Eine Überraschung hält die Broschüre „Nachhaltige Umweltentwicklung in Leipzig. Indikatoren 2003/2004 – 2013/2014“ freilich auf Seite 11 doch schon bereit. Das sind die neuen Zahlen zum „Modal Split“, also der täglichen Verkehrsmittelwahl der Leipziger. Bislang gab es nur die Zahlen für 2013.
Wer sich erinnert: 2015 wurde im Stadtrat heftig gestritten über den „Modal Split“. Welcher Wert sollte im neuen Stadtentwicklungskonzept „Verkehr und öffentlicher Raum“ stehen? 25 Prozent für den ÖPNV oder doch lieber nur 23? 35 Prozent für den Pkw-Verkehr? Oder nur 30? Was ja entsetzlich ist, wenn man bedenkt, dass der Autoverkehr 2008 noch fast 40 Prozent abdeckte, 2013 noch 38,3 Prozent. Letztes übrigens eine Zahl, die noch gar nicht bekannt war, als der STEP „Verkehr“ debattiert und beschlossen wurde.
Was auch wieder zu Verstimmung führte – aber völlig sinnfrei. Denn lenken kann die Stadt die Verkehrsmittelwahl der Leipziger nur indirekt, nämlich durch bessere Angebote. Wenn es gute Angebote mit Straßenbahn, S-Bahn und Bus gibt, steigen die Leipziger freiwillig um. So seltsam das klingt. Aber genau das erlebte die Stadt 2014 und 2015: Die Inbetriebnahme des Mitteldeutschen S-Bahn-Netzes wirkte wie eine um 20 Jahre verspätete Qualitätsverbesserung im ÖPNV.
Die Leipziger stiegen um. Aber – und das machen jetzt die neuen Modal-Split-Zahlen für 2014/2015 sichtbar, die man nun zum ersten Mal in dieser Broschüre findet – das hat nicht den geringsten Einfluss auf die Autonutzung.
Im Gegenteil: Der Anteil der mit Auto zurückgelegten Wege stieg sogar wieder von 38,3 auf 39,7 Prozent. Übrigens nichts Neues. Dieser Wert steigt seit ein paar Jahren systematisch, was vor allem mit den „Wegen zur Arbeit“ zu tun hat: Weil immer mehr Leipziger einen Arbeitsplatz haben und das Erwerbsleben mit den Fahrten zu Kita, Schule und Einkauf kombinieren müssen, steigt die Autonutzung seit 2010 kontinuierlich an.
Zwar können viele Autonutzer im Umland jetzt die S-Bahn nutzen, um nach Leipzig zur Arbeit zu fahren. Aber jenseits der S-Bahn-Stränge fängt das Problem an. Dort sind die ÖPNV-Verbindungen oft in den vergangen 20 Jahren ausgedünnt worden, kommt man oft nur mit Umsteigen weiter bis zum richtigen Zielort. Die Einstellung der Straßenbahnlinie 9 nach Markkleeberg war geradezu kontraproduktiv.
Selbst das Umweltdezernat hat gemerkt, dass da etwas falsch läuft. „Das Umweltqualitätsziel wird bislang nicht erreicht. Es fehlen noch 8,7 %-Pkt. Auch zur Erreichung des Ziels 2025 ist eine Steigerung um 9,7 %-Pkt. notwendig.“ Was schon geschönt ist. Das Problem wird in einer anderen Tabelle sichtbar, denn wenn die Leipziger erst mal ein Auto vorm Haus stehen haben, dann nutzen sie es auch exzessiv. Und zwar für Wege, für die die Bewegung des Mobils schlichtweg unsinnig ist.
„Seit 2003 ist der Anteil der mit dem Pkw zurückgelegten Wege kürzer als 3 km um 2,8 Prozentpunkte gestiegen. Bei der Entfernungsklasse 3 bis 5 km beträgt der Anstieg 2,9 Prozentpunkte. Vor allem die kurzen Wege wurden seit 2003 mehr mit dem Pkw getätigt, obwohl diese auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bewältigen sind.“
Das Umweltdezernat vermutet zwar, dass es noch an „durchmischten Stadtstrukturen mit kurzen Wegen“ mangelt. Aber dafür hat die Stadt überhaupt keine Strategie. Und zum Eingeständnis, dass die Zentren-Strategie eigentlich falsche Bedürfnisse geweckt hat, ist diese Verwaltung nicht wirklich bereit. Aber gerade der starke Anstieg der Fahrten zum Einkauf mit dem Auto erzählt davon, wohin eine Stadt kommt, die an jeder Ecke Supermärkte mit großem Parkplatz genehmigt. Das sind dann die 3-Kilometer-Ausflüge für den großen und den kleinen Einkauf.
