Schon in den Vorjahren war es so, dass ein nicht unerheblicher Anteil der Leipziger Zuwanderung aus dem Ausland kam. Denn Städte wie Leipzig, die auch für die einheimische Bevölkerung eine hohe Integrationskraft haben, sind natürlich auch für Menschen aus aller Welt attraktiv, die in einem freien Land eine neue Lebensperspektive suchen.

Dass 2015 die Flüchtlinge dafür sorgen würden, die Zahl der Zuwanderer mit Migrationshintergrund deutlich steigen zu lassen, war zu erwarten – von knapp 6.000 im Jahr 2014 stieg sie auf über 10.000. Das wird, wie es aussieht, ein vorläufiger Einmaleffekt bleiben, weil die europäischen Grenzerrichter („Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen“) ja derzeit alles tun, für Flüchtlinge jeden Weg nach Europa zu verstopfen.

Natürlich ist das ignorant, aber es ist Folge eines neoliberalen Denkens, das Menschen konsequent nach ihrer wirtschaftlichen Verwertbarkeit beurteilt. Und das haben nicht nur die Asylsuchenden zu spüren bekommen, sondern auch die Armen, Schlechtgebildeten, Sozialschwachen und jungen Menschen auf dem Kontinent. „Flüchtlingskrise“ prallte auf politische Krise.

Dabei hat Europa wie kein anderer Kontinent das dichteste Netz von Integrationspunkten. Das sind seine Großstädte. Doch selbst die einst von OBM Burkhard Jung feierlich unterzeichnete „Leipzig Charta“, die genau diese nachhaltige – das heißt auch sozial ausbalancierte – Entwicklung der kompakten europäischen Stadt beinhaltete, ist in den Schubladen verschwunden. Selbst die Oberbürgermeister sind wieder zur bloßen Verwaltung des Knappen und Nicht-Ausreichenden übergegangen.

Man ahnt nur, an welcher Schnittstelle der Kontinent 2007 stand – und wie viel politisches Porzellan durch die falsche Bewältigung der Finanzkrise zerdeppert wurde. Besonders in den Köpfen der sogenannten Entscheider, die seitdem einen Großteil ihrer Entscheidungskompetenzen freiwillig abgegeben haben: an den „Markt“, die „Anleger“ und „Investoren“, an „Schiedsgerichte“ und immer mehr an ausgelagerte Entscheidungsgremien und Gutachter, die politische Entscheidungen ohne jegliche demokratische Legitimation fällen.

Die sind auch in Leipzig Legion.

Eine Folge dabei ist: Städte wie Leipzig haben kaum eigenen Gestaltungsspielraum, um Zuwanderung zu organisieren und für die Stadtgesellschaft transparent zu machen. Man reagiert nur noch – von jetzt auf gleich, von der Hand in den Mund.

Wenn Dinge trotzdem funktionieren, hat das mit der Fähigkeit von Menschen zu tun, sich selbst trotz aller Widerstände zu organisieren, sich um Wohnung, Ausbildung, Arbeitsplatz zu bemühen, sich in Netzwerken zu unterstützen und nicht aufzugeben. Und so entstehen auch in Leipzig zahlreiche Netzwerke und Welten unterschiedlichster Kulturen, von denen der eilig Durchreisende stets nur die Oberfläche sieht.

Mittlerweile leben (Stand 2015) 69.988 Menschen mit Migrationshintergrund in Leipzig. Migrationshintergrund heißt lediglich: Der Geburtsort liegt im Ausland. Der Pass kann längst ein deutscher sein.

Offiziell als Ausländer gezählt wurden 46.029 Menschen, davon übrigens 14.497 Mehrstaatler, Menschen mit mindestens zwei Pässen.

Die meisten Leipziger mit Migrationshintergrund nimmt man überhaupt nicht wahr. Das sind nämlich Menschen aus der Russischen Föderation, zumeist Spätaussiedler. Mit 7.720 Angehörigen bildet die Gruppe längst die größte Migrantengruppe in Leipzig. Nur das Jahr 2015 hat dazu geführt, dass mittlerweile die Syrer mit 4.474 Menschen die zweitgrößte Migrantengruppe sind, die zwei andere, ebenso kaum wahrnehmbare Migrantengruppen überholt hat – die polnische mit 4.031 Angehörigen und die ukrainische mit 3.296.

Womit der Blick schon auf die Tatsache gelenkt wird, dass Leipzig eben nicht nur neue Heimat für Menschen aus den Kriegsländern Syrien und Irak ist, sondern auch für Flüchtlinge aus dutzenden anderen Krisenherden der Welt. Denn während die deutschen Medien wie gebannt auf die Untaten des IS in Syrien und Irak starren, stecken andere Länder seit Jahren in bürgerkriegsähnlichen und/oder diktatorischen Verhältnissen. Die Ukraine gehört natürlich dazu. Auch die Migration aus der Ukraine ist 2015 wieder angestiegen – allein 100 Menschen kamen von dort, um in Leipzig neu zu beginnen.

In der „Hitliste“ der Zunahme der Migrantenströme liegt die Ukraine damit 2015 nur auf Platz 25. Noch stärker war der Zuzug aus Afghanistan (+ 833), Rumänien (+ 546), Irak (+ 512) und mittlerweile auch wieder Polen (+ 489).

