Eigentlich müsste längst umgebaut werden. Das ganze Jobcenter-System passt nicht mehr zur Zeit. Es schafft die falsche Art Arbeit und entfaltet völlig falsche Lenkungen in den Arbeitsmarkt. Was jetzt auch für den sächsischen Arbeitsmarkt gravierende Folgen hat: Denn noch immer ist der Niedriglohnsektor viel zu groß, während die Instrumente zur Gewinnung und Qualifizierung gesuchter Fachkräfte schlecht oder gar nicht funktionieren.
Am 6. April brachte Dierk Hirschel, Chefökonom der Gewerkschaft Ver.di, das Problem in der „Frankfurter Rundschau“ auf den Punkt. „Heute dürfen Erwerbslose keinen Job ablehnen, der nicht ihrer Qualifikation entspricht, oder unter Tarif bezahlt wird. Wer bei diesem staatlich geförderten Lohndumping nicht mitspielt, riskiert massive Leistungskürzungen. So wurde Hartz IV zu einer wichtigen Stütze des Niedriglohnsektors. Die Hartz-Gesetze verschärften die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Sie schwächten die Verhandlungsmacht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften. Wer heute seinen Job verliert, dem droht nach einem Jahr der Sturz in den Armutskeller“, schreibt er dort. „Es ist an der Zeit, den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Irrweg der Hartz-Gesetze zu beenden.“
Denn „Hartz IV“ hat eben nicht, wie gern behauptet wird, als großer Jobmotor für den Arbeitsmarkt funktioniert. Dazu ist dessen Grundannahme schlichtweg falsch.
Hirschel: „Nach neoliberaler Auffassung ist Arbeitslosigkeit immer freiwillig und somit individuell verschuldet. Wer keine Arbeit hat, muss nur bereit sein, für weniger Geld zu arbeiten, dann findet er auch einen Job. Das ist die neoliberale Logik der verschärften Zumutbarkeitsregeln und der niedrigen Regelsätze. Arbeitslosigkeit ist aber kein Problem zu hoher Löhne, sondern zu geringer gesamtwirtschaftlicher Nachfrage.“
Die Betroffenen wissen es: Sie werden mit Niedriglohnjobs regelrecht auf Trab gehalten. Sie bekommen gar keine Atempause, sich wirklich für höherwertige Beschäftigungen zu qualifizieren. Angebote schon gar nicht.
Die Jobcenter rühmen sich zwar gern ihrer tollen Qualifizierungsangebote. Aber nichts davon ist nachprüfbar. Nichts davon taucht in den öffentlichen Statistiken auf. Job ist gleich Job, egal, ob jemand endlich wieder als Techniker arbeitet oder doch wieder zum zehnten Mal einen befristeten Job als Fensterputzer, Sicherheitsmann oder Bockwurstverkäufer bekommt.
Aber jeder weiß, dass gerade Billigbranchen sich nur deshalb „wirtschaftlich“ rechnen, weil der Druck auf die Löhne direkt vom Staat ausgeübt wird. Eben über „Hartz IV“ plus Sanktionen. Denn wer den aus seiner Sicht unzumutbaren Job nicht annimmt, muss mit Leistungskürzungen rechnen.
Dabei hat sich der Wind eigentlich gedreht. Ganze Branchen schreien längst nach Arbeitskräften und brauchen immer länger, um die frei werdenden Jobs zu besetzen.
Da wirkt es schon seltsam, wenn die sächsische Arbeitsagentur geradezu öffentlich darum bettelt, diese Übergänge anders zu gestalten. Denn der Druck wird auch in Sachsen zunehmen. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) hat die Arbeitsmarktprognosen für das Jahr 2018 mit der Frühjahresprognose angepasst. Und demnach wird die Beschäftigung im Freistaat Sachsen kräftiger steigen und die Arbeitslosigkeit spürbarer abnehmen, als im vergangenen Herbst prognostiziert.
Es werden also noch mehr – qualifizierte – Arbeitskräfte gesucht auf einem scheinbar leergefegten Markt.
Damals wurden ein Anstieg der Beschäftigung um 25.400 und ein Rückgang der Arbeitslosigkeit um rund 5.000 prognostiziert. Mit der Frühjahresprognose 2018 wird sich der positive Trend auf dem sächsischen Arbeitsmarkt stärker auswirken. Die Forscher rechnen für Sachsen bei einem Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts von 2,1 Prozent mit einem Beschäftigungsanstieg um 34.600 und einem Rückgang der Arbeitslosigkeit um 14.000 Menschen.
Wobei immer zu beachten ist: Ein Großteil dieses Rückgangs der Arbeitslosigkeit passiert dadurch, dass vor allem die Langzeitarbeitslosen in Rente gehen. Sie stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung.
„Der konjunkturelle Aufschwung erreicht einen Höhepunkt und wirkt sich sehr positiv auf die Entwicklung der sächsischen Wirtschaft aus. Die Exporte sind stabil und die Binnennachfrage bleibt eine wichtige Stütze der Konjunktur“, sagt Klaus-Peter Hansen, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Sachsen der BA.
Mit der kürzlich veröffentlichten Frühjahresprognose 2018 prognostizierte das IAB für Sachsen im Jahresdurchschnitt 2018 eine Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Bei einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 2,1 Prozent wird die Beschäftigung im Freistaat voraussichtlich um 2,2 Prozent oder 34.600 steigen. Damit würden im Jahr 2018 durchschnittlich etwa 1.617.600 Frauen und Männer einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit in Sachsen nachgehen.
