Deutschlands Statistiker reden gern die Armut klein im Land. Das hat mittlerweile so viel System, dass sich die Betroffenen wie im falschen Film fühlen, wenn wieder der tolle wirtschaftliche Erfolg des Landes und der allgemeine Wohlstand gepriesen wird. Dass aber Armutsgefährdung in Deutschland in der Regel wirklich Armut und fehlende Teilhabe bedeuten, das wissen zumindest die Betroffenen. Denn „Hartz IV“ hat genau das mit sich gebracht: Armut per Gesetz. Nämlich auch außerhalb von SGB II.
Denn wer das Unterstützungsniveau für Arbeitslose derart rigide einschränkt und reglementiert und die Betroffenen auch noch mit Geldstrafen sanktioniert, wenn sie nicht springen, wenn „Hopp!“ gerufen wird – oder ein unzumutbarer Arbeitsplatz besetzt werden soll – dann hat das Wirkungen weit in die Gesellschaft hinein.
Und der Haupteffekt von „Hartz IV“ ist nicht die Wohlstandsversorgung von SGB-II-Empfängern, wie der nagelneue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU, ausgebildeter Bankkaufmann und studierter Politikwissenschaftler) jüngst unterstellte, sondern der Druck auf die Menschen, die gern arbeiten wollen – aber nicht unbedingt zu unzumutbaren Bedingungen. Aber wenn das Hartz-IV-Niveau die Zumutbarkeit definiert, dann entstehen zwangsläufig Millionen billiger Arbeitsplätze. Genau das, was seit 2005 geschehen ist.
Und ganz im Hintergrund entpuppt sich Schröders „Agenda 2010“ als eine gewaltige Umverteilungsmaschine. Denn wer dauerhaft in diesen schlecht bezahlten Berufen landet, der schafft zwar für alle möglichen Unternehmen Umsatz – hat aber am Erwirtschafteten nicht mehr teil, sondern ist – trotz Arbeit – oft weiter unterstützungsbedürftig. Oder dann, wenn er die kärglichen SGB-II-Sätze überschreitet, einfach arm. Wie eine Ratte im Laufrad. Alles Arbeiten hilft nicht. Der Tag ist ausgefüllt. Nur das Geld tröpfelt.
Und das wird auch an einem Vergleich sichtbar, den Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) jetzt wieder angestellt hat. Er hat die Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den deutschen Großstädten seit 2006 bis 2016 neben die Entwicklung der Armutsquoten gelegt.
Und das Fazit ist ernüchternd: Für den Wirtschaftsaufschwung in Deutschland bezahlen vor allem die ärmsten 20 Prozent mit Armut und Verlust an Lebensqualität.
„Ganz anders stellt sich der Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Armutsgefährdungsquote bei vergleichender Betrachtung der Jahre 2006 und 2016 dar“, schreibt Schröder. „Obwohl in allen Großstädten 2016 eine deutlich niedrigere Arbeitslosenquote ermittelt wurde als 2006, wurde 2016 in 12 der 14 Großstädte eine höhere Armutsgefährdungsquote ermittelt als 2006. Während die amtlich registrierte Arbeitslosenquote in den 14 Großstädten zwischen 2006 und 2016 um 3,0 Prozentpunkte (Stuttgart) bis 9,9 Prozentpunkte (Leipzig) sank, stieg die amtliche Armutsgefährdungsquote in 12 der 14 Großstädte um 0,2 Prozentpunkte (Stuttgart) bis 7,3 Prozentpunkte (Essen). Lediglich in Dresden und Leipzig wurde 2016 eine niedrigere Armutsgefährdungsquote ermittelt als 2006 – auf weiterhin hohem Niveau.“
Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und wird – entsprechend dem EU-Standard – definiert als der Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied.
2006 lag die Grenze für die Armutsgefährdung bei 746 Euro pro Monat, 2016 dann bei 969 Euro pro Monat und Betroffener.
Paul M. Schröders Fazit: „Der bei getrennter Betrachtung einzelner Berichtsjahre (Querschnittsbetrachtung der Großstädte) i.d.R. zutreffende Befund, ‚Je niedriger die Arbeitslosenquote, je niedriger die Armutsgefährdungsquote‘, trifft beim Vergleich der amtlichen Daten zur registrierten Arbeitslosigkeit und der amtlich ermittelten Armutsgefährdung (Armut) in den 14 Großstädten für die Berichtsjahre 2006 und 2016 (Längsschnittbetrachtung) offensichtlich nicht zu. Oder mit anderen Worten: Immer mehr amtlich ‚nicht arbeitslose‘ Menschen in den Großstädten sind arm (amtlich: ‚armutsgefährdet‘).“
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