Was lernt man eigentlich aus der „Migrantenbefragung“, die das Referat für Migration und Integration gemeinsam mit dem Amt für Statistik und Wahlen am Dienstag, 3. Januar, vorstellte? Immerhin die erste ihrer Art in Leipzig. Mit 1.500 Teilnehmern. So viel wusste Stojan Gugutschkow, Leiter des Referates für Migration und Integration, noch nie über seine Schützlinge.

Die man erst einmal erreichen muss, auch wenn sie – wenn man alle zusammenzählt – 13 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen, über 73.000 Menschen. Aber in den üblichen Bürgerbefragungen werden sie nicht separiert. Es schien auch lange keinen Sinn zu machen, die Gruppen von Zuwanderern aus anderen Kontinenten und Ländern extra herauszupicken und so zu tun, als würden sie im Leipziger Allerlei besonders aus dem Rahmen fallen. Das taten und tun sie meistens nur in aufgebrezelten Medienberichten, wo ihre Herkunft skandalisiert wird. Als wenn der Rest der weißhäutigen Mehrheitsgesellschaft schon seit Barbarossas Zeiten in Leipzig leben und brav sein würde.

Was nicht der Fall ist. Weit mehr als die Hälfte aller Leipziger sind Zugezogene. Was natürlich nicht auffällt in so einer Stadt. Moderne Großstädte sind Transiträume. Hier dockt man an, lernt, studiert, gründet vielleicht auch noch Familie und Unternehmen. Viele ziehen dann weiter – zumeist in andere große Städte. Denn die großen Städte dieser Welt sind sich viel ähnlicher als zum Beispiel große und kleine Städte in Sachsen.

Deswegen wird Stojan Gugutschkow bestimmt auch mal wieder ins Grübeln kommen, wie er sein Referat noch einmal umbenennen kann. Früher war er ja Ausländerbeauftragter. Das klang nicht nur ihm zu wertend, also wurde ein Referat für Migration draus.

Aber ist Migration wirklich das treffende Wort? Geht es wirklich nur um Menschen, die dauerhaft ihren Wohnort wechseln und dann irgendwie hier bleiben?

Das trifft ja auch auf die zu- und fortziehenden Sachsen, Bayern und Hessen zu. Aber niemand käme auf die Idee, sie Migranten zu nennen. Das Wort betont also indirekt Unterschiede, die eigentlich in einer globalisierten Welt keine sein dürften.

Trotzdem versucht die Befragung natürlich Unterschiede zu fassen.

Denn nicht jeder Mensch, der nach Leipzig kommt, hat dieselben Start- und Aufstiegschancen.

Das ist wirklich einmal neu in dieser Deutlichkeit. Und hat natürlich damit zu tun, dass Menschen aus „Westeuropa und USA“, wie sie im Bericht sortiert werden, aus völlig anderen Gründen nach Leipzig kommen als etwa Menschen aus „Osteuropa und Kasachstan“: Erstere kommen direkt zum Studium hierher oder zur Übernahme einer attraktiven Tätigkeit. Aber sie kommen auch schon mit völlig anderen Bildungsvoraussetzungen. 94 Prozent haben 11 und mehr Jahre gelernt – das bedeutet in der Regel Abitur und/oder Hochschulabschluss. Damit übernimmt man gut bezahlte Stellungen in der Forschung, der Wirtschaft, der Hochkultur. Noch gibt es da im Westen ja auch keine Gründe, das Land fluchtartig zu verlassen, obwohl sich solche Tendenzen in den USA und England ja abzeichnen.

Es fällt zwar erst einmal auf, dass Menschen aus unterschiedlichen Regionen unterschiedlich lange Bildungswege haben – die Kürzesten haben in der Regel Menschen aus dem Raum „Türkei, Syrien, Irak, Tunesien, Afghanistan, Marokko“. Aber der Vergleich mit den Originaldaten dieser Länder zeigt: Sie sind trotzdem überdurchschnittlich oft zur Schule gegangen. Wobei die Umfrage nicht aufschlüsselt, ob sie schon in den Herkunftsländern länger zur Schule gingen oder sich erst in Leipzig so richtig ins Zeug gelegt haben.

Das ist die kleine Krux an dieser Befragung: Sie macht zwar die Ergebnisse sichtbar, zeigt aber die Integrations-Anstrengungen nicht, die dahinterstecken.

Man kann diese nur ahnen. Denn wer sich auf einen so gravierenden Ortswechsel einlässt, der hat zumindest ein Gefühl dafür, wie anstrengend das Ganze wird – nicht nur die Fahrt, sondern auch das Ankommen. Denn Großstädte sind nicht deshalb Transitorte, weil man da ohne Bildung schnell ein gutes Einkommen findet. Das finden viele Ankömmlinge übrigens nicht, aus verschiedenen Gründen. Einer ist natürlich die (nicht abgeschlossene) Bildung. Denn die wirklich attraktiven Tätigkeiten bekommt man auch in Leipzig nur mit hoher Qualifikation.

Da wäre natürlich schön zu wissen, wie hoch die Investitionen der befragten Menschen in ihre und ihrer Kinder Bildung ist. Denn gerade wer sowieso schon unter prekären Bedingungen sein Ursprungsland verließ, der konzentriert sich in einer Stadt wie Leipzig oft genug darauf, den Kindern die beste Bildung zu ermöglichen – und verzichtet selbst auf Chancen. Die Quote der Erwerbstätigkeit ist bei den Befragten also sehr hoch – auch im Vergleich mit der gesamten Leipziger Bevölkerung.