Thema verfehlt, kann man da nur sagen.
Im Stadtverkehr herrschen tatsächlich zwei völlig unabhängige Trends.
Die eine Hälfte der Stadtbewohner hält am Automobil als Allzweckwaffe fest und steigt auch nicht auf andere Verkehrsträger um. Besonders die Seniorengeneration ist hier auffällig.
Die jüngeren Leipziger aber richten ihr Leben vermehrt so aus, dass sie mit den Verkehrsarten des Umweltverbunds ihr Leben bewältigen.
Das kommt sogar dem ÖPNV zugute. Dessen Anteil stieg tatsächlich von 17,1 Prozent im Jahr 2013 auf 17,6 Prozent im Jahr 2014. Das könnte genau der Hinweis sein, der bislang fehlt: Dass die S-Bahn tatsächlich neue Nutzer ins ÖPNV-System gebracht hat. Das System hat sich verbessert. Ein bisschen zumindest. Aber augenscheinlich fehlt da noch was.
Aber die größere Überraschung steckt in einer anderen Zahl: Der Anteil des Radverkehrs stieg von 15,2 auf 17,3 Prozent. Das ist die Entwicklung, die Leipzigs Verwaltung viel stärker berücksichtigen muss: Das Fahrrad ist gerade dabei, den ÖPNV in seiner Leistung zu überbieten. Und das, obwohl das Radwegenetz überhaupt noch nicht auf dem Stand ist, wie ihn eine Großstadt wie Leipzig braucht.
Die logische Folge ist: Weniger Wege werden zu Fuß zurückgelegt.
Die Verwaltung ging bislang immer davon aus, dass der Anteil des Fußverkehrs künftig über 30 Prozent steigen wird. Stattdessen sinkt er. Die Fußgänger steigen aufs Fahrrad.
Aber eins macht diese Entwicklung deutlich: Mit der aktuellen Verkehrspolitik wird man die Ziele, die man sich für 2020 oder 2025 gesetzt hat, nicht erreichen, nämlich die klimafreundlichen Verkehrsarten im Umweltverbund (ÖPNV, Fahrrad, zu Fuß gehen) auf 70 Prozent zu puschen. Sie hängen bei 60 Prozent fest. Und gerade die Zielgruppe, die man zum Umsteigen bewegen will, steigt nicht um: die Autofahrer.
Um eine echte Analyse, warum sie es nicht tun, kommt Leipzig gar nicht herum. Und die Analyse muss bald kommen. Denn wenn 2017 keine Weichen gestellt werden, sind alle so heftig diskutierten Ziele für 2025 Makulatur.
Übrigens auch die zum Klimaschutz. Dazu kommen wir gleich an dieser Stelle.
Die Broschüre zur nachhaltigen Umweltentwicklung in Leipzig 2003 – 2013.
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“Der Anteil der mit Auto zurückgelegten Wege stieg sogar wieder von 38,3 auf 39,7 Prozent. Übrigens nichts Neues. Dieser Wert steigt seit ein paar Jahren systematisch, was vor allem mit den „Wegen zur Arbeit“ zu tun hat: Weil immer mehr Leipziger einen Arbeitsplatz haben und das Erwerbsleben mit den Fahrten zu Kita, Schule und Einkauf kombinieren müssen, steigt die Autonutzung seit 2010 kontinuierlich an.”
Lesart so oder auch anders möglich.
Ich glaube fest daran, wären die Leipziger Straßen auch für Radfahrer geeignet und nicht nur für Autofahrer, würde das Fahrrad dem PKW Verkehr den Rang ablaufen (fahren).
Wer das bezweifelt, sollte zweimal die gleiche Strecke fahren, einmal mit dem PKW und einmal mit dem Rad und er/sie wird wissen/verstehen warum die Menschen das Auto nutzen. Die Leipziger Straßen erinnern heute noch an Nachkriegszeit.
Mir scheint, anders ist es nicht gewollt, sonst würde ja …
Ein Blick in die Dreißiger hilft. Man besehe die Straßen.
https://www.youtube.com/watch?v=phkrMz6DCwM