Sachsen und seine Zuwanderer. Scheinbar ein ganz heißes Eisen: überforderte Bürgermeister, wütende Bürger, eine fremdenfeindliche Partei, die daraus Profit schlägt. Auch weil ein vollkommen falsches Bild in den Köpfen der meisten Sachsen steckt: Sie sehen das Bundesland wie einen großen Kartoffelsack, in den immer mehr Ausländer hineingestopft werden. Aber Sachsen ist kein Kartoffelsack.

Eher ist es ein Dorf mit einem Bahnhof, vielleicht auch eine Kleinstadt mit einem Bahnhof. Jeden Tag steigen hier Menschen aus und ein. Menschen kommen an, die hier studieren, arbeiten, eine Firma gründen wollen, andere bitten um Asyl. Auf dem Bahnhof ist ständig was los. Denn anders als beim Bild mit dem Kartoffelsack wird nicht immer nur etwas hineingesteckt in den Sack. Auf dem Bahnhof reisen auch viele Menschen ab. Die einen sind fertig mit dem Studium, die nächsten fanden keinen richtigen Arbeitsplatz, andere haben die Nase voll oder sie wollen woanders studieren, lernen, arbeiten.

Die populistischen Parteien suggerieren stets ein Bild von einer statischen Bevölkerung, die die neu Ankommenden immer nur als Zumutung empfinden muss.

Was sagt die sächsische Wanderungsstatistik?

Für die Jahre 2011 bis 2015 haben das die sächsischen Statistiker in der 2. Sächsischen Wanderungsanalyse einmal sichtbar gemacht.

Die Analyse hatte etwas Besonderes, denn ab 2011 endete endlich die massive Abwanderung junger Menschen aus Sachsen. Das haben die meisten „Alten“ augenscheinlich längst vergessen, dass Sachsen noch Anfang der 2000er Jahre jedes Jahr Zehntausende junge Menschen verlor, die in Sachsen keine Ausbildung und keinen Arbeitsplatz fanden. Insgesamt waren es über 40.000 allein von 2006 bis 2010.

Eine Zahl, die eigentlich pures Entsetzen auslösen müsste. Und zumindest damals beim sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU) noch ein bisschen Entsetzen auslöste – in großen Demografiekonferenzen wurde das thematisiert.

Diese jungen Leute fehlen heute alle. Aber sie werden nur zum Teil wiederkommen. Die meisten haben längst Familie gegründet und gut dotierte Jobs im Westen gefunden.

Sachsen kann eigentlich froh sein, dass dieser Verlust endlich aufgehört hat und das Schrumpfen der Bevölkerung nur noch natürliche Ursachen hat – es sterben mehr alte Menschen als junge geboren werden.

Was die Wanderung betrifft, hatte Sachsen von 2011 bis 2015 tatsächlich einen Wanderungsgewinn von rund 100.000 – darunter 17.625 Deutsche und 81.682 Nichtdeutsche.

Wanderungsgewinn heißt aber auch nur: Es ist eine Differenz zwischen Zuwandernden und Abreisenden. Das Bild vom Bahnhof.

251.151 Menschen mit deutschem Pass zogen zu, 233.526 zogen im selben Zeitraum wieder weg.

Bei den Nichtdeutschen kamen auf 190.725 Zuzüge 109.043 Fortzüge. Von diesen Menschen blieben also deutlich mehr da. Dass Sachsens Bevölkerung nicht weiter so schnell schrumpfte, hat genau damit zu tun.

Und die Statistiker können auch genau sagen, warum diese Menschen dablieben. Auch wenn an der Befragung für die Wanderungsanalyse deutlich weniger Nichtdeutsche teilnahmen als Deutsche. Obwohl die Zahlen der Wanderung ja ähnlich hoch sind.