Betonung auf „sozialversicherungspflichtig“. Denn tatsächlich gehen in Sachsen 2,054 Millionen Menschen einer Arbeit nach.
Das hat nach Einschätzung der IAB-Forscher direkte Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit. Im Jahresdurchschnitt könnte die Arbeitslosigkeit um 10 Prozent oder 14.000 Frauen und Männer abnehmen. Damit wären im Jahresdurchschnitt 2018 insgesamt rund 126.300 Frauen und Männer arbeitslos gemeldet.
Und dann kommt Hansen zu seinem Appell. Denn augenscheinlich weiß er genau, dass die Jobcenter in ihrer derzeitigen Verfassung überhaupt nicht in der Lage sind, die Arbeitslosen für die Bedarfe der sächsischen Unternehmen fit zu machen. Auch nach 13 Jahren nicht. Man hat sich viel zu lange in der falschen Vorstellung gewiegt, die Arbeitslosen müssten zur Arbeit gezwungen werden.
Und da fehlte logischerweise das Verständnis dafür, dass Menschen ohne Beschäftigung eigentlich nichts anderes wollen, als Qualifizierungen und Vermittlungen, die sie möglichst direkt wieder in eine lukrative, weil ehrlich bezahlte Tätigkeit gebracht hätten. Seit 2010 ist die Nachfrage massiv gestiegen. Aber die Strukturen hat man nicht geändert.
„Wenn die Beschäftigung in Sachsen einen Rekord nach den anderen aufstellt, sollten aber auch die Löhne, die Rahmenbedingungen der Arbeit und die Kompetenzen der Menschen Schritt halten. Hier sehe ich noch Luft nach oben“, sagt Hansen. „Denn trotz der positiven Prognose bleiben die strukturellen Probleme erhalten. Beispielsweise passt die Qualifikation der arbeitslosen Menschen oft nicht zu den Anforderungen der Betriebe. Hier sehe ich eine sehr große Baustelle, die wir in den Arbeitsagenturen und Jobcentern erkannt haben und auf der auch wir arbeiten. Sicher ist die Qualifizierung der Beschäftigten in erster Linie eine existenzsichernde Aufgabe der Wirtschaft selbst. Dennoch helfen die Arbeitsagenturen auch bei der betrieblichen Weiterbildung. So können wir beispielsweise Zuschüsse zu den Lehrgangskosten zahlen oder auch den entstehenden Arbeitsausfall finanziell ausgleichen. Das ist uns wichtig, denn auch unsere Antwort auf dem Wandel am Arbeitsmarkt heißt Bildung.“
Man merkt schon: Da fehlt etwas. Man arbeitet zwar irgendwie an dieser „Baustelle“. Aber trotzdem „passt die Qualifikation der arbeitslosen Menschen oft nicht zu den Anforderungen der Betriebe“. Was auch damit zu tun hat, dass sich bestimmte Sektoren stärker entwickeln als andere. Am stärksten die Bereiche Unternehmensdienstleister (+ 3,36 Prozent), Information und Kommunikation (+ 2,39 Prozent) und Öffentliche Dienstleister, Erziehung, Gesundheit (+ 2,21 Prozent).
Und nicht nur die Qualifikationen passen oft nicht zur konkret angebotenen Arbeit. Die Leute wohnen oft auch noch am falschen Fleck.
Die kräftigsten Beschäftigungsanstiege soll es laut IAB im Arbeitsagenturbezirk Dresden (plus 2,9 Prozent), Leipzig (plus 2,7 Prozent) und Bautzen (plus 2,4 Prozent) geben. Die kräftigsten Rückgänge der Arbeitslosigkeit prognostizieren die Forscher für die Agenturbezirke Zwickau (minus 14,4 Prozent), Annaberg-Buchholz (minus 12,5 Prozent) und Plauen (minus 11,6 Prozent).
Was sich dort sehr viel anhört – aber in Wirklichkeit sind das in Plauen, Annaberg-Bucholz und Zwickau nur Rückgänge zwischen 800 und 1.400 registrierten Arbeitslosen. Ein Teil davon verschwindet dort aus der Statistik, weil die Betroffenen nach Leipzig oder Dresden umziehen. In Leipzig bedeuten prognostiziert 1.800 Arbeitslose weniger nun einmal nur noch 7,9 Prozent Rückgang. 2,7 Prozent Zuwachs bei den Beschäftigten bedeutet aber bei den zuletzt für Herbst vermeldeten 266.000 Beschäftigten, die Leipzig schon hat, einen Zuwachs von rund 7.200 Beschäftigten.
Hinter den scheinbar so klaren Statistiken versteckt sich also ein enormer Beschäftigungsaufbau in den beiden sächsischen Großstädten, der vor allem eines befördert: die weitere Abwanderung aus den Regionen …
… und einen weiteren Zuwachs an Problemen, die freien Arbeitsstellen mit Fachkräften zu besetzen.
Eigentlich ist recht offenkundig: „Hartz IV“ hat nicht nur versagt, es hat seit über 10 Jahren alle notwendigen Korrekturen bei der Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte torpediert. Solange das Märchen vom „Erfolg von Hartz IV“ die Köpfe vernebelt, bleibt dieses Problem ungelöst und wird sich weiter verschärfen.
13 Jahre vergebliche Müh’: 80 Prozent der Jobcenter-Kunden sind immer noch „arbeitsmarktfern“
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