Na gut, das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ist nicht die Friedrich-Ebert-Stiftung. Es ist eine Abteilung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Aber es ist ein Signal, wenn die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie der drei IMK-Wissenschaftler Jan Behringer, Dr. Thomas Theobald und Dr. Till van Treeck veröffentlicht. Und das in einer Zeit, in der die Wirtschaftsweisen Beiträge mit Titeln wie „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ veröffentlichen.

Da wirkt die neue Publikation „Ungleichheit und makroökonomische Instabilität“ wie eine Kehrtwende. Vielleicht auch wie eine späte Einsicht, dass man endlich raus muss aus der Falle der engstirnigen Betriebswirtschaft. Man kann Länder, Wirtschaftsräume, Staaten und Märkte nicht mit den eigentlich nur unter Laborbedingungen funktionierenden Erklärungsmustern interpretieren.

Aber genau das tun die derzeit an deutschen Wirtschaftslehrstühlen dominierenden neoliberalen Denkschulen – maximal auf theoretische Muster und jede Menge „magischer“ Formeln reduziert, die aber eines nicht tun: die Komplexität einer Gesellschaft abzubilden.

Berühmt ist der Fernsehauftritt des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan Anfang der 1980er, als er den Amerikanern sein gewaltiges Steuerentlastungsprogramm für die Superreichen mit dem Trickle-down-Effekt erklärte, wie der wachsende Wohlstand der Reichen quasi wie ein Zaubertrick das Wachstum ankurbeln würde und vom Erwirtschafteten dann auch etwas nach unten durchsickern würde. Mit dem Effekt haben seither nicht nur die amerikanischen Konservativen immer neue Forderungen nach Steuersenkungen begründet, sondern auch zahlreiche deutsche Politiker. Auch die SPD, der die Friedrich-Ebert-Stiftung nahesteht, hat das Lied immer wieder laut gesungen.

Sie haben das Märchen immer wieder mit diesen wenigen Zutaten erzählt – aber immer weggelassen, dass die Steuersenkungen vor allem eine höhere Staatsverschuldung mit sich brachten. Und vom wachsenden Reichtum der Superreichen ist auch nichts nach unten durchgesickert. Stattdessen ist die Einkommensverteilung in den westlichen Industrieländern immer weiter auseinandergeklafft.

Was nun endlich zur öffentlichen Debatte geworden ist in Deutschland. Noch vor einem Jahr versteckten sich einschlägige Forscher hinter dem Märchen vom ach so niedrigen Gini-Koeffizienten, der ja in der Bundesrepublik so niedrig sei. Also kein Problem. Doch da in Deutschland die wirklich großen Einkommen und Vermögen gar nicht erfasst werden, ist der Koeffizient eher nur eine Augenwischerei.

Trotzdem wurden verschiedenste Studien geschrieben, die belegen sollten, dass das Problem kein Problem ist und zunehmende Einkommensungleichheit weder Wohlstand noch Wachstum gefährden.

Behringer, Theobald und van Treeck haben sich jetzt die 19 einschlägigen Arbeiten der letzten Zeit vorgenommen und sie genauer angeschaut, wie die die Folgen der Ungleichheit untersucht haben, welche Datengrundlage sie hatten und welche belastbaren Folgerungen sie gezogen haben.

Dabei wird auch sichtbar, wie sehr die Datengrundlagen von vor 2007 und danach sich unterscheiden. Und einige der ausgewerteten Studien kommen sogar zu der Schlussfolgerung, dass die Finanzkrise von 2007 direkt mit der über 30 Jahre aufgebauten Einkommensungleichheit in den angelsächsischen Ländern zu tun hat: „Andere Ökonom_innen vertreten hingegen die These, dass der starke Anstieg der Lohn-­ und Einkommensungleichheit und der Finanzkollaps des Jahres 2007 nicht in einer kausalen Beziehung zueinander stehen, sondern lediglich aufgrund gemeinsamer Ursachen zeitlich zusammenfallen.“

Man streitet sich also trefflich über die Frage Huhn oder Ei, schafft das Phänomen aber nicht aus der Welt.

Und man zeigt mit dem Streit erst recht, dass „Wirtschaft“ kein Laborexperiment ist, sondern immer in einem komplexen Beziehungsgefüge stattfindet, in dem selbst so banale Dinge wie staatliche Regularien, soziale Probleme, Kaufkraft, Konsum oder private Verschuldung eine Rolle spielen.

