In der „Bürgerumfrage 2016“ ging es auch erstmals um ein Thema, das scheinbar immer nur die Anderen betrifft: Benachteiligung im Leben. Im Extremfall kann man es auch Diskriminierung nennen. Aber das Thema scheint für die meisten Leipziger doch sehr heikel. Bei den wirklich vieldiskutierten Diskriminierungen halten sie sich auffällig zurück.
Gefragt hatten Leipzigs Statistiker nach dem Thema zum ersten Mal. Immerhin gibt es genug aufsehenerregende Nachrichten über die Diskriminierung von Migranten, von Frauen, von Menschen mit Behinderungen oder mit anderen sexuellen Orientierungen. Schon allein die Fakten über den Umgang mit Frauen deuten darauf hin, dass Benachteiligung für Frauen in der Arbeitswelt eher die Regel ist als die Ausnahme.
Aber so recht detailliert wollen die Leipziger bei dem Thema augenscheinlich nicht antworten. „Zur Benachteiligung infolge des Migrationshintergrundes, der sexuellen Orientierung, der Religion oder einer körperlichen Einschränkung/Behinderung konnte keine Analyse durchgeführt werden, da der Anteil von betroffenen Personen in der Erhebung zu gering ist, um zuverlässige Aussagen zu treffen“, heißt es im Bericht zur Bürgerumfrage.
Heißt das dann wirklich, dass die meisten Leipziger sich noch nie benachteiligt gefühlt haben?
Nicht ganz. Immerhin 63 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal das Gefühl gehabt zu haben, benachteiligt zu werden. Die Fragestellung ist spannend – aber richtig. Denn Benachteiligung passiert meist verschleiert. Kein Personalchef wird mehr zugeben, dass er Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihres Alters abgelehnt oder im Gehalt herabgestuft hat. Viele Diskriminierungen sind so selbstverständlich in unsere Umwelt eingebaut, dass sie von den meisten Menschen gar nicht mehr bemerkt werden.
Vielleicht ist es da schon erstaunlich, dass dennoch so viele Leipziger bestätigten, Benachteiligung schon einmal empfunden zu haben. 39 Prozent hatten das Gefühl, schon mindestens einmal am Arbeitsplatz, in der Schule oder an der Universität benachteiligt zu werden. Bei der Arbeitsuche haben es immerhin 30 Prozent der Befragten schon erlebt, beim Arzt oder im Krankenhaus waren es 29 Prozent. Der Blick ins Detail zeigt also, dass es die spürbaren Momente der Ausgrenzung doch für erstaunlich viele Menschen gibt.
Selbst bei der Wohnungssuche haben es 22 Prozent der Befragten schon erlebt, beim Gang zur Behörde (die Leipziger Stadtverwaltung eingeschlossen) waren es 24 Prozent, deutlich mehr als etwa in Gaststätten und Diskotheken, die immer wieder für skandalträchtige Medienberichte sorgten. Aber da haben es nur 15 Prozent der Leipziger erlebt. In etwa so viele wie bei der Polizei, wo es 16 Prozent waren.
Aber die nächste Auswertung ist spannend, weil sie zeigt, dass das Wahrnehmen von Benachteiligung auch eine Generationenfrage ist. Denn mit steigendem Alter sinkt das Wahrnehmen von Benachteiligung. Am sensibelsten für das Thema sind die jüngeren Befragten zwischen 18 und 34, von denen 53 Prozent davon berichten, dass sie am Arbeitsplatz oder Ausbildungsplatz schon benachteiligt wurden. Und auch bei der Arbeitsuche haben 36 Prozent der jungen Leute Erlebnisse von Benachteiligung gehabt.
Man bekommt so eine Ahnung, wie sehr Momente der Ausgrenzung und stillen Diskriminierung überall in unserer Gesellschaft am Wirken sind. Wir sind keine wirklich transparente, offene und ehrliche Gesellschaft. Wäre ja noch schöner, könnte man sagen.
