So ein wenig ließ sich Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich ja am 19. Februar in seine Gedankenwelt schauen, als er der FAZ erklärte, wie er die ostdeutsche Wirtschaft sieht. „Der Osten wird eklatant benachteiligt“, war der Artikel auf faz.net betitelt. Und zu seinem Spezialthema Braunkohlewirtschaft nahm Tillich auch Stellung. Die sei viel zu wichtig für die sächsische Wirtschaft, deutete er an.

„Zugleich forderte er aber auch von der Bundespolitik, dem Osten nicht noch zusätzliche Steine in den Weg zu legen, etwa mit der Forderung nach einem schnelleren Braunkohleausstieg“, heißt es im Artikel. „So vergäben in der strukturschwachen Lausitz Braunkohleunternehmen Aufträge über 700 Millionen Euro im Jahr, was deutlich mehr sei als die jährliche EU-Strukturförderung für ganz Sachsen.“

700 Millionen Euro? Das wäre schon eine ordentliche Größe. Aber woher hat er die Zahl? Und was bedeutet sie?

Die Zahl stammt aus einer Meldung des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall, der bis zum Sommer 2016 die Tagebaue und Kohlekraftwerke in der Lausitz betrieb. Mittlerweile hat er die komplette Lausitzer Braunkohlestruktur an den tschechischen Investor EPH verkauft, der daraus das neue Unternehmen LEAG geformt hat.

Vattenfall war auch selbst nie unbescheiden, wenn es seine Engagements angepriesen hat. In der Meldung von 2014, aus der die Zahl stammt, heißt es: „Etwa 4.400 Partner-Unternehmen mit einem Gesamtauftragsvolumen von 1,2 Milliarden Euro haben 2014 von der Geschäftstätigkeit der Vattenfall Europe Mining AG und der Vattenfall Europe Generation AG profitiert. Daran waren allein 785 Firmen in Brandenburg mit einem Gesamtumsatz von 500 Millionen Euro beteiligt. In Sachsen waren es 846 Firmen mit einem Anteil von insgesamt 203 Millionen Euro.“

Wer die Zahl zusammenrechnet, kommt auf die von Tillich erwähnten 700 Millionen Euro, genauer: 703 Millionen.

Aber das ist nicht alles Geld, das in die Braunkohlesparte in der Lausitz floss. Das hatte Vattenfall selbst noch konkretisiert: „Wesentlichen Anteil daran hatten die Investitionen von Vattenfall in die Instandhaltung und Modernisierung seiner Betriebsstandorte in der Lausitz und in Mitteldeutschland. Das waren im vergangenen Jahr insgesamt 246,3 Millionen Euro im Bergbaubereich und 192,5 Millionen Euro im Bereich der Energieerzeugung. Für das Jahr 2015 sind Investitionen von jeweils 316 Millionen Euro für Tagebaubereich und 66,7 Millionen Euro an den Kraftwerksstandorten geplant.“

Die Zahl reduziert sich also für 2014 auf 439 Millionen Euro und 2015 auf 383 Millionen Euro.

Der größte Teil davon in Brandenburg und höchstens die erwähnten 203 Millionen Euro in Sachsen. Und zwar für Bergbau und Kraftwerke zusammen.

Tillich hat es mit der EU-Strukturförderung verglichen. Aus diesem Fonds erhält Sachsen in den Jahren 2014 bis 2021 insgesamt 2,8 Milliarden Euro, im Schnitt also 400 Millionen Euro im Jahr.

Stanislaw Tillich hat also ein wenig getrickst, als er die Vattenfall-Investitionen für die gesamte Lausitz mit der EU-Strukturförderung für Sachsen allein verglich.

Wie verhalten sich die jährlichen Braunkohleinvestitionen aber zu den Gesamtinvestitionen in der sächsischen Wirtschaft?

Ein Blick in die sächsische Statistik zeigt, dass die Zahlen dort noch weiter zusammenschnurren.

Zwischen 2,5 und 4,6 Milliarden Euro investierten sächsische Unternehmen in den vergangenen Jahren. Mit erheblichen Schwankungen. Der Löwenanteil entfiel dabei stets auf das Verarbeitende Gewerbe. „Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden“ taucht in den Statistiken von 2008 bis 2015 stets nur in Größenordnungen zwischen 87 und 142 Millionen Euro auf. Der letzte offiziell angegebene Wert stammt aus dem Jahr 2013 mit 109 Millionen Euro – für die komplette Bergbausparte in Sachsen, den Kohlebergbau mit inbegriffen. Das sind etwas über 3 Prozent der gesamten wirtschaftlichen Investitionen von 3,33 Milliarden Euro in diesem Jahr.

Das ist die reale Größenordnung, um die es in Sachsen geht – nicht 700 Millionen Euro, sondern eher 100 Millionen. Plus möglicherweise noch 100 Millionen für die Kraftwerke – aber das weist die Statistik des Landesamtes nicht aus.

Was immer noch eine nicht zu vernachlässigende Größenordnung ist. Keine Frage. Denn für die beauftragten Lieferanten und Dienstleister sind das rund 100 bis 200 Millionen Euro Auftragsvolumen im Jahr. Dass man sich darum als Landesregierung sorgt, ist verständlich. Dass man das freilich so hoch ansetzt, wie es Stanislaw Tillich tut, zeugt von einem ziemlich schrägen Blick der sächsischen Staatsregierung auf die sächsische Wirtschaft.

Nur zum Vergleich: Allein die Hersteller von „Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen“ investierten im Jahr 2013 insgesamt 728 Millionen Euro, nachdem sie in den Jahren davor teilweise sogar über 1 Milliarde Euro jährlich investiert haben. Über diese Branche wird kaum geredet, eher noch über die Automobilhersteller, die ebenfalls deutlich mehr investieren als der Bergbau – 2013 zum Beispiel 795 Millionen Euro. Wenn diese Branche in die Krise gerät, tut es dem Standort Sachsen wirklich richtig weh. Dasselbe trifft auf den Maschinenbau zu, der im Jahr 2013 immerhin 340 Millionen Euro investierte.

Wer die wirklich investitionsstarken Branchen in Sachsen sortiert, bekommt eine völlig andere Gewichtung als die, die augenscheinlich der sächsische Ministerpräsident vornimmt.

Wobei das Jahr 2013 in gewisser Weise noch ein Ausnahmejahr war: Die Jahre 2010 bis 2013 waren für sächsische Unternehmen Nachholejahre, mit denen sie die Verzögerungen bei den Investitionen, die durch die Finanzkrise bewirkt waren, nachgeholt haben. Seit 2014 ist wieder eine deutliche Zurückhaltung bei Investitionen spürbar. Was aber an der Rolle der Bergbauinvestitionen im Gesamtgemenge nichts ändert: Der Braunkohlebergbau ist nicht der große Investor, den Stanislaw Tillich in ihm sieht.

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