Pfützengucken hat noch etwas Gutes: Man wird zum Langsamgehen und Stehenbleiben gezwungen. Egal, ob mit kleinem Kind oder ohne. Wenn die Sonne rauskommt, sieht man den ganzen Himmel zu seinen Füßen. Und man darf auch mal über die kürzliche Wahl nachdenken, die möglicherweise gar nicht das war, was die Schnellkommentatoren meinten, dass sie gewesen wäre. Eine Bertelsmann-Studie machte darauf aufmerksam.

Am Freitag, 6. Oktober, wurde sie veröffentlicht: „Bundestagswahl 2017: Wahlergebnis zeigt neue Konfliktlinie der Demokratie“. Diverse Medien machten dann flott daraus, was sie im ersten Moment herauslesen konnten. „Zeit Online“ zum Beispiel: „Zwei Drittel der AfD-Wähler ‚modernisierungsskeptisch‘“.

Das ist dann so eine seltsam zutünchende Phrase: modernisierungsskeptisch. Die Interpretation stammt von den Erstellern der Studie, die zwischen „Modernisierungsskeptikern und –befürwortern“ versuchen zu unterscheiden. Aber sie fassen damit ein Phänomen, über dem die üblichen Wahlumfrager zumeist verzweifeln. Denn das Phänomen AfD hat ganz unübersehbar nichts mit den Konflikten zwischen Arm und Reich, zwischen gutsituierter Mitte und abgehängtem Prekariat zu tun.

Die AfD besteht nicht nur zu einem großen Prozentsatz aus gut verdienenden Akademikern, viele von ihnen direkt aus dem Staatsdienst. Diese Partei wird auch zu einem großen Prozentsatz von Gutverdienenden gewählt. Zu Recht wies Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) am 30. September darauf hin, dass es eben nicht nur die protestversessenen Ostdeutschen waren, die am 24. September fleißig AfD wählten. Nahezu 68 Prozent der Stimmen holte die AfD in Westdeutschland – auch und gerade im reichen CSU-Land Bayern.

Dass Ministerpräsident Horst Seehofer noch nicht mal begriffen hat, was da abging (und da geht es ihm ja wie seinem sächsischen Kollegen Stanislaw Tillich), ist dieser Tage ja auf allerlei Fotos zu sehen: Der Mann ist alt und verzagt geworden und kommt aus seinem Geleier von der Obergrenze nicht mehr heraus. Es ist traurig, wenn sich Politiker derart stur in Sackgassen verfransen.

Aber warum half es der CSU so gar nicht, mit fremdenfeindlichen Themen gegen diese freche AfD anzupunkten?

Aus einem simplen Grund: Die AfD ist das Gegenteil dessen, was man sich unter gebildeten Leuten unter einer Alternative vorstellt. Alternativen entwickelt man normalerweise, um Handlungsoptionen für die Zukunft zu gewinnen, mögliche Veränderungen vorwegzudenken und damit eben auch denkbar zu machen.

Davon gibt es ja bei der AfD nichts. Die AfD ist eine Partei, die die Sorgen um das Bestehende schürt: Verlustängste, Abstiegsängste, Ängste vor Kontrollverlust usw. Sie ist die ideale Partei für ein Milieu, das seine Ängste gern in Politik gießen möchte. Und das ist nicht das Prekariat in Deutschland. Denn wer eh nix hat und jeden Tag in der täglichen Mühsal wieder ganz bei Null anfängt, der ängstigt sich nicht. Wovor auch? Was einem passieren konnte, haben einem Jobcenter, Arbeitgeber und Rentenkasse und wer da noch alles am Existenzminimum kürzt, längst angetan. Da hofft man vielleicht noch. Aber man ängstigt sich nicht – nicht vor Einbrechern, nicht vor Autodieben, nicht vor Handtaschenraub.

Deswegen wären hier vielleicht mal ein paar Gedanken zur Leipziger Umfrage zum Sicherheitsempfinden ganz gut. Denn könnte es sein, dass die Ängste vor den bösen Dieben wachsen, je mehr die Leipziger an Wohlstand zu verlieren haben?

Nur so als Zwischenfrage.

Aber AfD-Wähler fürchten sich noch vor viel mehr, wie die Bertelsmann-Studie ergab: „Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse: Die Spaltung der Wählerschaft verläuft mittlerweile zwischen den Skeptikern und Befürwortern der sozialen und kulturellen Modernisierung und hat auch das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl entscheidend geprägt. In modernisierungsskeptischen Milieus identifizieren sich die Menschen mit Begriffen wie ‚Tradition‘ oder ‚Besitzstandswahrung‘. Für modernisierungsoffene Milieus sind dagegen ‚Grenzüberwindungen‘ und ‚Beschleunigung‘ prägende Begriffe. Knapp zwei Drittel aller AfD-Wähler kommen aus Milieus, die eher modernisierungsskeptisch sind. Damit hat die AfD im Parteienspektrum ein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der Modernisierungsbefürworter an. Am knappsten fällt diese Mehrheit mit 52 Prozent bei den Unions-Wählern aus, am deutlichsten bei den Wählern der Grünen (72 Prozent).“

Wenn man das liest, interpretiert man auch das Jahr 2015 und Seehofers Obergrenze anders. Denn dann steht der Sommer 2015 für etwas, was die verängstigte Mittelschicht vorher lieber nicht sehen wollte und nun mit eigenen Augen sehen musste: Dass sich die Welt nämlich verändert, dass Deutschland keine Insel im Meer ist und dass die Veränderungen da draußen auch hier ankommen.