Aber das Ergebnis lautet in der Analyse so: „Nichtdeutsche Befragungsteilnehmer sind zu 45,6 Prozent Arbeitsmigranten; 31,8 Prozent sind Bildungsmigranten und 22,6 Prozent Familienmigranten. Während ein Großteil der nichtdeutschen Arbeitsmigranten aus den EU-Staaten nach Sachsen kamen, stammen die nichtdeutschen Familienmigranten wie auch die Bildungsmigranten vorrangig aus Nicht-EU-Staaten.“

Was eben auch heißt: Ein Großteil der Ausländer kommt der Arbeit und des Studiums wegen nach Sachsen. Und viele, die Tritt gefasst haben, holen dann ihre Familien nach.

Was ja die sogenannten „Populisten“ regelrecht erschreckt. Sie können sich nicht vorstellen, dass Menschen aus anderen Ländern genauso großen Bedarf nach einer eigenen Familie haben wie sie selbst. Unsere „Populisten“ erschrecken ja immer gleich doppelt: Wenn die Ausländer ihre Familien nicht nachholen (können), dann „poppen die unsere Frauen“. So ungefähr geht ja das Denken im Kreis.

Sachsen als attraktiver Ort zum Arbeiten, Studieren und Leben kommt in diesem Weltbild einfach nicht vor. Da regiert der „Kartoffelsack“: Man glaubt, dass die verfügbaren Kapazitäten endlich sind wie das Fassungsvermögen eines Kartoffelsacks und irgendwann nicht mehr ausreichen. Das dämliche Bild dafür: „Das Boot ist voll.“

Das Gegenteil ist der Fall: In Sachsen ist längst wieder ein riesiger Bedarf an vor allem jungen Nachwuchskräften entstanden.

Deswegen freuten sich die Statistiker 2015 ja so, dass auch wieder ein bisschen Rückwanderung zu verzeichnen war. Die jungen Leute, die Jahre zuvor weggegangen waren, weil sie partout keine Chance auf einen Job fanden, kommen in winzigen Prozentzahlen wieder. Denn über die Attraktivität eines Landes entscheiden nicht die schönen heimeligen Heimatbilder, mit denen der Sachsen-Tourismus beworben wird, sondern die reale Arbeits- und Lebensperspektive.

28,0 Prozent der Deutschen, die zwischen 2011 und 2018 nach Sachsen migrierten, wie es so schön heißt, waren sächsische Rückkehrer. Sie hatten die Botschaft der hiesigen Wirtschaft vernommen: Es geht endlich wieder was.

37 Prozent von ihnen waren Arbeitsmigranten. Sie kamen also zurück, weil sie endlich eine bezahlte Stelle in der Heimat in Aussicht hatten. 9,3 Prozent kamen als Bildungsmigranten zurück und 40,5 Prozent als Familienmigranten, sie haben also zurückgeheiratet in ihre alte Heimat. Und da die Arbeitslosenzahlen die ganze Zeit sanken, werden sie ebenfalls auch zumeist eine Arbeit gefunden haben. So wie die meisten Ausländer.

Man wandert nicht, weil man irgendwo in irgendwelche Sozialsysteme einwandern will, sondern weil ein attraktiver Wirtschaftsstandort Zukunftsperspektiven verspricht.

Das ist das Motiv für die meisten Menschen, ihre Koffer zu packen.

Und das wirft ein Schlaglicht auf dieses Sachsen seit 2011, das immer wie eine Trutzburg beschrieben wird (auch von den gewählten Burgverwaltern), und dabei ignoriert man in Wirklichkeit das reale Bild eines Wirtschaftsstandorts, der selbst außerhalb Deutschlands als durchaus attraktiv und erfolgreich betrachtet wird.

Nur hierzulande irgendwie nicht.

Eine Zahl haben wir noch aus dem Zensus 2011: Danach waren 81 Prozent der Sachsen tatsächlich auch in Sachsen geboren, 19 Prozent aber außerhalb, waren also Zugezogene oder Zuwanderer. Das Ein- und Aussteigen am Bahnhof ist das Normale, nicht das Bild vom vollen Boot.

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