Ganz so überraschend klang die Nachricht nicht, die das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung am Montag, 12. Juni, in die Welt schickte: „Hohes Alter, aber nicht für alle. Wie sich die soziale Spaltung auf die Lebenserwartung auswirkt“. Man denkt an Deutschland. Aber man irrt. Das Berlin-Institut hat die ganze Erde im Blick. Und die Zukunft. Die könnte von Methusalems bevölkert sein. Eigentlich ein Horror.

Aber die Menschheit hat in den vergangenen 200 Jahren ihren Lebensstandard so gesteigert, dass immer mehr Menschen gerade in den Industrienationen ein Alter erreichen, das selbst für ihre Eltern- und Großelterngeneration noch utopisch war.

Beigetragen haben dazu die bessere Nahrungsversorgung, die bessere Hygiene, aber auch der Rückgang der großen Seuchen.

Seit gut einem Jahrhundert steigt die globale mittlere Lebenserwartung. Die Studie zitiert auch die üblichen Optimisten, die bis zu 150 Lebensjahre für möglich halten. Das Problem dieser Optimisten ist, dass sie nicht darüber nachdenken, was die Menschen mit dieser geschenkten Lebenszeit eigentlich anfangen sollen, wie lange sie fit genug für ein selbstständiges Leben sind und vor allem: Wer das alles bezahlen soll. Denn unser Gesundheitssystem wird ja vor allem immer teurer, weil gerade die gesundheitliche Behandlung alter Menschen besonders kostenintensiv ist.

Um 1900 betrug die mittlere Lebenserwartung der Menschheit geschätzt 30 Jahre. Heute ist sie bei einem Durchschnitt von rund 71 Jahren angelangt – ein Zugewinn an Lebenszeit von etwa dreieinhalb Jahren pro Jahrzehnt. Frauen in Japan, die weltweiten Spitzenreiterinnen, kommen heute im Mittel auf fast 87 Jahre. Und Hochrechnungen zufolge könnten südkoreanische Mädchen des Geburtsjahrganges 2030 sogar über 90 Jahre alt werden.

Auf den ersten Blick sieht das nach einem ungebrochenen Aufwärtstrend aus, so das Berlin-Institut. Selbst wo er zwischenzeitlich stagnierte oder sogar zurückging, etwa in den 1990er Jahren durch die HIV/Aids-Epidemie in Afrika und Asien, ist ein Aufholprozess zu beobachten. In den Industrieländern beruht der stetige Anstieg der Lebenserwartung wesentlich darauf, dass sich durch moderne Medizin und Prävention die Überlebenswahrscheinlichkeit für die hohen Altersgruppen immer weiter erhöht hat.

Doch es gibt Hinweise, dass ein biologisches Limit erreicht sein könnte. Hinzu kommt, dass die Gesundheitssysteme infolge der Alterung an finanzielle Grenzen stoßen werden.

Und wo es um Geld geht, beginnt auch bei der Lebenserwartung das Auseinanderdriften von Arm und Reich.

Die Entwicklungen, die zumindest regional beziehungsweise in bestimmten Schichten der Gesellschaft den Anstieg der Lebenserwartung bremsen, sind längst sichtbar. So können neugeborene Jungen im wohlsituierten bayerischen Landkreis Starnberg mit rund acht Jahren mehr Lebenszeit rechnen als ihre Geschlechtsgenossen in der ehemaligen Schuhmachermetropole Pirmasens in Rheinland-Pfalz. In den USA liegen sogar rund 20 Jahre zwischen dem Bezirk (County) mit der höchsten und jenem mit der niedrigsten mittleren Lebenserwartung.

„Viele Studien belegen, dass zwei Faktoren entscheidend sind für gesundheitliche Ungleichheit und damit das Risiko, vorzeitig zu sterben: der Sozialstatus und das Bildungsniveau“, sagt Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.

Je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher die subjektiv erlebte Stressbelastung, interpretiert es das Berlin-Institut. Auf Dauer fördert dieser Lebensstress die Entstehung von körperlichen Erkrankungen, Depressionen und anderen psychischen Störungen. Hinzu kommt, dass Risikofaktoren für die Gesundheit wie Bewegungsmangel, Übergewicht und Rauchen in Gruppen mit niedrigem Sozialstatus überproportional häufig vorkommen.

„Gesellschaft und Politik müssen aktiv werden, um diese Ungleichheiten zu verringern“, zieht das Berlin-Institut sein Fazit der Studie. Zumindest in der Pressemitteilung dazu.