Ohne die massive Überschuldung von am Ende zahlungsunfähigen Verbrauchern wäre es 2007 nicht zur Subprime-Krise gekommen.

Und an den Trickle-down-Effekt glauben die wichtigsten US-Ökonomen wie Paul Krugman schon lange nicht mehr.

Eigentlich war die große Diskussion in Europa auch schon 2013 fällig, als Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ erstmals auf französisch erschien. Doch die Phalanx der Wirtschaftsinstitute schoss sich damals darauf ein, die Thesen Pikettys zu attackieren.

Dabei erschien Pikettys Buch genau zu dem Zeitpunkt, an dem sichtbar wurde, wie alle positiven Entwicklungen, die mit der neuen Politik nach dem Schwarzen Freitag von 1929 wieder aufgehoben waren, demontiert von Regierungen wie der Reagan-Regierung, die wieder alle Schleusen öffneten für die wilde Hatz auf riesige Gewinne, die 1929 erst die Weltwirtschaftskrise ermöglichte. Doch wenn die Superreichen auf riesigen Vermögen sitzen, die sie nirgendwo mehr sicher anlegen können, dann stürzt das ganze Gebäude zusammen.

Wie es 2007 auch beinah geschehen wäre, hätten sich nicht die Staaten selbst tief in Schulden gestürzt, die sie selbst ins Wanken gebracht haben.

„Misst man die Ungleichheit anhand der aus Steuerdaten gewonnenen Topeinkommensanteile, so ergibt sich für viele Länder für die Zeit zwischen der Großen Depression von 1929 und der Finanzmarktkrise von 2007 ein U­-förmiger Verlauf (Rückgang der Ungleichheit nach 1929, Wiederanstieg seit Beginn der 1980er Jahre)“, schreiben die drei Autoren in ihrer neuen Studie. „Dabei ist gerade der Wiederanstieg der Ungleichheit in vielen Ländern seit den frühen 1980er Jahren bemerkenswert, weil sich deren Bruttoinlandsprodukt auf deutlich höherem Niveau als in den 1920er Jahren befindet. Dies widerspricht zunächst einmal der lange Zeit gültigen These, dass durch wirtschaftliche Entwicklung im Sinne eines steigenden Pro­Kopf­Einkommens ein ungleichheitsreduzierender Prozess in Gang gesetzt wird (Kuznets 1955).“

Doch dann kommen sie auf Piketty, der die alten Erklärungsmuster einfach vom Tisch wischte: „Pikettys Analyse veranschaulicht die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Einkommensungleichheit und gesamtwirtschaftlichem Wachstum. Wenn sich vermehrt Indizien dafür finden lassen, dass die in vielen Ländern gestiegene Einkommensungleichheit den Wachstumspfad der Volkswirtschaften in Mitleidenschaft zieht, so stützt dies die Forderung nach einer progressiveren Besteuerung zum Wohle einer stabileren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, von der letztlich alle Bevölkerungsgruppen profitieren.“

Denn wenn man die Löhne dämpft und gleichzeitig die Steuern der Vermögenden senkt, ergibt sich eine Fehlstelle, die sich im Krisenfall als regelrechtes Loch erweist: Denn wenn die Krise erst mal anfängt, dann reißt es zuallererst all jenen die Beine weg, die sich in der Hoffnung auf ein versprochenes Wachstum völlig überschuldet haben.

Und das Problem hat auch die Bundesrepublik mittlerweile, auch wenn es gern weggeredet wird: Gerade Bürger mit niedrigen Einkommen geraten immer öfter in Schulden, die sie nicht mehr begleichen können. Und das hat kaum etwas mit „zu großen Konsumausgaben“ zu tun, sondern mit den ganz normalen Wechselfällen des Lebens, die aus diesen niedrigen Einkommen nicht mehr abzudecken sind: Arbeitslosigkeit, Unfall, Krankheit …

Und das liegt auch daran, dass sie eben von einem mystischen Trickle-Down-Effekt gar nichts haben. Im Gegenteil: Über Steuern, Abgaben und Gebühren werden sie oft genug überdurchschnittlich an den Folgekosten gesellschaftlicher Krisen beteiligt.

