Für 8 Euro bekommt man jetzt im Amt für Statistik und Wahlen ein Druckwerk, auf das Freunde der Leipziger Gewässerlandschaft schon lange gewartet haben: Teil VI und damit Abschluss der ambitionierten Reihe „Leipziger Brücken“, die vor rund 10 Jahren startete. Damals wusste auch Bettina Weil noch nicht, was für ein Berg Arbeit auf sie zukommen würde.
Denn zuerst sieht das Thema ja ganz übersichtlich aus: Da gibt es die Pleiße mit ihren Mühlgräben. Das füllte Band 1. Die Weiße Elster mit ihren ganzen Nebengewässern war dann schon ein bisschen umfangreicher und unübersichtlicher. Der Leser merkte schon: Ganz so geradlinig ist das mit den Flüssen auch in Leipzig nicht. Das füllte Band 2. Übersichtlicher war zwar die Parthe – aber das mit den Parthebrücken war dann schon eine echte Detektivarbeit. Das füllte Band 3, bevor sich Bettina Weil dann mit den beiden wichtigen Kanälen und ihren Brücken beschäftigte: dem Karl-Heine-Kanal und dem Elster-Saale-Kanal. Und danach stürzte sie sich dann in das ganze komplexe System der Luppen, deren feinste Verästelungen im Leipziger Auenwald nur noch die echten Experten kennen. Das war dann Band 5.
Logisch, dass fürs Finale „der ganze Rest“ übrig blieb.
Welcher Rest, fragt der unaufmerksame Spaziergänger? Waren das nicht alle strömenden Gewässer?
Ganz und gar nicht. Es blieben noch genau 100 übrig. 100 kleine und große Gräben, Bäche und Schlenke, verrohrte und unverrohrte Fließgewässer, solche, die stets Wasser führen und solche, die oft trockenliegen. Darunter auch Berühmtheiten, die die meisten Leipziger kennen – wo die aber fließen, weiß man oft gar nicht, weil sie so versteckt sind. Der Titel nennt dazu die Nördliche und die Östliche Rietzschke als Beispiel, die eine immerhin 5,9 Kilometer lang, die andere sogar 7,9. Wobei schon die große Übersicht zu Beginn des Bandes zeigt, warum man sie oft nicht wahrnimmt: Die nördliche Rietzschke fließt – vom Bretschneiderpark an – über 2 Kilometer in Rohren zur Parthe. Das haben schon die Stadterweiterer von 1900 so gemacht und das ortstbildprägende Bächlein einfach verschwinden lassen. Bis dahin war die Gegend noch als Rietzschkewiesen bekannt. Und wenn man heute die Stadtplaner fragt, hat niemand eine Idee, warum man das Bächlein wieder ans Tageslicht holen sollte.
Dass man damals überhaupt dran dachte, hatte mit den häufigen Hochwassern des Baches zu tun, denn im Grunde dient er hauptsächlich als Hochwasserableiter aus einem großen Einzugsgebiet im Leipziger Norden. Weil sonst aber eher wenig Wasser floss, verschlammte das Bachbett und muss wohl auch in der frühindustriellen Zeit oft verunreinigt gewesen sein. Mal sehen, wann sich tapfere Anwohner finden, die eine Initiative starten: „Rietzschke ans Licht!“
Der Zschampert steht noch als Berühmtheit mit auf dem Titel, 9 Kilometer lang, auch nicht immer wasserführend. Aber seit das Gebiet um den Kulkwitzer See wieder saniert wird, wird auch der Zschampert renaturiert. Und Bettina Weil machte dabei eine überraschende Entdeckung: Sie stolperte über Leipzigs älteste Brücke. Eigentlich muss man gar nicht drüber stolpern. Man läuft einfach drüber, wenn man zum Kulki will. Aber wer drüber läuft, sieht der Brücke ihr Alter nicht an. Dabei wurde sie 1793 erbaut und trug bis ungefähr 1950 die Fernstraße nach Markranstädt – bis der Tagebau die Straße unterbrach. Noch heute zeigt sie sich als dreifeldrige Gewölbebrücke, was daran erinnert, dass der Zschampert mal ein eindrucksvolles Flüsschen mit großem Einzugsgebiet gewesen ist – bevor der Bergbau kam und ihn in ein Rinnsal verwandelte.