Denn im Kapitel „Was tun?“ kommt es zu einem wesentlich differenzierten Fazit, einem, das Politiker und Rentner nicht gern hören. Denn die fortwährende Verlängerung des Lebens macht einfach keinen Sinn, wenn die zusätzlichen Jahre nicht mit Inhalt gefüllt sind.

Das taucht als letzter und neunter Punkt erst auf, Zeichen genug, dass auch die Autoren des Berlin-Instituts noch nicht wirklich erst nehmen, worum es geht.

„Wo ‚70 das neue 60‘ ist, wird die hergebrachte Altersgrenze 65 obsolet“, heißt es dort. „Umdenken ist also nötig. Dabei könnte ein Gedankenspiel helfen, das Wissenschaftler berechnet haben: Unter der Annahme, dass die Lebenserwartung weiter wächst und als Maßstab für Alter anstelle der festen Größe 65 die jeweils durchschnittlich verbleibenden 15 Lebensjahre gelten würden, verschöbe sich die Phase des Alters stetig nach oben. Die Alterung der Gesellschaft würde langsamer ausfallen. Die herkömmliche Dreiteilung des Lebens in Ausbildung-Arbeitsphase-Ruhestand lässt sich nicht aufrechterhalten. Erstens erfordern die Umbrüche in der Arbeitswelt lebenslanges Lernen, zweitens macht es der Mangel an Nachwuchs nötig, dass Ältere länger im Arbeitsleben bleiben als bisher, und drittens lassen sich die Renten langfristig nur mit höheren Ruhestandsgrenzen finanzieren. Die Menschen werden künftig länger arbeiten, aber die Arbeit stufenweise ausklingen lassen. Und die Politik muss planen, um die Gesundheits- und Sozialsysteme zukunftsfest zu machen, den wachsenden Bevölkerungsanteil älterer Menschen unterstützen und die Renten sichern zu können.“

Das betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft: denn das braucht Arbeitsumgebungen, die auch mit 67 und 70 noch sinnvoll sind. Und es braucht Angebote für Weiterbildung und Prävention. Und es braucht ein ganz anderes Augenmerk auf das kognitive Training der Betroffenen. Denn was in den reinen Alterszahlen nicht ablesbar ist, sind die gravierenden Probleme mit Demenz und geistiger Verkrustung der Alten, gerade jenen, die nie gelernt haben, sich geistig fit zu halten und die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns bis ins hohe Alter zu erhalten.

Bildung ist ein Weg – auch zur bewussteren Gestaltung des Lebens und zu längerer Fitness des Körpers. Bildung, die sich ärmere Schichten auch im reichen Westen oft nicht leisten können. Entsprechend ungesund ist ihr Leben – mit allen fatalen Folgen der sogenannten Zivilisationskrankheiten. Das Beispiel Adipositas wird erwähnt. Die geistige Verdummung durch die üblichen Massenmedien gehört ebenfalls dazu. Sie gewöhnt Menschen an das immobile Dasein als Konsument, stellt sie als engagierter Teil der Gesellschaft regelrecht ruhig.

Natürlich ist das ein krankhafter Zustand. Wenn die Betroffenen in der Klinik aufschlagen, ist in der Regel nichts mehr zu ändern. Die Weiche für diese Immobilität wird in frühen Jahren gelegt. Und sie erzeugt Menschen, die schon in jungen Jahren wie Greise funktionieren. Im hohen Alter, wenn das Gehirn längst verkalkt ist, natürlich erst recht.

Was nutzt uns eine Welt voller Greise, die nicht mal mehr verstehen, wie die Welt ist?

Die Studie des Berlin-Instituts kratzt tatsächlich nur an der Oberfläche. Und solange sich unser Denken über die geistige Fitness der Menschen auch im höheren Alter nicht ändert, kann man all die Steigerungsraten der Altersgrenzen nur als Katastrophe für jede Gesellschaft betrachten. Auch vor dem Hintergrund, dass diese Greise schon allein aufgrund ihrer Zahl die Politik dominieren werden.

Und es werden lauter Wohlstandsgreise sein, denn die Malocher und Abgehängten, die sterben ja im Schnitt 6 bis 9 Jahre früher, manche am Suff, manche am Krebs, manche einfach, weil sie nach 70 Jahren Warten auf irgendeine Bonifikation für ihren Einsatz schlichtweg jede Hoffnung verloren haben.

Fazit: Guter Ansatz. Zu kurz gesprungen.

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