Wenn die Wirtschaft brummt, werden Menschen zu Pendlern. Denn natürlich liegt die Arbeitsstelle selten in Nähe der Wohnung, oft genug muss man auch Stadt und Ländergrenzen überwinden. Und das geht nicht nur Menschen so, die rings um Leipzig wohnen und in der großen Stadt Arbeit gefunden haben. Auch die Zahl der Auspendler wächst.
Schon 2016 hätte die Zahl der Menschen, die mit Auto oder Zug zur Arbeit nach Leipzig kommen, beinah die 100.000er-Marke touchiert: 96.088 Einpendler waren schon ein Höchstwert. 2019 stieg die Zahl nun auf 97.383.
Parallel stieg aber auch die Zahl der Auspendler: Mit 61.586 wurde erstmals die 60.000er Marke überschritten.
Da wundert man sich nicht mehr über Stauerscheinungen in den Spitzenzeiten des Berufsverkehrs, auch wenn die zugrunde liegende Statistik der Bundesarbeitsagentur nicht verrät, mit welchem Fahrzeug die Menschen da tagtäglich unterwegs sind. Aber nicht nur auf den Straßen merkt man das hohe Aufkommen von Berufstätigen, die entweder rausfahren aus der Stadt oder hereinkommen, um zum Arbeitsplatz zu gelangen. S-Bahnen in den Spitzenzeiten sind rappelvoll. Aber auch Straßenbahnen platzen aus allen Nähten, obwohl sie in der Regel ja die Stadtgrenze kaum überfahren.
27 Prozent der Leipziger sozialversicherungspflichtig Beschäftigten fahren zur Arbeit in die angrenzenden Kreise oder Länder, stellt Peter Dütthorn in seinem Beitrag zum Pendlerverhalten fest. Also mehr als jeder Vierte.
Und umgekehrt kommen 37 Prozent der in Leipzig Beschäftigten von außerhalb. Die Stadt gibt also einer Region richtig Arbeit.
Und was sich nicht geändert hat, ist natürlich die enge Verflechtung mit dem Umland. Mittlerweile gibt es fünf Gemeinden um Leipzig, wo mehr als jeder zweite Berufstätige seinen Arbeitsplatz in Leipzig hat: Markkleeberg, das verträumte Schlafstädtchen im Süden, Markranstädt, wo man sich aus gutem Grund einen S-Bahn-Anschluss wünscht, Taucha, Borsdorf und Großpösna.
Mit allen ringsum liegenden Landkreisen hat Leipzig ein positives Pendlersaldo – auch mit Nordsachsen, auch wenn es dort eine kleine lokale Ausnahme gibt, das Städtchen Schkeuditz, wo allein die Frachtlogistik am Flughafen Leipzig/Halle dafür sorgt, dass Leipzig hier ein negatives Pendlersaldo von mittlerweile über 3.000 hat: 3.089 Schkeuditzer fuhren 2017 zur Arbeit nach Leipzig rein, 6.108 Leipziger fuhren zur Arbeit raus – fast komplett zum Flughafen, um Päckchen in Flugzeuge zu verladen.
Auch im Sachsen-Anhaltischen gibt es einen Ort mit einem positiven Pendlersaldo gegenüber Leipzig: das ist der alte Chemiestandort Leuna. Aber es sind wohl eher keine Chemielaboranten, die da täglich rausfahren, sondern Verkäuferinnen, die im Einkaufstempel „nova eventis“, das mit Günthersdorf zu Leuna gehört, die Kunden bedienen.
Aber ansonsten sieht man ringsum dasselbe Bild: Fünf von sechs ostdeutschen Ländern haben ein negatives Pendlersaldo mit Leipzig. Von dort strömen die Erwerbstätigen mit Auto oder Zug nach Leipzig. Die Wirkung der Metropolfunktion kommt voll zum Tragen.
Einzige Ausnahme im Osten ist übrigens Berlin: Knapp 2.000 Berliner arbeiten in Leipzig, aber fast 3.000 Leipziger haben ihren Arbeitsplatz in Berlin.
So ähnlich ist es übrigens auch mit Dresden und den wichtigsten Großstädten im Westen.