Was den Blick auf die europäische Misere lenkt. Denn überall dort, wo sich neue autokratische Systeme etablieren, beginnt natürlich das große Kofferpacken.

Neben Polen fällt da Bulgarien auf (+ 187), die Türkei (+ 128) und natürlich Ungarn (+ 102). Die Probleme von destabilisierten Gesellschaften liegen schon längst nicht mehr nur außerhalb der EU, sondern brodeln mittendrin. Und wo es noch nicht zum politischen Rollback gekommen ist, sorgen die erstarrten wirtschaftlichen Verhältnisse und eine völlig irrsinnige Austeritätspolitik dafür, dass Menschen aus wirtschaftlichen Gründen abwandern.

Und da findet man mittlerweile neben den üblichen „Krisenländern“ Griechenland ( + 141), Italien ( + 199) und Spanien (+ 162) auch Länder wie Frankreich (+ 151) und Großbritannien (+ 119). Die obligaten Staatsmänner tun ja bis heute so, als hätten sie mit ihrer Art Wirtschaftspolitik die Sache im Griff.

Aber für viele junge Menschen ist das sichtlich nicht so. Sie nutzen die Chance, sogar im braven Sachsen einen Neuanfang zu wagen. Einige von ihnen kommen natürlich wegen des Studiums nach Leipzig – aber das betrifft eher Russen, Italiener und Franzosen. Die anderen scheinen ganz ähnliche Wanderungsmuster zu haben wie all die Zuwanderer aus deutschen Landen: Für sie ist die (noch) funktionierende Großstadt mit ihren Arbeitsplätzen und Möglichkeiten zur Unternehmensgründung das Ziel, bestimmt auch der noch existente Ruf als Kulturstadt.

Und wenn man die rund 4.500 als arbeitslos registrierten Ausländer daneben legt, ahnt man, wie gut die Integrations-Maschine Leipzig eigentlich funktioniert. Und das auch deswegen, weil die meisten Menschen, die sich auf die Wanderschaft machen, nun einmal jung sind, in einem Alter, in dem man auch noch fremde Sprachen lernen kann und bereit ist, sich auf ein neues Leben, eine neue Umgebung, eine neue Kultur einzulassen.

Denn auch wenn die Hardliner vom rechten Rand (der in Sachsen ja bekanntlich ziemlich dick ist) glauben, sie müssten den Ausländern erst einmal ihre Kultur aufzwingen (die auch im An- & Verkauf eigentlich niemand haben möchte), lassen sich fast alle Menschen mit Migrationshintergrund bewusst und ziemlich zwangsläufig auf unsere Kultur ein. Sie begegnen in der Regel sogar als erster der schrecklichsten Kultur, die wir haben: unserer Bürokratie. Und da sie fast alle auch Familien gründen und Kinder haben oder bekommen, begegnen sie zwangsläufig auch ziemlich schnell der sächsischen Bildungslandschaft.

Aber da dürfte so Mancher verblüfft sein, wenn er aus dem zugehörigen Beitrag von Andreas Martin im neuen Quartalsbericht erfährt, dass von den unter 10-jährigen Leipzigern mit Migrationshintergrund rund zwei Drittel schon die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen – das heißt: Oft wurden sie schon in Deutschland geboren und nur ihre Eltern haben noch einen Geburtsort im Ausland. Oder die Familie ist mittlerweile schon so lange in Leipzig, dass alle die deutsche Staatsbürgerschaft erworben haben.

Bei den 10- bis 20-Jährigen haben immerhin 51,6 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine deutsche Staatszugehörigkeit.

Wobei nicht ganz unwichtig ist, zu erwähnen, dass schon funktionierende Netzwerkstrukturen natürlich auch Neuankömmlingen helfen, in Leipzig Tritt zu fassen. Und zu diesen Strukturen gehören eben nicht nur Religionsgemeinschaften, sondern oft genug auch Vereine und Kulturzentren, in denen auch wieder Sprach- und Integrationskurse und Sozialberatung vermittelt werden.

Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Leipzig ist übrigens von 10 Prozent im Jahr 2013 auf 12,3 Prozent gestiegen. Und es sieht ganz so aus, dass diese Menschen Leipzig in allen Bereichen bereichern – auch wenn sie in Teilen des städtischen Lebens noch immer nicht präsent sind.

Der Statistische Quartalsbericht I / 2016 ist im Internet unter www.leipzig.de/statistik unter „Veröffentlichungen“ einzusehen. Er ist zudem für 7 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) beim Amt für Statistik und Wahlen erhältlich.

In eigener Sache

Jetzt bis 9. Juni (23:59 Uhr) für 49,50 Euro im Jahr die L-IZ.de & die LEIPZIGER ZEITUNG zusammen abonnieren, Prämien, wie zB. T-Shirts von den „Hooligans Gegen Satzbau“, Schwarwels neues Karikaturenbuch & den Film „Leipzig von oben“ oder den Krimi „Trauma“ aus dem fhl Verlag abstauben. Einige Argumente, um Unterstützer von lokalem Journalismus zu werden, gibt es hier.

Überzeugt? Dann hier lang zu einem Abo …

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar