Noch immer wundern sich etliche Journalisten in Deutschland: Wie kann dieser Martin Schulz, indem er die „Agenda 2010“ kritisiert und von Gerechtigkeit redet, so viel Zuspruch bekommen, dass er ein ernsthafter Kanzleraspirant ist? War die „Agenda“ nicht das Wundermittel, das Deutschland wieder wettbewerbsfähig gemacht hat? Auf wessen Kosten eigentlich, fragt die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Susanne Schaper.

„Es gibt Zufälle, die bei genauerem Hinsehen gar keine sind. Erst gestern warf die EU-Kommission der Bundesregierung vor, mit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik Armut zu fördern. Einen Tag später erhalten wir von der Staatsregierung einen weiteren beweiskräftigen Beleg. Die anhaltend hohe Zahl von Widersprüchen und Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide stellt den Zusammenhang von Regierungspolitik und Armutsentwicklung dar“, stellt die Linke-Abgeordnete fest.

Denn die Klagen gegen die Jobcenter reißen nicht ab.

Es wird gegen gewährte Kosten der Heizung und der Unterbringung geklagt, gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheide. Und die Klagenden haben oft Erfolg. Die Sozialgerichte sind längst erfahren damit, viele Entscheidungen der Jobcenter zu kassieren, weil sie in die Rechte der Betroffenen eingreifen und ihnen oft auch das Lebensminimum beschneiden.

Und viele der Betroffenen sind mittlerweile auch psychisch zerrieben in einem sturen Verwaltungsapparat, der gerade denen, die er laut Peter Hartz einst aus der Bedürftigkeit holen sollte, nicht hilft. Selbst der scheidende Arbeitsagentur-Chef Frank-Jürgen Weise forderte jetzt eine grundlegende Änderung, einen „subventionierten Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose“, im Grunde ein System geförderter Stellen, wie es das bis 2005 gab. Bevor Peter Hartz und Genossen das System nach neoliberalem Muster umkrempelten und diese Stellen wegrationalisierten.

„Der zwischenzeitliche wirtschaftliche Aufschwung kommt insbesondere bei den Langzeitarbeitslosen nicht an. Obwohl sich deren Zahl wegen Frühverrentung und statistischer Trickserei verringert hat, ging die Zahl der Widersprüche gegen entsprechende Bescheide von 74.576 im Jahr 2013 lediglich auf 59.828 im vergangenen Jahr zurück“, benennt Schaper die Zahlen für Sachsen. „Bei den Klagen vor sächsischen Sozialgerichten gab es beim Bestand anhängiger Verfahren faktisch überhaupt keinen Rückgang. So waren 2016 noch fast 20.000 Harz-IV-Klagen anhängig. Bei den erledigten Verfahren hatten die Betroffenen in mehr als einem Drittel der Fälle ganz oder teilweise obsiegt. Rechnet man die Zahl der im Sinne der Beschwerdeführer abgeholfenen Widersprüche hinzu, so wurde letztlich weit mehr als der Hälfte der Anliegen entsprochen. Im Umkehrschluss heißt das allerdings nicht, dass nicht angegriffene Bescheide in jedem Falle rechtens waren.“

Die hohe Zahl der Klagen zeigt aber auch, dass die Jobcenter ganz und gar keine lernfähigen Systeme sind. Denn oft genug müssen sie im Sinn ihrer Träger ganz amtlich dafür sorgen, dass die Kosten mit allen Mitteln gedrückt werden. Was in einem System, das Betroffenen eigentlich gesetzliche Standards gewährt, nicht geht – außer durch Streichungen und Kürzungen an allerlei Positionen, die die Betroffenen nicht gegenfinanzieren können.

Ein unsinniges System. Und im Effekt ein Teil der Misere, die einen großen Teil der Bevölkerung immerfort in Schleifen der Armut gefangen hält.

„Es zeigt sich erneut: Wer sich wehrt, ist immer auf der richtigen Seite. Zwar gibt es derzeit keine Massenproteste wie in Zeiten der Entstehung von Hartz IV, aber auch Widerspruch und Klage sind keinesfalls zu unterschätzende Widerstandsformen“, findet Schaper. „Den bis heute agierenden Befürwortern der Agenda 2010 und ihres Kernstücks Hartz IV – in allen Parteien außer der Linke – sei ins Stammbuch geschrieben: Es geht nicht um Kinderkrankheiten der Regelungen, die lange ausgemerzt sein müssten. Das ganze Hartz-System ist krank und gehört abgewickelt!“

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Hartz IV ist ja nur die Spitze des Eisbergs! Es geht weiter, man kann viele Beispiele nennen: Privatisierung der Autobahnen und Schulen, siehe “Die Anstalt” im ZDF vom 4. April 2017 (nachzuschauen in der Mediathek), so sollen uns noch vor der Wahl verschiedene Dinge untergeschoben werden, die meisten merken es sowieso nicht, haben kein Interesse, was in Deutschland und der Welt passiert!

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