Leipziger Quartalsberichte sind auch kleine Knobelaufgaben. So beschäftigt sich Andrea Schultz im jüngsten Quartalsbericht der Stadt (Nr. IV / 2016) mit der Bevölkerungprognose, die im Frühjahr 2016 derart für Furore sorgte. Immerhin schienen danach bis zum Jahr 2030 sage und schreibe 721.000 Menschen in Leipzig leben zu können. Die hektische Betriebsamkeit in der Verwaltung kam postwendend.
Denn bislang galt die Bevölkerungsvorausschätzung von 2013. Danach hielten Leipzigs Statistiker gerade einmal 600.000 Einwohner bis zum Jahr 2032 für realistisch. Aber diese Zahl wird Leipzig wesentlich früher erreichen. Das ist sicher.
Das Problem ist nur: Wie kann man eine Bevölkerungszahl 14 Jahre im Voraus berechnen, wenn man binnen kurzer Zeit zu so gravierenden Unterschieden kommt?
Zwischenzeitlich hat ja auch das Statistische Landesamt seine Prognose für Sachsen, die Kreise und die Kreisfreien Städte vorgelegt. Die hat genauso ihre Tücken. Man möchte fast sagen: spiegelbildliche Tücken. Die Kamenzer Statistiker halten die Stabilisierung der Bevölkerungszahl in Sachsen in den letzten drei Jahren für einen vorübergehenden Effekt und sehen das Land ab den 2020er Jahren wieder in die Abwärtsspirale bei der Bevölkerungszahl gehen.
Also dahin, wo es die regierende CDU schon die ganze Zeit gehen sieht, ohne einen sichtbaren Willen, daran irgendetwas zu ändern.
In der Prognose der Landesstatistiker könnte Leipzig noch auf 617.700 Einwohner kommen bis zum Jahr 2030.
Aber die Zahl lässt schon ahnen: In Kamenz traut man der Zugkraft der großen Städte überhaupt nicht.
Dass freilich die Leipziger Prognose von 2016 doch ein bisschen zu optimistisch war, das diskutiert Andrea Schultz anhand der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung von 2016. Am Jahresende hatten 579.530 Personen ihren Hauptwohnsitz in Leipzig. Das waren 11.684 mehr als im Dezember 2015. Eigentlich eine beachtliche Zahl. Damit rangierte Leipzig wieder an der Spitze der deutschen Großstädte, die fast alle wachsen derzeit. Der Trend zur Metropole ist überall im Gang. Immer mehr junge Leute erwerben höhere Bildungsabschlüsse. Was ja konservative Politiker immerfort beklagen. Sie wollen das nicht.
Aber wenn man allein die Prognose zum Fachkräftebedarf der IHK anschaut, dann sieht man: Auch die Wirtschaft verlangt immer mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte. Immer mehr Berufsfelder sind computerisiert. Immer mehr Berufsprofile haben ein Hochschul- oder Fachschulstudium zur Grundlage.
Man kann nicht Jahr um Jahr eine Politik gegen die grundlegenden Trends machen. Und trotzdem versucht es die CDU in Sachsen nun seit über 10 Jahren.
Das Ergebnis sind unberechenbare Zustände.
Haben sich nun Leipzigs Statistiker verrechnet 2016?
Nicht unbedingt. Auch wenn die tatsächlich am Jahresende erreichte Bevölkerungszahl um 4.564 unter der Hauptvariante der Prognose lag. Rechnet man die 4.565 auf die tatsächlich erreichten 11.684, dann ist man sofort wieder bei den 15.000, 16.000 an Zuwächsen, die Leipzig in den letzten Jahren erreichte. Gerade im Jahr 2015 waren darunter über 4.000 Flüchtlinge, die die Stadt aufgenommen hat.
Das war wohl der wichtigste Faktor, der die Prognosen verzerrte. Denn die Statistiker gingen davon aus, dass die Flüchtlingszahlen auch 2016 so hoch bleiben würden. Sie haben nicht damit gerechnet, dass der faule Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, fast sofort dazu führen würde, dass die Flüchtlingszahlen deutlich nach unten gingen. Der Bürgerkrieg in Syrien ist ja nicht gestoppt. Im Gegenteil. Immer mehr Städte werden zerstört, immer mehr Menschen hängen am Rand des Bürgerkrieges fest. Aber der Weg nach Europa ist ihnen versperrt.
Und eine belastbare Einwanderungspolitik hat Deutschland bis heute nicht. Niemand kann also einen stabilen Zustrom von Ausländern in die Bevölkerungsprognosen einrechnen. Die Bundesstatistiker tun es übrigens trotzdem, weil sie ganz einfach davon ausgehen, dass in einer derart instabilen Welt wie der unseren auch künftig Millionen junge Menschen versuchen werden, im stabilen Deutschland eine Zukunft zu finden. Und alle Signale aus der Wirtschaft sagen: Die Unternehmen werden diese Leute mit Kusshand nehmen, erst recht, wenn sie gut ausgebildet sind.
Die verkniffene sächsische Vergreisungs-Politik macht also keinen Sinn. Sie ist weltfremd. Und vor allem demoliert sie die Wettbewerbsfähigkeit des Landes.
Und es kommt hinzu: Die drei Großstädte sind die eigentlichen Zukunftsmotoren des Freistaats. Wenn der nicht wirklich einmal richtig zielgerichtet in die Metropolstrukturen investiert, sorgt er schlicht durch Unterlassung für einen Verlust an BIP in Milliardenhöhe.
