Kaum ein Vergleich scheint zu kühn, wenn Leipziger Stadtpolitiker versuchen, das aktuelle Bevölkerungswachstum der Stadt einzuordnen. Der OBM verglich es schon mal mit dem Wachstum um 1900, als Leipzig binnen 14 Jahren von 456.156 auf 624.845 Einwohner wuchs. Dann kam ja bekanntlich der Krieg, der zehntausenden junger Leipziger das Leben kostete. Ist das der richtige Vergleich?
Natürlich nicht. Städte wuchsen damals anders und aus anderen Gründen. Auch wenn ein Antrieb ganz ähnlich war wie heute: Damals zogen Landbewohner mit Sack und Pack in die großen Städte, weil die wachsende Industrie nach einem Heer billiger Arbeitskräfte verlangte. Aus Leipziger Vororten wurden regelrechte Kleinstädte mit großen, schmucklosen Wohnquartieren, die meist direkt an die qualmenden Industrieareale grenzten. Der Motor der Industrialisierung brummte. Und zumindest bei den Malochern in Plagwitz, Lindenau oder im Grafischen Viertel wäre niemand auf die Idee gekommen, man müsste nun unbedingt Krieg führen gegen Franzosen oder Russen. Den verbalen Amok liefen die gut bezahlten Eliten, kaisertreu bis zum Stehkragen, von einem Platz an der Sonne träumend, der vor allem ein Platz auf den Weltmärkten war.
Ist also eine andere Zeit besser vergleichbar? Die Weimarer Republik zum Beispiel, als Leipzig wieder ans Vorkriegswachstum anschloss und von 542.854 Einwohnern im Jahr 1917 auf 713.470 emporschoss, bevor die an die Macht emporgehievten Nationalsozialisten wieder auf einen Krieg vorbereiteten?
Und zumindest die Leipziger Prognosen gehen davon aus, dass um 2030 wieder 700.000 Einwohner erreicht werden könnten. Vergleichbar ist das zum Glück nicht, denn dieses enorme Wachstum war auch geprägt von Krisen, wie man sie eigentlich nicht wiederhaben möchte – von der Inflationszeit bis zur Weltwirtschaftskrise, in deren Gefolge die Nazis massiv an Zulauf gewannen.
Und noch ein Punkt spricht gegen den Vergleich: Das Leipziger Stadtgebiet war sowohl im Jahr 1900 mit 58,5 Quadratkilometern ein anderes als heute, auch das von 1933 mit seinen 85,9 Quadratkilometern.
Dass Leipzig überhaupt wieder an den 500.000 schnuppern durfte, hatte ja mit den Eingemeindungen der Jahre 1999/2000 zu tun, die das Stadtgebiet auf 297,6 Quadratkilometer brachten. Was eigentlich nicht wegen der 56.000 miteingegemeindeten Bewohnern wichtig war, sondern wegen der damit verfügbaren Flächen. Ein Großteil des heute so wichtigen Industriegürtels im Leipziger Norden liegt auf den Flächen der damals eingemeindeten Orte im Norden. Nur so war Leipzig überhaupt handlungsfähig, als es um Ansiedlungen wie Porsche, BMW oder die vielen Logistiker und Zulieferer ging.
Wenn man also die kühnen Bevölkerungszahlen der Gegenwart mit der kühnen Vergangenheit vergleichen möchte, muss man immer 56.000 Einwohner abziehen. Dann entsprechen die amtlichen 560.000 Einwohner aus dem Dezember 2015 erst einmal 504.000 Leipzigern im ursprünglichen Stadtgebiet von 1990. Womit die Stadt, die so fröhlich ihr Wachstum feiert, gerade erst einmal auf dem Weg ist, die Bevölkerungszahl von 1990 wieder anzupeilen. Damals waren 511.000 Leipziger offiziell registriert. Noch. Denn sie glitten den Statistikern ja in Scharen durch die Finger und gingen in den Westen davon (und in den Speckgürtel). Gleichzeitig verließen sie auch einen Wohnungsbestand, der völlig heruntergewohnt, unsaniert und in großen Teilen abbruchreif war.
Wenn also im Jahr 2016 für einige Leipziger schon die Schwierigkeiten begonnen haben, eine bezahlbare Wohnung zu finden, hat das mit den Abbrüchen und Verlusten der 1990er Jahre zu tun. Leipzig knüpft also dieser Tage erst wieder da an, wo die Entwicklung der Stadt 1990 abgerissen ist. Bei den Zahlen von 1914 oder 1933 ist es noch lange nicht. Wenn es 2020 die magische Grenze von 600.000 schaffen sollte, wäre die Stadt trotzdem erst wieder im Jahr 1987 angelangt und damit weiterhin in einem Aufholprozess. Denn auch in der DDR-Zeit hat Leipzig ja permanent Bevölkerung verloren – zuletzt vor allem durch immer mehr Ausreiseanträge.
Das heißt: Selbst ein Anwachsen auf 600.000 wäre keine Sensation, sondern eine Normalisierung für diese Stadt mit ihrem Platz in Mitteldeutschland.
Etwas anderes wäre es mit den jetzt prognostizierten 720.000. In den Bereich von 660.000 Einwohnern war Leipzig in der gesamten DDR-Zeit nicht gekommen. Das war übrigens eine Zeit, in der die Kinderzahlen permanent sanken. Die großen Bevölkerungszahlen der Vorkriegszeit beinhalten auch immer einen hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen. Wohnungen waren eher von 5 und mehr Personen bewohnt als von 1,8 bis 1,9, wie das heute der Fall ist. Es passten also ganz natürlich mehr Menschen rein in diese Stadt, man lebte deutlich gedrängter auf kleinem Raum.
Auch deswegen scheint heute Wohnraum knapper zu sein: Die Vereinzelung der modernen Großstadtbewohner hat ihren Preis. Wobei noch dazu kommt: Die meisten dieser „Singles“ wollen eigentlich gar nicht so allein leben. Aber die Entwicklung alternativer, generationenübergreifender oder gemeinschaftlicher Wohnformen steckt noch in den Kinderschuhen. Dazu sind auch Leipzigs Stadtplaner viel zu vernarrt in die klassischen Beziehungen Hausbesitzer/Wohnungsmieter. Und selbst die Diskussion um das „Wohnungspolitische Konzept“ der Stadt hat da keine Fortschritte gebracht.
Da sieht dann das Feuerwerk zum Bevölkerungswachstum immer sehr aufgesetzt aus. Als wäre da ein Wunder geschehen und nicht ein Prozess im Gang, in dem Menschen auf ihre ganz chaotische Weise auf der Suche sind nach einem funktionierenden Lebensmodell.
Dass Leipzig damit gerade einmal das riesige Loch der tristen 1990er Jahre aufgearbeitet hat, dürfte zumindest zu denken geben. Da sehen dann die aufklaffenden Probleme beim Bau von Kindertagesstätten und Schulen schon recht beklemmend aus, denn es sind eigentlich keine für eine Stadt dieser Größe besonders ausgefallenen Größenordnungen, die da entstehen müssen. Nur dass das nötige Geld dafür mühsam zusammengekratzt werden muss, verblüfft schon. Es macht aber auch wieder deutlich, wie sehr die Kommunen von der aktuellen deutschen Finanzpolitik knapp und klamm gehalten werden. Wenn man ein sichtbares Investitionsmanko dieser Größenordnung noch als klamm bezeichnen kann.
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