Es werden ja eine Menge Märchen erzählt über das Verkehrsverhalten der Leipziger. Eines lautet zum Beispiel: Der Motorisierungsgrad in der Stadt steigt, weil immer mehr Menschen nach Leipzig ziehen. Mehr Bewohner gleich mehr Autos. Das Bevölkerungswachstum ist also schuld. So sah es auch OBM Burkhard Jung bei der Vorstellung der „Bürgerumfrage 2015“ am Montag, 29. August. Es stimmt nur nicht.

Dass er nun schon seit geraumer Zeit ratlos ist, wie er das Stellplatzproblem in Leipzig lösen soll, das hat Burkhard Jung ja nun mehrfach bekundet. Wenn jedes Jahr 4.000 neue Pkw hinzukommen, die dann zumeist irgendwo im Straßenraum stehen, dann wird es logischerweise knapp.

Aber daran sind nicht die Zuwanderer schuld. Wirklich nicht. Das wurde schon mit dem „Statistischen Jahrbuch“ für das Jahr 2015 deutlich, als zum zweiten Mal hintereinander der Bestand von privaten Pkw je 1.000 Einwohner sank. Bis 2012 war er gestiegen auf 353, 2013 sank er zum ersten Mal auf 352, 2014 auf 351. 2015 fiel der Wert weiter auf 347. Was ja im Klartext heißt: Die Mehrzahl der neu nach Leipzig Zugezogenen verzichtet aufs Auto.

Aber im Kapitel „Ausstattung der Haushalte mit Verkehrsmitteln“ ist eine deutliche Grafik zu sehen, die auch Burkhard Jung besonders würdigte: Der Ausstattungsgrad der Leipziger Haushalte mit Privat-Pkw ist seit 2007 deutlich angestiegen – von 58 Prozent im Jahr 2007 auf 68 Prozent im Jahr 2015. Immer mehr Leipziger Haushalte haben also mindestens einen Pkw. Und das bei sinkendem Pkw-Besitz pro Einwohner. Wie geht das zusammen?

Hat das nur mit einem anderen Nutzungsverhalten zu tun? Mit immer mehr Menschen, die das Auto brauchen, weil sonst der Weg zur Arbeit nicht zu meistern ist?

Auf den ersten Blick scheint das so. Wir haben uns extra die „Bürgerumfrage 2007“ noch einmal herausgesucht. Danach ist der Pkw-Besitz in allen Haushaltsformen und Einkommensgruppen gestiegen. Im Schnitt um 4 Prozent (Singles) bis 6 Prozent (Paare mit Kindern). Was schon einmal darauf hindeutet, dass viele Leipziger ihren Alltag ohne Auto nicht (mehr) bewerkstelligen können, weil die Stadt nach wie vor autoaffin gedacht und geplant wird, aber nicht umweltgerecht und familienfreundlich.

Das ist sozusagen schon mal ein kleiner Kassenzettel für die Amtszeit von OBM Jung.

Nicht nur, weil das Netz der Kindertagesstätten und Schulen noch längst nicht ansatzweise so zugeschnitten ist, dass Leipzig eine „Stadt der kurzen Wege“ geworden ist. Arbeitet daran überhaupt jemand? Gibt es überhaupt jemanden, der wirklich zielstrebig dafür plant? Wir bezweifeln das.

Leipzig ist unter Burkhard Jung noch viel stärker eine „Stadt der langen Wege“ geworden als unter seinen Vorgängern. Was auch mit der Vernachlässigung zweier zentraler Verkehrsthemen zu tun hat: Weder ist der ÖPNV nachhaltig (und familiengerecht) ausgebaut worden, noch gibt es ein barrierefreies und sicheres Radwegenetz, schon gar nicht für die familiären Bedürfnisse innerhalb der Ortsteile.

Aber es kommt noch schlimmer: Die Politik der Einkaufszentren hat noch einen ganz anderen Effekt erzeugt, den der autobegeisterte OBM am 29. August regelrecht verblüfft registrierte: Wie kann man denn seine Einkäufe mit dem Fahrrad erledigen? Oder zu Fuß? Die ganzen Sachen schleppen? Das ist doch undenkbar!

Darüber stolperte der OBM beim Thema „Modal Split“, der Verkehrsmittelwahl für bestimmte Wege. Und der Anteil der Leipziger, die für den Weg zum Einkaufen zu Fuß laufen oder das Fahrrad nutzen, ist von 36 im Jahr 2014 auf 38 Prozent gestiegen. Dafür haben Straßenbahn und Bus eingebüßt: Der Wert sank von 11 auf 10 Prozent.

