Für FreikäuferWas für ein Problem da im Osten heranreift, das wird erst richtig deutlich, wenn man nicht nur die Statistiken der Arbeitsagentur betrachtet, sondern auch wieder auf Zahlen zurückgreift, die Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) zusammengestellt hat. Denn im Osten geht die Zahl der Arbeitsuchenden dramatisch zurück.

Die Freude der Präsidenten in den Arbeitsagenturen ist keinesfalls berechtigt. Denn jahrelang hat man sich an den Trott gewöhnt, dass Arbeitslose eine Last und Arbeitslosenzahlen zu beklagen sind. Trotz all der Ökonomen, die predigen, Menschen seien eigentlich Humankapital.

Klingt schrecklich, hat aber mehrere Bedeutungen. Denn sie sind nun einmal Arbeitskräfte. Wenn man sie nicht mehr findet, kann man den Laden dichtmachen. Das macht sie nicht zur Last, sondern wertvoll.

Was übrigens Benjamin Bidden am 2. November in seinem „Spiegel Online“-Artikel „Was hinter Deutschlands Beschäftigungswunder steckt“ schön herausgearbeitet hat. Denn nicht „Hartz IV“ ist für das deutsche Jobwunder verantwortlich, sondern einmal die starke Flexibilisierung der Arbeitszeiten und zum anderen – gern vergessen – die schlichte Absehbarkeit des Fachkräftemangels.

Die Unternehmer haben schon vor über zehn Jahren gesehen, was passiert, wenn Deutschland das Jahr 2010 erreicht und gerade im Osten die halbierten Geburtenjahrgänge ins Ausbildungsalter kommen. Dann fängt das große Suchen an. Keiner hat in Leipzig öfter und deutlicher gewarnt als der Handwerkskammerpräsident Joachim Dirschka.

Unsere Politik behauptet zwar gern, sie hätte Wirtschaftskompetenz. Aber wenn es drauf ankommt, beweisen führende Politiker, dass sie gar keine haben. Sie haben das Thema bis heute nicht begriffen, gerade die sogenannten wirtschaftskompetenten Politiker der CDU und CSU. Denn wenn sie das Ausmaß dessen begreifen würden, was da auf uns zukommt, hätten sie längst eine richtige Bildungsreform angestoßen (gegen die sie sich aber mit Händen und Füßen wehren) und ein richtiges Einwanderungsgesetz geschmiedet (vor dem sie sich fürchten wie der Teufel vor dem Weihwasser).

Denn dass in Ostdeutschland die Arbeitslosenzahlen derart drastisch sinken, ist direkte Auswirkung des Geburteneinbruchs in den 1990er Jahren.

Und da können die Landespolitiker noch von Glück reden, denn  – wie Bidden betont – die Unternehmen haben schon in der Finanzkrise reagiert und so weit wie möglich auf Entlassungen verzichtet. „Auch das Kalkül der Arbeitgeber unterschied sich von vorherigen Krisen. Laut den Wissenschaftlern waren 2008/09 vor allem exportorientierte Unternehmen vom Einbruch des Welthandels betroffen. Weil dort Mitarbeiter aber häufig besonders gut ausgebildet und neue nur mühsam auszubilden sind, verzichteten viele Firmen auf Kündigungen – und suchten lieber andere Lösungen“, schreibt Bidden zu der von ihm zitierten Studie der University of Massachusetts und der gewerkschaftsnahen deutschen Hans-Böckler-Stiftung.

Wenn der Nachwuchs knapp wird, werden die Fachkräfte, die man hat, automatisch wertvoller.

Im Osten kommt hinzu, dass die jungen, gut ausgebildeten Menschen wieder – wie in den 1990er Jahren – abwandern. Diesmal nicht in die westlichen Bundesländer, sondern in die Großstädte, wo sich längst eine ganz neue Wirtschaftsmischung entwickelt.

Und diese Großstädte saugen alles ab, was an ausbildbarem oder schon qualifiziertem Arbeitnehmerpotenzial da ist.

Und das in erstaunlichem Umfang. Besonders Brandenburg hat dieses Phänomen, wo die Zahl der Arbeitsuchenden binnen eines Jahres um satte 10 Prozent sank. Diese zumeist jungen Menschen haben aber meist nicht in Brandenburg einen Job gefunden, sondern in der Metropole Berlin, die im nächsten Effekt ein nicht ganz so starkes Sinken der Arbeitsuchendenzahl erlebte – um 4,4 Prozent.

So ein ähnliches Verhältnis sieht man auch, wenn man Sachsen mit Leipzig vergleicht.

Und da der Arbeitsmarkt schon ziemlich abgegrast ist im Osten, liegen alle fünf ostdeutschen Flächenländer beim Rückgang der Arbeitslosenzahlen in der Spitzengruppe, haben Rückgänge bei den offiziell gezählten Arbeitslosen zwischen 9,1 Prozent in Thüringen und 12,1 Prozent in Brandenburg. Sachsen liegt mit 10,6 Prozent mittendrin. Die westlichen Bundesländer lagen beim Rückgang nur im einstelligen Bereich.

Obwohl das auch dort heißt, dass der Mangel an Fachkräften in einigen Branchen langsam prekär wird.

Paul M. Schröder hat auch noch die Zahlen nach Rechtskreisen (SGB II und SGB III) aufgedröselt, weist aber darauf hin, dass die Zahlen verzerrt sind. Die Bundesarbeitsagentur hat sich einen neuen Kniff einfallen lassen, die Entwicklung der Zahlen zu verschleiern – sie hat die sogenannten „Aufstocker“, die ALG beziehen, weil ihr Job nicht zum Leben reicht, umgebucht aus dem Rechtsbereich SGB II in den Bereich SGB III. Was dann scheinbar einen stärkeren Rückgang bei den ALG-II-Empfängern suggeriert – und einen Anstieg bei den ALG-I-Empfängern.

Was aber am gesamten Arbeitskräftereservoir nichts ändert. Und am Problem, das so ungelöst auf dem Tisch liegt wie vor zehn Jahren: Wo kommen die immer stärker benötigten Fachkräfte jetzt her?

Antworten sind überfällig. Aber stattdessen reden die Kraftmeier über Flüchtlinge und Obergrenzen. Thema verfehlt, kann man da nur sagen.

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