Dass die Zeigerausschläge durch das Flüchtlingsjahr 2015 in Leipzig die Prognose besonders stark verzerrten, wird auch auf Ortsteilebene deutlich: Jene Ortsteile, in denen besonders große Gemeinschaftsunterkünfte existierten (Mitte, Seehausen) haben bei der Bevölkerungsentwicklung deutlich Verluste gemacht. Es gab aber auch Ortsteile, die deutlich überdurchschnittlich wuchsen – wie Grünau-Mitte, Lindenau und Volkmarsdorf.
2016 kam auch noch ein Effekt der Registerbereinigung hinzu. Rund 2.400 Leipziger mussten aus den Registern entfernt werden, weil sie ihren Hauptwohnsitz nicht mehr hier hatten. Registerbereinigungen wirken wie Rechenfehler, die weitere Rechenfehler nach sich ziehen. Denn meist sind es junge Leute, die einfach vergessen haben sich abzumelden. Ergebnis: Auf einmal fehlen ein paar hundert junge Frauen, mit denen die Statistiker fest gerechnet haben. Wenn aber junge Frauen fehlen, sinkt logischerweise die Zahl der zu erwartenden Geburten. „Um gut 200 wurde die Zahl der Geborenen überschätzt“, schreibt Andrea Schultz.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man über 15 Jahre jedes Jahr mit 15.000 zusätzlichen Einwohnern rechnen kann – was dann eben aus 570.000 im Lauf dieser Jahre am Ende sogar fast 800.000 machen würde – oder nur mit 10.000. Wobei 10.000 ein sehr guter Schnitt sind im bundesweiten Vergleich. Die 10.000 würden dann die 720.000 ergeben.
Die Landesstatistiker gestanden Leipzig nur 3.000 zusätzliche Einwohner pro Jahr zu. Obwohl sie mit ähnlichen Datensätzen arbeiten – Zuzügen, Wegzügen, Sterbe- und Geburtenraten. Aber schon da beginnt die Unsicherheit: Wie hoch wird die Fertilitätsrate pro Frau sein? 1,48 Kinder, wie die Leipziger Statistiker rechneten? Oder nur 1,47, wie es 2016 tatsächlich wurden?
Man horcht dann auf die derzeitige politische Diskussion, was unsere hochweisen Parteigranden alles für „Familien“ im Wahlkampf ankündigen. Aber mehr als Geschenke für die immer gleiche sowieso gut verdienende Schicht werden das auch diesmal nicht. Man merkt, dass den Herren im Anzug das Thema Kinderkriegen völlig fremd ist. Sie versuchen alles aus ihrer Geldbörse abzuleisten, blenden aber die Grundbedingungen für Familiengründungen völlig aus.
Da sollte man dann wohl wirklich lieber mir 1,47 rechnen. Und mit ländlichen Räumen ringsum, die sich immer weiter entleeren. Und mit einer Regierung in Sachsen, die nur ans Aussterben und Vergreisen denkt.
Das dämpft die Erwartungen.
Die Leipziger Zahlen zeigen aber auch, dass Leipzig seinen Zuwachs eben nicht nur aus Sachsen generiert. Die Zuwachsrate wird sich also mit Sicherheit oberhalb der Prognose der Landesstatistiker ansiedeln.
Ob sie ab 2020 auf Werte um die 10.000 und darunter abfällt, wird man sehen. Vor allem bei den Zuzügen sehen Leipzigs Statistiker irgendwann einfach die Quellen im Hinterland versiegen.
Die 2016er Kurve jedenfalls lag erst einmal unter der untersten Prognosevariante, die für 2030 etwas über 670.000 Einwohner für Leipzig verhieß.
Bleiben die 700.000 also ein Traum?
Nicht unbedingt. Vieles hängt davon ab, ob Sachsen aus seiner Lethargie erwacht und wieder auf Zukunft umschaltet und eine Politik macht, die Trends unterstützt und nicht überall mit aller Macht ausbremst.
In eigener Sache: Lokaler Journalismus in Leipzig sucht Unterstützer
https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/04/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108
Es gibt 4 Kommentare
Weil der Zuzug, sofern dies die Gegebenheiten (Wohnen, Verkehr, Infrastruktur) zulassen, erst einmal nichts Schlechtes ist. Sie versuchen einfach im Wort Traum eine Wertung zu lesen, die nicht gemeint ist. Die Frage, ob es ein Alptraum wird, liegt eher an obigen Gegebenheiten oder deren Fehlen. Letzteres kann auch zu einem Anstieg der Abwanderung führen …
Wenn der “Traum” eine Bedeutung hat, dann doch eher für die, welche den Wert des Lebens in einer Stadt offenbar mit schierer Menge verwechseln. Zur 560.000 (korrekter sind 580.000): Warum wäre Stillstand besser? Und wie sollte er erreicht werden? Mauerbau um Leipzig & Einreiseverbote, absichtlichen Verschlechterung der Wohnungssituation, ÖPNV-Stopp und Schließung der Uni? 😉
Dann hätte die Frage auch lauten können:
“Bleiben 560000 Einwohner ein Traum? “?
Und, warum lautete sie dann nicht so?
Lieber Olaf, es ist wohl weniger als “positiver” Effekt, sondern einerseits als schlichtes Einsehen in ein gewisses Stattfinden und andererseits zudem wertneutral gemeint.
Mit anderen Worten: Die Menschen ziehen einfach nach Leipzig, weil Leipzig schön (wachsend usw.) ist und andererseits ergeben sich damit Probleme – wie es im Artikel anklingt. So manchen freut das Wachsen der Stadt, andere weisen auf die Probleme hin, die dadurch zu lösen sind.
Für manche sind “700.000” ein Alb -Traum.
Hier wird “Traum” als Synonym für “etwas” Positives verwandt. Die vermeintlich positiven Aspekte, die sich aus einer schlichten Zahl ergeben sollen, bleiben dem Leser jedoch verborgen.