Aber man ahnt so langsam, warum Burkhard Jung einen echten Umweltverbund für Leipzig einfach nicht hinbekommt. Immerhin ist die Politik der Stadt bei der Schaffung von Einkaufszentren seit Jahren darauf fixiert, in allen Ortslagen großflächige Ankermärkte anzusiedeln, die dann irgend so etwas bilden wie eine zentrale Versorgungslage, im „STEP Zentren“ auch ganz frech als „Ortsteilzentrum“ bezeichnet.

Die LVB haben ihr Haltestellennetz und die Linientaktung darauf eingerichtet. Und das Ergebnis waren schon im vergangenen Jahrzehnt drastische Rückgänge bei Einzelhandelseinrichtungen außerhalb dieser künstlich gepuschten Einkaufszentren. Das Zentren-Prinzip hat den „Leipziger Laden“ zum Auslaufmodell gemacht. Und es hat noch eine andere Folge gehabt: Wo bis dahin in vielen Ortsteilen noch der ganz normale Einkaufsbummel möglich war, haben immer größere zentrale Märkte (einiger weniger Einzelhandelsketten) mit immer größeren Parkplätzen die kleinteilige Versorgung verdrängt und den Auto fahrenden Einkäufer zum Normalzustand gemacht.

Und das wird besonders drastisch bei den Senioren deutlich, der Bevölkerungsgruppe, die eigentlich kein Auto mehr braucht, um im Erwerbsleben mithalten zu können, die es jetzt aber trotzdem wieder braucht, weil nur so der Weg zum Einkaufen gesichert ist.

Und entsprechend stark sind gerade hier die Zahlen in die Höhe geschnellt.

Hatten 2007 noch 75 Prozent der Rentnerehepaare mindestens 1 Auto, so ist dieser Wert 2015 auf 88 Prozent hochgeschnellt.

Und nicht nur die Rentnerehepaare haben aufmotorisiert, die alleinstehenden Rentner ebenfalls, die 2007 noch zu den Bevölkerungsgruppen gehörten, die weitgehend auf das Auto verzichten konnten. Nur 20 Prozent von ihnen hatten 2007 mindestens ein Auto. Im Jahr 2015 aber sind 48 Prozent der alleinstehenden Rentner mit Auto registriert. Das hat sicher auch mit den verfügbaren Einkommen zu tun, denn je reicher ein Haushalt ist, umso eher steht ein Auto vorm Haus.

Aber die drastisch gestiegenen Pkw-Zahlen in Rentnerhaushalten erzählen ziemlich deutlich von einer Stadtpolitik, die immer zuerst das Auto und die Autoerreichbarkeit denkt und alle anderen, umweltgerechteren Mobilitätsformen als nachrangig behandelt hat, egal, ob ÖPNV, Radwege oder auch nur die fußläufige Erreichbarkeit zentraler Einrichtungen. Und so dominiert das Auto beim Einkauf mit 51 Prozent über alle anderen Verkehrsmittel deutlich.

Entsprechend verknappt sich der Parkraum. Und immerhin 54 Prozent der Autobesitzer stellen ihr Fahrzeug im öffentlichen Straßenraum oder auf öffentlichen Parkplätzen ab. Und je mehr die Befragten in Innenstadtquartieren wohnen, je höher ist der Anteil, denn die Gründerzeithäuser haben ja nie eine Tiefgarage oder Ähnliches vorgesehen. Da ist schon interessant, dass im geplagten Schleußig nur 57 Prozent der Autobesitzer ihr Auto auf der Straße parken. Damit liegt Schleußig noch weit hinter Quartieren wie Reudnitz-Thonberg mit 72 Prozent oder Lindenau mit 75 Prozent.

Aber die Zahlen zeigen deutlich, dass es so eigentlich nicht geht, dass Leipzig eine andere Verkehrspolitik braucht, die dem Umweltverbund tatsächlich die wichtigste Rolle einräumt, und dass es eine andere Zentren-Politik braucht. Hier haben sich zwei falsche Ansätze zu einem Problem aufgeschaukelt, für das auch der eifrigste OBM keine Lösung finden kann, weil das Thema schon im Ansatz falsch angepackt wurde.

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Es gibt 2 Kommentare

Würden sich die PKW-Besitzer mal PKWs kaufen, die von der Größe her ihren Anforderungen entsprechen (kein Mensch braucht einen Audi Q7), hätten wir weitaus weniger Parkplatzprobleme.

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