Sollte man wohl auch sagen. Denn eine Gesellschaft, die schon in der Schule aussiebt und ausgrenzt, wird eben leider keine ehrliche Gesellschaft. Sie kultiviert Lügen und Vorurteile regelrecht. So sehr, dass am Ende die meisten Menschen gar nicht mehr sehen, wie sie selbst – bewusst oder schon automatisch – benachteiligt werden.
Und da wird die dritte Auswertung wichtig, die einfach nur noch verblüfft, weil die Zahlen hier so niedrig sind. Denn die Betroffenen durften durchaus auch angeben, warum sie glaubten, benachteiligt worden zu sein. Die Statistiker der Stadt staunen zwar nicht darüber, dass Frauen öfter das Gefühl haben, benachteiligt zu werden – das ja eindeutig nicht trügt. Man denke nur an die unausgewogene Besetzung von Führungsposition oder die deutlich schlechtere Bezahlung von Frauen.
Aber nur sechs Prozent der Frauen gaben an, schon einmal wegen ihres Geschlechts am Arbeitsplatz benachteiligt worden zu sein. Das verblüfft schon. Erzählt das davon, dass Leipzig eine eher geschlechtergerechte Stadt ist, in der Frauen eher selten benachteiligt werden?
Oder finden die Benachteiligungen auf einer anderen Stufe statt, bei der Arbeitssuche zu Beispiel? Aber auch hier machten nur 3 Prozent der Frauen ihr Kreuz.
Die häufigste Nennung gab es bei der Benachteiligung wegen des Alters bei der Arbeitssuche, wo immerhin 8 Prozent der Befragten zustimmten.
Die Zahlen scheinen zu beruhigen: Wirklich massive Benachteiligungen scheint es nicht zu geben.
Aber tatsächlich machen sie erst einmal skeptisch, weil der Rahmen fehlt. Der würde zum Beispiel lauten: Haben Sie schon einmal das Gefühl gehabt, benachteiligt zu werden? Oder: Fühlen Sie sich in unserer Gesellschaft so, wie Sie sind, jederzeit anerkannt? Der Fragebogen hat sich hingegen gleich in die konkrete Verortung von Benachteiligungen gestürzt.
Und da denkt man an den ganzen Frust, der sich derzeit zum Beispiel in den „sozialen Medien“ austobt, und fragt sich: Woher kommt das, wenn diese Menschen nicht permanent das Gefühl haben, benachteiligt zu sein? Denn dieses Gefühl tragen sie ja sichtlich auch bei Wahlen zu Markte. Aber irgendwie tauchen sie in dieser Umfrage nicht auf. Füllen Sie auch keine Fragebögen aus? Oder verbinden Sie ihren persönlichen Frust nicht mit diesen Fragen? Gehen die Fragen am eigentlichen Thema vorbei?
Zumindest ist die Sensibilität da. Was beim Behördengang besonders deutlich wird, wo das Gefühl der Benachteiligung bei allen Jahrgängen (außer den Senioren) besonders hoch ist: zwischen 24 und 30 Prozent haben sich dort schon einmal benachteiligt gefühlt.
Dass der Fragenkatalog möglicherweise nicht ausreicht, wurde dann auch den Statistikern deutlich, als die Befragten auch noch zusätzliche Merkmale angaben, deretwegen sie diskriminiert wurden: Bildungsstand, Erscheinungsbild, Kinderlosigkeit, Alleinerziehendenstatus oder gar die Einkommenssituation. Was dann wohl unsere Gesellschaft ganz auf den Punkt bringt: Denn schon das (niedrige) Einkommen an sich ist ja eine Benachteiligung – wenn man dafür dann auch noch extra benachteiligt wird, wird die Diskriminierung erst recht spürbar und der Versuch, gesellschaftlich teilzuhaben, zur immer wiederkehrenden Frustration.
Das wäre mal ein Grund, nachzufragen. Wenn man die Frustrierten mit Fragebögen noch erreicht.
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