Die Zahlen, die Dütthorn ausgewertet hat, gehen übrigens lediglich auf die von der Arbeitsagentur registrierten Adressen von Wohnort und Arbeitsort zurück. Was diese Statistik nicht hergibt, ist die Zuordnung nach Qualifikationen. Denn was steckt hinter den Auspendlerzahlen in den Westen? Sind das hochqualifizierte Spezialisten, die lieber in Leipzig günstig wohnen bleiben, aber der Arbeit in namhaften deutschen Großkonzernen nachgehen? Oder sind es Montagearbeiter?
Oder steckt überhaupt keine persönliche Reise dahinter? Eine Schwachstelle in der Statistik, die auch Peter Dütthorn anspricht. Denn bei der Arbeitsagentur sind ja die Unternehmen registriert, bei denen die ganzen Leute arbeiten, nicht aber ihre Filialen. Das heißt: Werden die ganzen Verkaufskräfte in Leipziger Rewe-Filialen nun mit dem Arbeitsort Leipzig gezählt oder mit dem Arbeitsort Köln, wo die Rewe-Group ihren Sitz hat? Fahren wirklich über 400 Leipziger zur Arbeit nach Köln? Oder fahren sie drei Stationen mit der Straßenbahn, um dann bei Rewe die Regale einzuräumen?
Statistiken haben, wie man sieht, ihre Tücken. Erst recht, wenn man das Zahlenwerk nicht weiter aufdröseln kann, weil die Bundesagentur keine detaillierten Zahlen herausgibt – und wohl auch nicht herausgeben darf.
Das Bild von den vielen Leipzigern, die im Westen arbeiten, könnte also höchst trügerisch sein. Möglicherweise sogar die Tatsachen völlig verdrehen, weil das Führungspersonal vieler Filialableger westdeutscher Unternehmen tatsächlich im Westen wohnt und über die Woche nach Leipzig pendelt.
Es ist also recht schwierig, aus diesen Zahlen wirklich die Pendlerverflechtungen mit westdeutschen Großstädten zu errechnen. Wirklich aussagekräftig sind tatsächlich nur die Zahlen mit dem regionalen Umfeld, denn hier gibt es kaum Konzerne mit einem riesigen Filialnetz. Die meisten hier als Pendler bezeichneten Personen sind wahrscheinlich wirklich jeden Tag unterwegs. Und über 150.000 überfahren jeden Arbeitstag die Leipziger Stadtgrenzen.
Und diese Zahl ist seit 2000 permanent gestiegen. Damals fuhren noch knapp 76.000 Leipziger zur Arbeit raus aus der Stadt und 35.000 Menschen pendelten zum Arbeiten in die Stadt. Die Pendlerverflechtungen waren damals also schon stark, verdichten sich aber mit der Entstehung neuer Arbeitsplätze immer mehr.
Und diese Arbeitsplätze entstehen nicht nur in Leipzig. Auch in Städten, mit denen Leipzig immer ein positives Pendlersaldo hatte, entstehen welche. Und so hat sich auch das Pendlersaldo mit Chemnitz übers Jahr gedreht: Arbeiteten 2016 noch 196 Chemnitzer mehr in Leipzig als Leipziger in Chemnitz, waren es 2017 32 Leipziger mehr, die in Chemnitz arbeiteten.
Aber da wird es schon sehr kleinteilig. Manchmal können es auch einfach Umzüge sein, die die Relationen verändert haben. Denn wie viele Leipziger sind in diesem Jahr aus der Stadt hinausgezogen in eine der noch bezahlbaren Städte ringsum, um dann doch zur Arbeit in die Stadt zu pendeln?
Man hat es sichtlich mit einer sehr volatilen Statistik zu tun, die von einer sehr spannungsreichen Beziehung erzählt – nämlich der von Arbeit, Einkommen und Wohnortwahl. Und Städte, die gute Verkehrstrassen nach Leipzig haben, profitieren von dieser Entwicklung natürlich. Was längst auch S-Bahn-Städte wie Delitzsch, Eilenburg und Wurzen zu spüren bekommen.
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Auf den ersten Blick scheinen 96.000 Einpendler*innen sehr viel zu sein. Die Stadt Münster hat mit ihren 320.000 Einwohner*innen übrigens auch knapp 100.000 Einpendler*innen. http://www.wn.de/Muenster/2014/11/1779342-Neue-NRW-Statistik-Muenster-ist-Hochburg-der-Einpendler