Wenn Statistiker sich Zahlenberge etwas genauer anschauen, dann kommt zuweilen Unerwartetes dabei heraus. Da erscheinen nun alle drei Monate Quartalsberichte in Leipzig, jedes Jahr ein dicker Jahresbericht. Aber oft kann man in so kurzen Zeiträumen gar nicht wahrnehmen, welche tektonischen Verschiebungen in einer Stadt wie Leipzig passieren.
Noch vor zwölf Jahren diskutierte Leipzig über die Wohnsituation in der Südvorstadt. Auf einmal ploppten da so Themen auf wie vergebliche Wohnungssuche, steigende Mieten, fehlende Kita-Plätze. Das war ärgerlich. Auf einmal war der seit 15 Jahren so beliebte Süden voll! Dilemma! Katastrophe!
Aber die einen jammern, die anderen suchen neue Freiräume. Erst aus der zeitlichen Distanz merkt man, mit welchem Tempo das in Leipzig passierte. Vor sieben Jahren wurde das Thema in Schleußig diskutiert, die Leute zogen weiter nach Plagwitz und Lindenau. Da sind jetzt dieselben Themen heißgekocht. Die Leute ziehen weiter. Die jungen Leute vor allem, die noch keine Wurzeln geschlagen haben. Manche brechen sogar früher auf als andere, weil sie den Braten riechen.
Und da kommen die Statistiker des Amtes für Statistik und Wahlen ins Spiel. In diesem Fall Andreas Martin, der die Leipziger Bevölkerungsentwicklung auch mal wieder auf Ortsteilebene betrachtet hat. Und zwar nicht nur über ein Jahr, sondern über fünf. Fünf Jahre – das ist der spannende Zeitraum, der sichtbar macht, wie sich die Karawane der Pioniere auf den Weg gemacht hat.
Denn wenn so ein Aufbruch passiert, dann stechen über einen etwas längeren Zeitraum jene Ortsteile besonders hervor, die von den jungen Leuten gerade neu entdeckt wurden. Das wird zwar nicht mehr lange so sein. Künftige Demografen werden das statistische Material aus Leipzig mit Staunen begutachten. Denn es beschreibt über den Zeitraum 2000 bis 2016 mittlerweile sehr bildhaft, wie aus einer schrumpfenden Stadt („shrinking city“) eine wachsende Stadt wurde. Und zwar eine, in der der Wohnungsbau nicht mit anzieht, weil zehn Jahre lang alle möglichen Leute glauben, der Leerstand würde das schon alles auffangen.
Aber wenn der Leerstand schrumpft, zwingt das gerade die jungen, finanzschwächeren Haushalte frühzeitig zum Umzug.
In diesem Fall sogar fast gleichzeitig. Denn Plagwitz und Lindenau waren noch gar nicht richtig voll, da sorgten die Wohnungsmarktsignale schon dafür, dass die Nächsten wieder aufbrachen.
Deswegen gehören die beiden jüngsten Pionierortsteile Plagwitz und Lindenau zwar zu den am stärksten wachsenden Ortsteilen mit 20,8 und 28,4 Prozent, Altlindenau mit 28 Prozent – aber mit diesen Zuwächsen über fünf Jahre liegen sie gar nicht an der Spitze der Ortsteile. Denn mit über 10.000 neuen Leipzigern jedes Jahr ist der Druck auf den Wohnungsmarkt mittlerweile so groß, dass junge Leute – egal, ob Studierende, Migranten, Künstler oder junge Familien – auch im Leipziger Westen immer seltener fündig werden.
Das Ergebnis ist: Die Ortsteile mit dem höchsten Wachstum in den vergangenen fünf Jahren waren Neustadt-Neuschönefeld (31 Prozent) und (wohl der absolute Geheimtipp in der Zeit) Volksmarsdorf mit 49,1 Prozent. Volkmarsdorf hat sich nach den Daten der Leipziger Statistiker auch zu einem beliebten Studentenwohnort entwickelt.
Möglicherweise hat Volkmarsdorf jene Nachfrage abgedeckt, die in Reudnitz nicht mehr befriedigt werden konnte, das sich vor fünf Jahren zu einem beliebten Studi-Ortsteil gemausert hat.
Bei Reudnitz war nie die Rede davon, dass es ein sogenanntes Boom-Viertel gewesen wäre. Es gibt eine Reihe solcher Ortsteile in Leipzig, die keine derart explosive Entwicklung hingelegt haben wie die oben genannten Pionier-Viertel, wo auch engagierte Akteure immer wieder dafür sorgten, dass auch die Themen der Verdrängung und Gentrifizierung öffentlich ins Gespräch kamen.
In Reudnitz?
Nie.
Reudnitz-Thonberg hat in den fünf Jahren ebenfalls ein Bevölkerungswachstum von 16,7 Prozent erlebt. Das ist so ein Leipziger Mittelwert. So wie im benachbarten Stötteritz (13,5 Prozent) in Möckern (15,4 Prozent) oder Wahren (16,7 Prozent).
Vielleicht hätte die Stadtpolitik mehr Ortsteile wie Lindenau gebraucht, mehr Remmidemmi in Internetforen und auf der Straße. Denn augenscheinlich muss irgendjemand erst laut werden, bis ein Thema tatsächlich die Aufmerksamkeit der Politik bekommt. Denn was im Leipziger Westen mit viel Knirschen im Gebälk passiert, geht im Leipziger Osten fast lautlos über die Bühne. Die Leute ziehen ein, der Ortsteil füllt sich, der Leerstand schrumpft.
Und dann gibt es immer öfter das Problem, dass jene, die dringend ein bezahlbares Plätzchen suchen, auf einmal keinen „luftigen“ Ortsteil mehr finden. Denn auch andere Ortsteile im Osten haben sich in aller Stille gefüllt: Anger-Crottendorf hat ein Plus von 17,8 Prozent hingelegt, Sellerhausen eines von 17,4 Prozent.
Dass Volkmarsdorf einen Wert über 40 Prozent hingelegt hat, liegt daran, dass es hier noch bis 2015 einen überdurchschnittlich hohen Leerstand gab. Allein von 2014 zu 2015 wuchs die Bevölkerungszahl von 9.937 auf 10.991. Für 2016 meldet der Ortsteil 11.858 Einwohner. Natürlich spielen auch Migranten mit einem Anteil von 41,8 Prozent eine Rolle. Der Wert ist mittlerweile höher als in Neustadt-Neuschönefeld (35,9 Prozent).
Man ahnt, dass die Stadt gut beraten ist, ihre Integrationsprogramme im Leipziger Osten auszuweiten – weit über die Eisenbahnstraße hinaus.
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