Es ist Sommer. Da ist die Nachrichtenlage ein bisschen ausgedünnt. Aber nur ein bisschen, was nicht daran liegt, dass die üblichen Nachrichtenerzeuger im Urlaub sind, sondern viele Journalisten. Da sitzen dann in manchen Redaktionen ein paar News-Redakteure, die in ihrer Verzweiflung andere Medien durchgrasen, ob sich da denn nicht eine schöne sensationelle Meldung finden ließe. Wie das funktioniert, haben dieser Tage wieder mal ein paar Großmedien durchexerziert.
„Spiegel Online“, „Zeit Online“, „FAZ Online“ und auch „tagesschau.de“ zum Beispiel, die mal wieder etwas getan haben, was man selbst unter größtem Zeitdruck nicht tun sollte: Sie haben bei der „Bild“ abgeschrieben. Das ist in den letzten Jahren ziemlich in Mode gekommen und hat wohl auch kräftig zu dem Eindruck beigetragen, den viele Leser mittlerweile haben: Die großen Medien sind sichtlich erodiert, nicht nur das Nachrichtenangebot hat sich dem Boulevard angenähert, auch der Ton und – was noch viel schlimmer ist – die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Eigentlich wissen sie es alle: Wenn die „Bild“ mit Zahlen operiert, dann bekommen nicht nur Mathematiklehrer Zahnschmerzen.
So auch am 11. Juli, als „Bild Online“ mit der Nachricht herausplauzte: „Laut Bundesagentur für Arbeit lebten Ende 2015 insgesamt 2.572.134 Personen bereits länger als 4 Jahre von der Stütze. Das waren 7,9 % weniger als im Dezember 2014 …“
Das gaben nicht mal die offiziell von der Bundesarbeitsagentur gemeldeten Zahlen her. „Spiegel Online“ hat den Quark inzwischen korrigiert.
Dass die Zahlen von Beziehern von Hartz IV übers Jahr gefallen sind, das stimmt freilich. Das hat viele Gründe: Einen robusten Arbeitsmarkt zum Beispiel oder auch die starken Abgänge von Langzeitarbeitslosen in einen armseligen Ruhestand.
Stärker als im Westen sind die Zahlen im Osten gefallen. Am stärksten sogar in Sachsen.
Das hat, um den ganzen von „Bild Online“ in die Welt hinausposaunten Unfug zu korrigieren, Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) wieder akribisch ausgerechnet. Er macht immer das, was eigentlich jene Journalisten machen müssten, die solche Meldungen fabrizieren: Er nimmt sich die verfügbaren Original-Statistiken der Bundesarbeitagentur vor, zieht die richtigen Daten raus und stellt sie zu übersichtlichen Tabellen zusammen.
Das ist keine leichte Aufgabe. Denn mittlerweile ist die Statistik so oft geändert worden und verbergen sich die unterschiedlichsten Sachverhalte hinter Begriffen, bei denen der Uneingeweihte das bürokratische Grausen bekommt. Aber gerade dann, wenn man die Sachverhalte nicht auseinander dröseln kann (und wahrscheinlich ist das auch irgendwie Absicht hinter dieser ganzen Menschenverwaltungsstatistik), sollte man lieber die Finger davon lassen. Sonst haut man völlig daneben oder eine Nachricht raus, die einfach nicht stimmt.
Dass es gar nicht so einfach ist mit dem richtigen Auslesen der Daten, betont Paul M. Schröder natürlich: „Die Erklärung für die falsche Veränderungsrate: BILD verglich den Bestand der ‚Regelleistungsberechtigten‘ (RLB) mit einer ‚bisherigen Verweildauer im SGB II‘ von vier Jahren und länger (RLB 4+) im Dezember 2015 nach der Revision der Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende (April 2016) mit dem nicht revidierten Bestand der ‚Leistungsberechtigten‘ (Lb) im Dezember 2015.“
Ja, da war über den Jahreswechsel wieder so eine Revision im Datenbestand der Arbeitsagentur. Die wievielte eigentlich?
Dabei hat „Bild Online“ auch beim Anteil der Regelleistungsberechtigten danebengehauen. Paul M. Schöder: „Eine Erklärung für die BILD-Behauptung, in Baden-Württemberg sei der Anteil der ‚Regelleistungsberechtigten‘ (RLB) mit einer ‚bisherigen Verweildauer im SGB II‘ von vier Jahren und länger (RLB 4+) an den ‚Regelleistungsberechtigten‘ im Dezember 2015 mit 37,7 Prozent (Anteil RLB 4+ an RLB) am geringsten konnte bisher nicht gefunden werden. Die Auswertung der revidierten Daten zeigt: Diese Anteile (Anteil RLB 4+ an RLB) reichen im Dezember 2015 in den Ländern von 34,1 Prozent in Bayern (BY) bis 53,0 Prozent in Sachsen-Anhalt (ST).“
Soweit alles klar? Wir hängen die komplette Meldung des BIAJ einfach mit unten dran.
