Ganz ohne Kommentar schickte Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) jetzt 19 „Abbildungen zur Entwicklung der Ausbildungsquoten (männlich, weiblich) im Bund, in den Ländern und in Ost- und Westdeutschland 1999 bis 2016“ an die Redaktion. Mit der Bitte um Aufmerksamkeit. Denn die 19 Grafiken zeigen, welcher Fehler von all den handwerklichen Politikfehlern der 1990er Jahre der größte war.
Denn wer Wirtschaft ohne Menschen denkt – und das bringen deutsche Bundeskanzler und Wirtschaftminister gern fertig – der produziert langfristige Probleme für das Land. Was natürlich mit dem kurzatmigen Denken unserer heutigen Politik zu tun hat: Ständig sind irgendwo Wahlen, müssen Parlamentssitze erobert oder verteidigt werden. Die kurzen Zyklen des politischen Tagesgeschäfts passen nicht zu den langfristigen Wirkungen, die man mit falschen Entscheidungen auslöst, die kurzfristige finanzielle Effekte bringen.
Und es ist ja nicht so, dass die maßgeblichen Politiker der frühen Einheitsjahre nicht merkten, was da besonders im beigetretenen Osten passierte, als die radikale Privatisierungswelle der Treuhand einsetzte. Nicht nur wanderten hunderttausende gut ausgebildete Ostdeutsche noch bis zum Ende der 1990er Jahre ab in den Westen. Vor allem gingen dem Osten die jungen Frauen verloren. Mit dem Ergebnis, dass die Geburtenrate massiv einbrach.
Das nahmen die meisten Politiker fast wie ein Geschenk: spart man Geld für Familienpolitik, muss man weniger in den Osten überweisen.
Wie fatal und kurzsichtig dieses Denken war, zeigt sich heute in allen Bundesländern, nicht nur im Osten – auch wenn das Phänomen sich dort besonders drastisch auswirkt: Aus den halbierten Geburtenjahrgängen sind halbierte Ausbildungsjahrgänge geworden. Das bedeutet eben nicht nur, dass sich der Anteil der Auszubildenden an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten halbiert hat. Die Quote ist so gering, dass viele ostdeutsche Unternehmen nicht mal ihren eigenen Nachwuchs sichern können.
Dazu kommt natürlich, dass auch mehr Jugendliche studieren.
Aber das ist ja nur aus Sicht der Wirtschaftsverbände ein Drama. Denn tatsächlich fehlen auch gut ausgebildete Akademiker – man denke nur an Lehrer, Ingenieure, Ärzte, sogar Juristen. Was teilweise am sogenannten „Schweinezyklus“ liegt: Es gibt keine politische Instanz, die wirklich verlässlich Bedarfe über 10, 20 Jahre hin ausrechnen kann. Also werden Kapazitäten (etwa für die Lehrerausbildung) kurzfristig aus dem Boden gestampft und dann später, wenn man wieder genug Lehrer hat, abgebaut. So entstehen Wellen – mal gibt es zu viel, mal zu wenig Lehrer.
Wellen, die sich ja bekanntlich ankündigen. In allen Parlamenten gibt es Experten, die sich in ihrem Fachgebiet gut auskennen und frühzeitig warnen. Meist zu einem Zeitpunkt, wo ein leichtes Umsteuern langfristig sogar gute Ergebnisse zeitigt.
Aber bei den Lehrern in Sachsen hat man ja beobachten können, was passiert: Die eindringlichen Warnungen gab es schon 2009 und 2010. Zwei Kultusminister sind inzwischen zurückgetreten, weil sie an einem Finanzminister scheiterten, der zum flexiblen Umsteuern nicht bereit war.
Und das passierte so nicht nur in Sachsen. Augenscheinlich fehlt sämtlichen deutschen Landes- und Bundesregierungen das demografische Sensorium. Man sieht die Zahlen aus den statistischen Ämtern auf den Tisch flattern – begreift sie aber wie ein ägyptisches Orakel. Man sieht, dass man irgendetwas nachjustieren müsste – und dann scheitert man an den eigenen Vokabeln, die dann meistens „Ideologie“ oder „Prinzip“ heißen. So wie das „Nein“ zum längeren gemeinsamen Lernen in Sachsens CDU bislang prinzipiell war, obwohl selbst die Mehrheit der CDU-Wähler ein längeres gemeinsames Lernen der Schüler befürwortet.
Und genauso „prinzipiell“ war die Privatisierungs- und Demografie-Politik der 1990er Jahre. Obwohl alle Statistiken zeigten, dass dem Osten damit die Jugend verloren ging. Und damit die Basis auch für die wirtschaftliche Zukunft.
Im Bild haben wir das Ergebnis für Sachsen: Seit 2005 hat sich die Ausbildungsquote von 8,6 auf 4,3 Prozent bei den Jungen regelrecht halbiert, bei den Mädchen fiel sie von 5,9 auf 3,1 Prozent.
Ein Teil des Effekts – das muss erwähnt werden – geht natürlich auch auf die gestiegene Zahl sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse zurück. Mehr ältere Erwerbstätige konnten endlich aus Arbeitslosigkeit oder einem marginalen Jobverhältnis in einen sv-versicherten Job wechseln.
Aber das ändert am Problem nichts, denn die neuen Arbeitsplätze sind ja in Branchen entstanden, die sowieso einen hohen Bedarf an Arbeitskräftenachschub haben – im Gastgewerbe genauso wie in den Pflegeberufen. Das heißt: Auch die jetzt dort Beschäftigten müssen irgendwann ersetzt werden. Was mit einer Ausbildungsquote von 3 bis 4 Prozent sehr knapp wird.
Die Grafiken zeigen, dass es dem Westen wohl noch eine Weile gelingen wird, seinen Berufsnachwuchs zu sichern. Im Osten aber werden die Probleme bei der Nachwuchssicherung wachsen. Und was die Zahlen nicht verraten, ist natürlich auch hier die territoriale Ungleichverteilung, denn die jungen Familien und damit der Nachwuchs leben mittlerweile in den großen Städten, während in den ländlichen Regionen der Ausbildungsnachwuchs schon mit der Lupe gesucht werden muss.
Diese Planung ist – wie man sieht – völlig schiefgegangen. Zeichen auch dafür, dass die meisten handelnden Politiker über eine gewisse Fachbeschränktheit nicht hinauskommen und das Arbeitsthema Demografie sträflichst vernachlässigt haben.
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Ich glaube, daß die dortigen Erfahrungen (s.u.) auch hier zutreffen. Wenn es denn zuträfe, daß es zuwenig Arbeitnehmer gäbe, müßte sich dies nach den Regeln des Marktes auch in den Arbeitsverhältnissen widerspiegeln. Sowohl in Quantität als auch in Qualität (Leiharbeit, befristete AV, Werkverträge, Entlohnung).
Das ist nicht der Fall. Eine Änderung ist auch nicht ansatzweise erkennbar, wie selbst das IWH Halle feststellte.
http://www.fnp.de/nachrichten/meinung-der-redaktion/Arbeitsmarkt-Stellen-nicht-Fachkraefte-fehlen;art743,2869477