Aber wer die Liste mit den 100 kleinen Flüsschen, Bächen und Gräben durchstöbert, stolpert über eine ganze Reihe berühmter Gewässer, die auch immer mal wieder in der Leipziger Stadtpolitik für Wellen sorgen – mal, weil sie aufwendig saniert werden müssen und wichtige Abflüsse für örtliche Hochwasser sind, mal weil sie wichtige Grüninseln und Parks durchströmen, mal weil sie noch immer ortsbildprägend sind – wie einige Mühlgräben am Stadtrand. Und klein sind sie auch nicht wirklich. Etliche durchziehen auf mehreren Kilometern das Stadtgebiet – nur halt sehr im Abseits. Da ist die Biela in Böhlitz-Ehrenberg, die es auf stattliche 4,7 Kilometer bringt. Eine kleine Berühmtheit ist mittlerweile der Burgauenbach mit seinen 5,3 Kilometern Fließstrecke im Auenwald, der Teil des Systems der Lebendigen Luppe werden soll. Der Leinegraben bei Meusdorf hat nicht nur einer Deponie, sondern auch einer Straße den Namen gegeben, auch wenn er nur bei starken Regenfällen auf 4 Kilometer mal Wasser führt, das er dann in die Mühlpleiße befördert.
Spaziergänger sind zwar oft unterwegs im Gebiet der Paußnitz im Connewitzer Auenwald – nehmen aber meist gar nicht wahr, dass hier tatsächlich auf 5,9 Kilometer ein altes Auengewässer fließt, das manchmal auch (technisch bewerkstelligt) ein bisschen Hochwasser haben darf. Auch der Pösgraben bei Liebertwolkwitz gehört mit seinen 6,5 Kilometern durchaus zu den respektablen Bächen im Stadtgebiet, ganz ähnlich wie der Seehauser Mühlgraben mit seinen 6,7 Kilometern (von denen 1,8 Kilometer verrohrt sind) oder der Zauchgraben bei Holzhausen mit seinen 5,8 Kilometer Länge.
Es gibt auch kleinere Berühmtheiten, die zum Beispiel – wie der 980 Meter lange Zickmantelsche Mühlgraben – für ein Stück Leipziger Wirtschaftsgeschichte stehen. Kümmern muss sich um all diese kleinen Gewässer das Leipziger Amt für Stadtgrün und Gewässer. Mit bekanntem Handlungsdruck, denn ein Großteil dieser Graben- und Abflusssysteme ist wichtig für die Hochwasservorsorge. Gerade in Starkregenfällen muss das System oft binnen kurzer Zeit gewaltige Wassermassen aufnehmen und abführen. Aber weil es so viele sind, hatte Bettina Weil natürlich entsprechende Schwierigkeiten, zu allen auffindbaren Brücken auch aktenkundige Daten zu finden. Manche Brücken sind so provisorisch, dass darüber gar nichts zu finden ist. Andere sind gesperrt und in geradezu trostlosem Zustand, manchmal sogar in Privatbesitz. Manchmal kann auch die emsig suchende Autorin nur rätseln, etwa wenn sie an der Domholzschänke über eine Zschampertbrücke stolpert, von der sie nur vermuten kann, dass sich die Stadtforstverwaltung drum kümmert.
Aber der Band vollendet ein durchaus einmaliges Projekt: Leipzig hat jetzt erstmals eine Komplettübersicht über alle seine Brücken, auch wenn die meisten in Venedig eher fröhliches Gelächter auslösen würden. Und der Interessierte, der Leipzigs Gewässerlandschaften gern zu Fuß erkundet, findet – sauber geordnet, die wichtigsten Informationen zu Stegen und Überführungen, samt Auszügen alter Akten und Briefwechsel, Kartenmaterial – und natürlich einer Bildergalerie schöner alter Brücken. Darunter natürlich jetzt auch das älteste Brückenbauwerk der Stadt.
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