Ein Ansatz der drei Studienautoren, die ziemlich einhellig zu dem Schluss kommen, dass die zunehmende Ungleichheit tatsächlich das Wachstum in vielen Staaten beeinträchtigt, nicht nur in den USA, gilt im Grunde direkt der SPD, deren Kernthema das eigentlich wäre: „Die risikofreudigere Bewertung der vorliegenden Forschungsergebnisse lautet: Das Thema Ungleichheit sollte auch deswegen in den Mittelpunkt einer politischen Agenda gestellt werden, weil eine Reduzierung der Ungleichheit Wachstumsgewinne für alle bringt (Stiglitz 2015).“

Und dann tragen sie fast beiläufig Ronald Reagan und die ganze einfältige Chicagoer Ökonomenschule zu Grabe: „Klar ist im Lichte der neueren Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und makroökonomischer Entwicklung, dass die einfachen Hypothesen der ‚trickle­down economics‘, welche gerade auch in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit Richtschnur für die Wirtschaftspolitik waren, nicht haltbar sind.“

Das ist dann auch eine deutliche Kritik an den sogenannten „Wirtschaftsweisen“, den Wirtschaftsinstituten, die die Bundesregierung beraten dürfen. Das IMK hätte gern dazu gehört, hat sich deshalb auch extra vom Institut für Wirtschaftsforschung  (IWH) Halle gelöst (das dazu gehört), wurde aber 2009 von der damaligen CDU/SPD-Regierung abgelehnt.

Und aus dieser Perspektive kleckert die Bundesrepublik auch im internationalen Maßstab hinterher: „Auffällig ist dabei die Diskrepanz zwischen der internationalen und der deutschen wirtschaftspolitischen Debatte. Während der IWF und die OECD in den vergangenen Jahren immer wieder auf die Gefahren einer ungleichen Einkommensverteilung hinweisen, behauptete der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beispielsweise in seinem Jahresgutachten 2014/15 mit dem Titel ‚Mehr Vertrauen in Marktprozesse‘, die Entwicklung der Einkommensungleichheit sei hierzulande unauffällig, und es bestehe lediglich ein Wahrnehmungsproblem in der Gesellschaft, welche die tatsächliche Ungleichheit überschätze. Die Thesen von Thomas Piketty werden mit wenigen Sätzen abgefertigt, Pikettys Überlegungen seien ‚aus ökonomischer Sicht nicht haltbar‘ (SVR 2014: Ziffer 518).“

Das nennt man dann schon sehr deutliche Kollegenkritik. Berechtigterweise. Denn die Zahlen zur zunehmenden Überschuldung einkommensschwacher Haushalte erzählen schon jetzt von einem langsamen, aber deutlichen Abdriften ganzer Teile der Gesellschaft.

„Dabei besteht gerade auch in Deutschland die Gefahr, dass sich die gestiegene Einkommensungleichheit strukturell verfestigt und zu einem Anstieg der ohnehin schon sehr ungleichen Vermögensverteilung beiträgt“, schreiben die drei Autoren, nachdem sie alle 19 Studien durchgearbeitet haben. „Wie Piketty (2014) zeigt, droht ein immer weiterer Anstieg der Vermögensungleichheit, wenn erstens die reicheren Haushalte einen größeren Teil ihres Einkommens sparen als die übrigen Haushalte und zweitens die Kapitalrendite (r) oberhalb des durchschnittlichen Einkommenswachstums (g) liegt.“

Es ist also völlig kontraproduktiv, jetzt die nächste Steuerbefreiungsrunde für die Gutverdiener zu starten, ohne die Probleme einer zunehmend prekären Einkommensschicht zu lösen, die schon längst nicht mehr teilhat am propagierten Konsum und damit am versprochenen Wohlstand. Denn wenn das negiert wird, beginnt die Gesellschaft von unten her immer instabiler zu werden. Das, was man jetzt schon in einigen Ländern Europas beobachten kann.

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Pikettys Einblick in die Entwicklung von Kapital und Einkommen in den letzten 200 Jahren ist auf für Laien gut verständlich geschrieben und enorm interessant. Wer die 800 Seiten lieber hören als lesen mag, findet in der Stadtbibliothek auch eine Hörbuchfassung.

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