Schon im Mai, als in Leipzig der „Kirchentag auf dem Weg“ stattfand, gab es hörbare Kritik an dem Ereignis und an den nicht erfüllten Erwartungen der Veranstalter. Immerhin hatte sich Leipzig mit 950.000 Euro an der Finanzierung beteiligt. Das Kulturamt versucht jetzt, das Debakel irgendwie zu erklären.
In einer Stadtratsvorlage „Kirchentag auf dem Weg vom 25. bis 28. Mai 2017: Zwischenbilanz“ versucht das Dezernat – in erstaunlich kritischer Weise für so eine Vorlage – die Gründe zu analysieren. Augenscheinlich hatte die Evangelische Kirche selbst dafür gesorgt, dass der Höhepunkt des Jubiläumsjahres derart zerlepperte. Statt sich auf Wittenberg und seine assoziierten „Kirchentagsorte auf dem Weg“ zu konzentrieren, hat man auch noch eigene Gegenveranstaltungen organisiert: „Es ist nicht gelungen, für die Idee des zentralen Gottesdienstes und der Satellitenkirchentage innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands flächendeckend zu begeistern. Das Konzept beruhte auf Bündelung aller Kräfte und Interessen. Stattdessen fanden auch in anderen Evangelischen Landeskirchen aufwendige Großveranstaltungen zum Reformationsjubiläum statt, die Aufmerksamkeit und Energien banden. So waren statt der avisierten 10.000 Mitglieder von Posaunenchören aus dem ganzen Land schließlich nur knapp 4.000 nach Leipzig gekommen.“
Obama sprach in Berlin statt in Wittenberg. Die verschärfte Sicherheitslage nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt vor einem Jahr kam hinzu. Aber noch schlimmer war wohl die eigene Überhebung der Organisatoren, die die Wunschzahl von 200.000 Besuchern beim Gottesdienst auf den Wittenberger Elbwiesen als verlässliche Prognose verkauften und schlicht jede belastbare Rücksprache in den Gemeinden unterließen.
Schon vor dem Leipziger Kirchtag auf dem Weg mussten die Zahlen nach unten geschraubt werden.
„Erwartet wurden in Leipzig insgesamt 50.000 Gäste, von denen ca. 35.000 Dauerteilnehmende sein sollten (hier sind die 10- bis 15.000 Mitwirkenden enthalten, die üblicherweise eingerechnet werden)“, stellt das Kulturdezernat jetzt fest. „Tatsächlich wies der Veranstalter nach Ende des Kirchentags 15.000 Mitwirkende und Teilnehmer aus. Im Auswertungsgespräch bei Oberbürgermeister Burkhard Jung am 29. August 2017 korrigierte Hartwig Bodmann, Geschäftsführer des Reformationsjubiläum 2017 e.V., diese Zahl noch einmal mal nach unten auf 12.000 Gäste (Tageskarten wurden kaum verkauft). Davon sind etwa die Hälfte Mitwirkende gewesen.“
Das galt nicht nur für Leipzig.
„Diese enttäuschenden Besucherzahlen waren auch bei anderen Kirchentagen auf dem Weg zu verzeichnen. Auch die Veranstaltungen in Halle/Eisleben, Erfurt und Jena/Weimar erreichten nicht einmal 30 % der erhofften Besucherzahlen, in Magdeburg waren es nur 20 %. Lediglich Dessau/Rosslau hatte wenigstens die Hälfte der prognostizierten Besucher – hier war aber von vornherein nur mit 5.000 Gästen gerechnet worden. Die Relationen der einzelnen Städte untereinander blieb so, wie ursprünglich veranschlagt: Leipzig hatte so viele Teilnehmende wie die anderen Städte zusammen – nur auf sehr viel niedrigerem Niveau.“
Und dann eine sehr deutliche Kritik. Leipzigs OBM war augenscheinlich richtig sauer, denn er hatte sich wie kein anderer für die starke Finanzierung des Ereignisses durch die Stadt Leipzig eingesetzt. In der Vorlage liest man: „Innerhalb der Kirchentagsleitung waren die Veranstaltungen zunächst unkritisch reflektiert worden. Relativ rasch wurden jedoch in der Öffentlichkeit und schließlich auch innerhalb der evangelischen Kirche selbst zunehmend Stimmen laut, die die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität der Kirchentage auf dem Weg thematisierten.“
Der Kirchentag hatte mit einem Budget von 5,36 Millionen Euro geplant und in Leipzig auch über 500 anspruchsvolle Veranstaltungen auf die Beine gestellt. Was möglicherweise ebenfalls zu viel war. Die Vorlage beklagt auch die schlechte Medienwahrnehmung.
Aber wer das Ereignis aus Mediensicht versuchte, irgendwie zu ordnen, der merkte schnell: Das Angebot zerfranste einem unter den Augen. Die Leute (selbst wenn 50.000 gekommen wären) hätten sich ratlos in einer Überfülle von Veranstaltungen verloren, ohne dass irgendwie ein besonderer Schwerpunkt erkennbar wurde.
Und alle diese Veranstaltungen kosteten natürlich Geld. Nach erster Rechnung der Stadt Leipzig rund 3,9 Millionen Euro, von denen ein Großteil natürlich auch wieder zurückflossen an Unternehmen in der Stadt. Aber da die erwarteten Einnahmen von 1,5 Millionen Euro wohl auch gedrittelt werden müssen, dürfte am Ende nichts übrig geblieben sein. Die Mehrkosten, so versichert die Evangelische Kirche, würde sie selbst übernehmen.
Und was blieb für Leipzig?
Die Vorlage versucht zu suggerieren, dass der neue touristische Rekordmonat Juni mit 310.356 Übernachtungen ein Ergebnis des Kirchentages gewesen sein könnte. Bachfest und Rasenball-Saison schloss man aus. Aber mit den Daten 25. bis 28. Mai lag auch der „Kirchentag auf dem Weg“ im Mai. Eine Vermutung könnte sein, dass viele Gäste für das Reformationsjubiläum dann doch erst im Sommer anreisten, im sogenannten „Sommer der Reformation“, der sich in der Vorlage gar zum „Sommer der Revolution“ mausert. Da ist wohl die Oktoberrevolution gedanklich dazwischengekommen.
Aber Spaß beiseite: Einen Faktor haben die Beteiligten wirklich nicht zu packen bekommen: „Generell ist es den kirchlichen Organisatoren nicht gelungen, im vorwiegend säkularen Osten das Ereignis ‚500 Jahre Reformation‘ in der Breite der Bevölkerung als gesamtgesellschaftlich relevant zu implementieren. Für die meisten nichtreligiösen Bürger in Mitteldeutschland und auch in Leipzig blieb die Reformation ein innerkirchliches Ereignis.“
Klingt so, als wüsste man es. Weiß man natürlich nicht. Denn es hat keiner auch nur versucht, diese „innerkirchliche“ Fete zu öffnen und Brücken zu schlagen in eine Gegenwart, die mit Religion kaum noch etwas am Hut hat, mit den Folgen der Lutherschen Reformation sehr wohl.
Wie sehr die Kirche den Lutherschen Impetus vergessen hat („Hier stehe ich, ich kann nicht anders …“), wurde dann Ende Juni am Motto der Generalversammlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) deutlich: „Lebendiger Gott, erneuere und verwandle uns“.
Das kann nicht funktionieren. Das klingt eher nach „Warten auf Godot“ als auf eine Ankunft der Kirchen im praktischen Diesseits.
Die Informationsvorlage zum „Kirchentag auf dem Weg“.
Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie
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