Kindergärten…, kein Ausbau des ÖPNV etc. Das hilft, alles wird unerträglich und irgendwann spricht es sich rum und die Leute bleiben weg. In etwa genau das, was wir jetzt haben. Also alles gut!?
Oh. Ich weiß nicht, aber eine Stadt ist ein wie ein lebendiger Organismus, eingebunden in ein ebensolches Land, wiederum eingebunden…
Wenn ich mir Leben ohne Wachstum vorstelle, bleibt nicht nur Stillstand sondern Alterung und Verfall. Das alles gehört zum Leben dazu, Wachsen, Sein und Verfall. Man sollte nicht eines davon verteufeln, schrumpfende Städte haben ebenso viele Nachteile, nicht nur für Mieter gute Mieten.
Und, wie soll man Wachstum verhindern? Zuzugsbeschränkungen? Für Wen? Und dann jeden Tag die Blechlawinen aus dem Umland in die Stadt?
Selbstzweck geht komplett an der Realität vorbei. Was aber nicht heißt, daß Wachstum keine Probleme macht.
Aha, Wachstum als Selbstzweck…. Nun denn!
Wachsende Städte sind attraktiver als schrumpfende, junge Menschen attraktiver als Alte. Ich möchte jetzt und im Alter nicht nur von meinesgleichen umgeben sein. Neues fordert heraus und macht gute Laune. Daher darf für Stadtgesellschaft gelten, was für alles Lebendige gilt: Wachsen ist Leben (und damit Selbstzweck)!
Komisch, ich lese da was anderes raus. Aber manchmal ist das ja so eine Sache mit dem Lesen (und wohl auch dem Schreiben).
Nein, die Intention des Arrtikels ist: Bevölkerungswachstum ist nur durch Migration denkbar.
Es wird also in den Raum gestellt, daß Bevölkerungswachstm nötig ist.
Wofür?
Diese vermeintliche Notwendigkeit erschlißt sich mir nicht.
Nein, einfach als Realität. Die Frage ist nur, wie wir es gestalten. Und da scheint die Politik, im Gegensatz z. B. zum Ende des 19. Jh. ziemlich rat- und tatenlos.
Bevölkerungswachstum als Selbstzweck