Der Reflex ist bekannt: „Wollen wir nicht!“

Und er baute auf vielen anderen Ängsten auf. Denn ein Teil der arrivierten Mitte hat Angst vor jeder Veränderung. Veränderung macht ihr Angst. Wenn sie gar wie eine Modernisierung aussieht, erst recht. Und Deutschland ist mittendrin in mehreren parallelen Prozessen der Modernisierung, die alle zwingend sind und alle dafür sorgen werden, dass sich das Leben aller Deutschen verändert. Die Einwanderungspolitik ist dabei nicht einmal das zentrale Feld. Die digitale Revolution wird Deutschland noch viel gründlicher verwandeln, die Energiewende ebenfalls. Die Mobilitätswende ist genauso unausweichlich wie die Veränderung von Frauen- und Familienbildern.

„Die AfD wurde ganz überwiegend von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen“, sagte Bertelsmann-Direktor Dr. Robert Vehrkamp.

Deswegen hassen AfD-Redner besonders die Grünen, Linken und Alt-Achtundsechziger. Denn die stehen allesamt für eine Modernisierung der Gesellschaft, für einen weiteren Aufbruch verkrusteter männlicher Machtstrukturen. Deswegen fühlen sich so viele Männer in Gutverdiener-Positionen hingezogen zu dieser Partei. Sie bedient ihren Wunsch nach einem Bollwerk gegen eine offenere, gleichberechtigte Gesellschaft.

Die Sinus-Milieus und die neue Konfliktlinie unserer Gesellschaft. Grafik: Bertelsmann Stiftung
Die Sinus-Milieus und die neue Konfliktlinie unserer Gesellschaft. Grafik: Bertelsmann Stiftung

Die Leute gab es auch vorher schon. Die Wahlverluste von CDU und CSU zeigen, dass sie dort lange Zeit ein Zuhause hatten. Und dass sie jetzt eine neue Mutter suchen. Deswegen sind sie auch auf Angela Merkel so sauer. Sie fühlen sich durch Big Mama nicht mehr geschützt vor den Unbilden der offeneren Gesellschaft. Sie wünschen sich von ganzem Herzen eine Geschlossene Gesellschaft (Vorsicht: Zitat von Volker Braun, aber auch von Jean-Paul Sartre, der sich schon vor 75 Jahren den richtigen Spruch für AfD-Wähler ausgedacht hat: „Die Hölle, das sind die anderen“).

Das ist der Kampf, der jetzt eigentlich ausgefochten wird – nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen Modernisierern und konservativ Verängstigten.

Wenn man die Ängste dahinter nicht versteht, kann man damit nicht umgehen. Dann verstärkt man nur die homophoben Parolen (wie die närrischen CDU-Granden in Sachsen), denkt aber nicht darüber nach, wie man den Verängstigten ihre Ängste nehmen kann. Denn sie sind keine „Modernisierungsskeptiker“, sie haben richtig Angst vor den Veränderungen. Aber sie denken erst recht nicht über die Ursachen nach. Sie wollen das alles nur nicht. Und glauben wohl auch, dass sie mit einer Komplettverweigerung die Veränderungen aufhalten können.

Und was sie nicht aufhalten können, ignorieren sie einfach. Klimawandel zum Beispiel, demografische Entwicklung, Digitalisierung …

Es geht also nicht, wie die Wahlstrategen der Union jetzt wieder behaupten, darum, die „AfD-Wähler zurückzugewinnen“, sondern darum, erst einmal zu verstehen, warum man mit alten Rezepten Wähler nicht bei der Stange hält und warum ein Rühren im Topf konservativer „Werte“ gar nichts bringt. Im Gegenteil: So etwas verstärkt nur Ängste und Vorurteile.

Die klügeren Parteien greifen den Stier bei den Hörnern und machen Modernisierung tatsächlich zu ihrem Thema. Denn auch das ist unübersehbar: Nur bei der AfD haben die Modernisierungsverweigerer die Mehrheit. In den anderen Parteien sind es eigentlich die Modernisierer. Und sie haben auch noch die Realität als Schubkraft hinter sich, denn alle die Veränderungen kommen ja trotzdem. Und Erfolg haben historisch nun einmal jene Gesellschaften, die diese Veränderungen bewusst gestalten.

Wer sich darum drückt und Däumchen dreht oder Rauten faltet, der verliert. Und der stärkt vor allem das Milieu der Ängstlichen, die – bei genügend Schwungmasse – natürlich dafür sorgen können, dass das Land seine Zukunft verspielt.

Das muss man schon so deutlich sagen: wer jetzt nach rechts rückt, der hat es eh nicht begriffen.

Die Sachsen haben auch noch ganz was anderes gewählt als nur AfD und CDU

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