Einzige Ausnahme sind tatsächlich die Menschen aus dem Gebiet „Türkei, Syrien, Irak, Tunesien, Afghanistan, Marokko“ – was auch damit zu tun hat, dass viele erst in den letzten Monaten in Leipzig ankamen und sich erst einmal die Grundlagen für einen Einstieg in das Erwerbsleben schaffen müssen. Das dauert. Migration ist echte Arbeit. Dazu kommt gerade bei diesen Nationen, dass dort die Aufnahme einer bürgerlichen Erwerbstätigkeit für Frauen eher die Ausnahme ist. Aber es sind nicht nur diese mitgebrachten Standards, die ein Hemmnis sein können.

„Das größte Problem stellt dabei die Sprache dar. 58 Prozent aller Befragten, die Probleme hatten, nennen Sprachprobleme als einen Grund. Am zweithäufigsten wird über Probleme bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen und Berufserfahrung berichtet“, heißt es im Bericht.

Andererseits nehmen viele auch keine Berufsqualifikationen wahr, weil ihnen die Zeit fehlt und andere berufliche oder familiäre Verpflichtungen sie daran hindern. Was interessant wäre, tiefer zu erfragen. Denn hier wird einer der Gründe sichtbar, warum viele Zuwanderer scheinbar in ungenügenden Qualifikationen feststecken – aber trotzdem arbeiten: die Familie und die Zukunft der Kinder gehen vor.

Was schon verblüfft bei den kargen Einkommen, die zum Beispiel Menschen aus „China, Vietnam, Indien“ ausweisen (es sei denn, es waren überdurchschnittlich viele Studierende in dieser Befragtengruppe, das verrät der Bericht leider nicht). Die liegen in der Spanne noch einmal deutlich unter den eh schon nicht üppigen Leipziger Durchschnittseinkommen. Osteuropäer verdienen ein klein wenig mehr, Südeuropäer erreichen fast den Leipziger Durchschnitt – Westeuropäer und Amerikaner liegen aus den erwähnten Gründen drüber.

Aber zu denken gibt die Befragung dennoch. Denn wie viel gesellschaftliche Teilhabe ist eigentlich möglich, wenn die Einkommen vieler Migranten, die schon länger in Leipzig leben, derart niedrig sind? Kann man sich damit in Leipzig überhaupt wohlfühlen?

Die Überraschung: Gerade die Menschen aus „China, Vietnam, Indien“ fühlen sich in unserer Nachbarschaft noch am wohlsten. Von Problemen erzählen eher Südeuropäer.

Aber der fremde Blick auf diese Stadt tut auch gut. Er zeigt auch, wo die Einheimischen viel zu verkniffen sind. Beim Blick auf den Zustand der Straßen etwa, den die meisten Leipziger bei jeder Bürgerumfrage kritisieren, weil sie immer nur das kaputte Pflaster vor ihrem Haus sehen, aber die teuren Bundesstraßen und Magistralen im Stadtgebiet einfach ignorieren. 46 Prozent der Migranten finden den Straßenzustand gut. Und so weichen in vielen Lebensbereichen ihre Einschätzungen deutlich nach oben ab – wohl auch, weil sie Leipziger Zustände mit den Verhältnissen in ihren Herkunftsländern vergleichen können.

84 Prozent der Leipziger beklagen die öffentliche Sicherheit und ahnen nicht mal, dass es in anderen Städten wirklich schlimmer zugeht. Selbst die Befragten aus „Westeuropa und USA“ sagen eigentlich indirekt: Ihr habt ja ‘ne Meise. 77 Prozent von ihnen sind mit Sicherheit und Ordnung in Leipzig zufrieden.

Selbst die Mitarbeiter des Amtes für Statistik und Wahlen staunen: Mit den Aspekten Sicherheit und Sauberkeit „ist jeweils die Herkunftsgruppe Osteuropa und Kasachstan am wenigsten zufrieden. Weniger als die Hälfte von ihnen zeigt sich mit beiden Faktoren (sehr) zufrieden. Dennoch liegt die Zufriedenheit der Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa und Kasachstan beim Aspekt ‚Öffentliche Sicherheit‘ dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Beim Aspekt ‚Sauberkeit der Straßen und öffentlichen Plätze‘ liegt sie ungefähr um das 1,5-fache höher.”

So viel zum verunsicherten Leipzig.

Vielleicht lesen die befragten Migranten einfach keine hiesigen Zeitungen, die diese Themen immer wieder skandalisieren.

Zumindest zeigen viele Antworten, dass die mediale Leipziger Eigensicht oft ziemlich kleinkariert und provinziell ist. Dass vielen meinungsbildenden Ureinwohnern irgendwie die Welterfahrung fehlt, die überhaupt erst ein Vergleichen möglich macht.

Manche Fragen vermisst man natürlich. Sie deuten sich nur an, wenn die Befragten von einer frustrierenden Bürokratieerfahrung erzählen. Manchmal weiß man ja nicht richtig, was Leipzig so sein will: wirklich eine weltoffene Stadt mit barrierefreien Startchancen oder ein verkniffen verwaltetes Provinznest in Sachsen, in dem jeder von Krähen leer geräumte Papierkorb eine Katastrophe ist.

Und der größte Wunsch wurde leider nicht erfüllt: Die Frage zu beantworten, wie uns diese Menschen aus aller Welt eigentlich finden. Das trauen wir uns einfach nicht zu fragen. Vielleicht wirken wir ja einfach nur mürrisch, unzufrieden und voller Ängste der Welt gegenüber? Oder wie Reisende in einem anderen Zug, der vorüberfährt, und man hat sich nichts zu sagen? Wir haben es wieder nicht erfahren. Schade.

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