Wer in die Tabelle schaut, sieht, dass besonders in den ostdeutschen Ländern die Zahl der Hartz-IV-Bezieher stark zurückgegangen ist: um stolze 4,6 Prozent, während sie im Westen sogar gestiegen ist (um 1,4 Prozent).
In diesen Regelleistungsberechtigten (RBL) stecken natürlich auch all jene Menschen, die zwar auf ALG II angewiesen sind, dem Arbeitsmarkt aber gar nicht zur Verfügung stehen. Interessanter ist natürlich der Rückgang bei den erwerbsfähigen Leistungsbeziehern (ELB). Da verzeichnete der Osten einen Rückgang von 5,2 Prozent, im Westen gab’s dafür einen Anstieg um 1 Prozent.
Das hat auch mit den Flüchtlingen zu tun, die natürlich in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Dass im Osten die Zahlen der Hartz-IV-Bezieher trotzdem so stark sinken konnte, hat mit dem akuten Arbeitskräftemangel zu tun, der sich jetzt überall bemerkbar macht und der vor allem auch auf einen nach wie vor hohen Sockel an ALG-II-Beziehern trifft.
Und unter den ALG-II-Beziehern im Osten sind deutlich mehr Menschen, die schon vier Jahre und länger in der Bedürftigkeit festhängen. Allein diese Zahlen zeigen eigentlich, wie sehr Hartz IV gescheitert ist und genau das manifest gemacht hat, was bis 2005 als Hauptargument gebracht wurde, um Hartz IV einzuführen: Die Langzeitarbeitslosigkeit von Menschen mit diversen Handicaps für den Arbeitsmarkt.
Und da kommen eben keine optimistischen Werte heraus. In Bayern sind 37,1 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten vier Jahre und länger in Hartz IV. Und das ist – knapp vor Baden-Württemberg – der niedrigste Wert aller Bundesländer. In Ostdeutschland liegt der Wert bei satten 55,7 Prozent. Im stolzen Sachsen liegt er bei 56,3 Prozent.
Absolut ist die Zahl der erwerbsfähigen Menschen, die über Jahre auf ALG II angewiesen sind, zwar auch in Sachsen gesunken – von 155.434 auf 143.681. Aber trotzdem ist ihr prozentualer Anteil an den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten gestiegen – von 56 auf 56,3 Prozent. Und das, obwohl diese Menschen reihenweise in den vorgezogenen Ruhestand geschickt werden.
Der Grund liegt auf der Hand: Ihre Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben sich nicht verbessert. Oft fehlt es an der nötigen Qualifikation, oft an Flexibilität und Mobilität … Sie haben selbst beim jetzigen Arbeitskräftebedarf kaum Chancen. Die Unternehmen greifen lieber auf die verfügbaren Reserven bei Leiharbeitern, Mini-Jobbern und auf ältere Arbeitskräfte im eigenen Unternehmen zurück. Und natürlich auf Jobcenter-Bewerber, die erst kurz in der Bedürftigkeit sind.
Was am Ende trotzdem die Zahlen bei den Langzeitarbeitslosen gerade im Osten deutlich sinken lässt. Denn ihr Bestand wird nicht mehr durch jüngeren „Nachwuchs“ aufgefüllt. Wer jung, flexibel, mobil und in gewisser Weise auch bereit ist zur Qualifizierung, der wird weitestgehend auch in den Arbeitsmarkt vermittelt. Und vor allem – das ist derzeit der wichtigste Effekt: Arbeitnehmer über 50 Jahre werden nicht mehr so leicht gekündigt. Im Gegenteil. Immer mehr Unternehmen versuchen sie bis zum Renteneintritt (und darüber hinaus) zu halten, wenn es wichtige, qualifizierte Arbeiter sind. Sie tauchen also nicht mehr so häufig als Jobcenter-Neukunden auf und sitzen dann vier Jahre und länger in den Wartezimmern, um vielleicht doch noch ein Jobangebot zu erhalten.
Und weil gerade in Sachsen der Bedarf nach Fachkräften deutlich angestiegen ist, schmilzt der Anteil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Sachsen auch besonders stark ab – um satte 8 Prozent im Jahresvergleich. Bei den ELB, die länger als vier Jahre betroffen sind, war der Rückgang um 7,6 Prozent ebenfalls der höchste unter den Bundesländern.
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