Nicht nur bei Infrastrukturen macht das völlig gegenläufige Entwicklungsmuster sächsischen Kommunen zu schaffen: die ländlichen Regionen bluten aus, einige städtische Wachstumspunkte ragen rot aus dem Meer der blauen Trauer. Das macht logischerweise auch den Wohnungsgenossenschaften zu schaffen. Am Donnerstag, 23. Juni, haben sie eine Studie zu dem Thema vorgestellt.

Die Sächsische Aufbaubank (SAB), der Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften e. V. (VSWG) und der vdw Sachsen Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft e.V. (vdw Sachsen) hatten die empirica-Studie zum Thema „Schwarmverhalten in Sachsen“ gemeinsam beauftragt.

Neu ist das nicht. Aber in dieser Genauigkeit hat das noch keiner untersucht.

Aber wenn man begreift, wie sich Sachsen derzeit verändert, dann kann man eigentlich auch gegensteuern.

Die „Schwarmstadt“ der Zukunft

Das Land Sachsen spaltet sich demografisch, heißt es denn nun auch in der Zusammenfassung der Studienergebnisse. Und jetzt kommt neu der Begriff Schwarmstadt ins Spiel. Der Begriff stammt irgendwo aus dem Umfeld des GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Der hat sich 2015 schon einmal ausführlich mit dem Phänomen beschäftigt, dass es vor allem junge Leute in die (Groß-)Städte zieht. Die wachsen mittlerweile mit einem erstaunlichen Tempo, werden zu „Schwarmstädten“ – aber große Flächen der Bundesrepublik verlieren immer stärker an Bevölkerung.

„Ein solch starkes und schnelles Wachstum von ausgewählten Städten in Deutschland hat es, abgesehen von der Flüchtlingswanderung zum Ende des Zweiten Weltkrieges, seit mehr als 100 Jahren nicht mehr gegeben“,  fasst Prof. Dr. Harald Simons, Vorstand der empirica AG, die Ergebnisse der Studie zusammen.

Diese Bevölkerungsverschiebung im Raum zugunsten einiger, weniger Städte und zulasten aller anderen Gemeinden stellt sämtliche öffentlichen und privaten Leistungsanbieter vor erhebliche und neue Aufgaben. In den ausblutenden Regionen wird die dort vorhandene Infrastruktur – von Schulen über Abwassersysteme und Bürgerämter bis hin zum Wohnungsmarkt – immer weniger ausgelastet und dies in einer viel größeren Geschwindigkeit als bislang angenommen.

Auf der anderen Seite reichen in den Schwarmstädten die Kapazitäten nicht aus: Die Wohnungsmärkte spannen sich an, die ausreichende Versorgung mit Kita- und Schulplätzen ist gefährdet, Bauämter müssen ihre Kapazitäten ausbauen, erhebliche Investitionen in die öffentliche und private Infrastruktur sind nötig. Genau das passiert ja in Leipzig.

Gegen den Trend stellen?

„Das Schwarmverhalten entwertet öffentliche und private Vermögen bei gleichzeitigem Investitionsbedarf. Die Landespolitik sollte versuchen, sich gegen diesen Trend zu stellen“, meint Prof. Dr. Simons.

Es ist zwar eine ernsthafte Studie. Aber manchmal sind auch Wissenschaftler Traumtänzer. Denn Simons Problem ist: Er sieht nicht die Antriebskräfte, die hier am Wirken sind. Und die sind deutlich stärker als alle Versuche einer Landesregierung, so eine Entwicklung zu stoppen. Denn nichts anderes hat ja die sächsische Regierung seit Jahren getan.

Doch je mehr sie versucht hat zu bremsen, umso mehr hat sich die Flucht aus den ländlichen Räumen verstärkt.

Was freilich fehlt (und das kommt in der Studie auch nicht vor), sind Ideen, wie man das Wohnen in ländlichen Regionen wieder attraktiv machen kann – auch für junge Menschen.

Die Entwicklung der Einwohnerzahlen in Leipzig und Dresden, die nach Jahren des Rückganges wieder stark gestiegen sind, führen schon seit einigen Jahren zu Diskussionen der Wohnraumversorgung in den Ballungszentren. Gleichzeitig sank die Einwohnerzahl des Freistaates Sachsen mit leichter Rate, so dass das starke Wachstum der beiden größten Städte des Landes aus einer Umverteilung der Bevölkerung innerhalb Sachsens herrühren muss.

„Diese Umverteilung der Bevölkerung zulasten fast aller Landesteile und zugunsten ausgewählter Städte nennen wir Schwarmverhalten. Der Begriff deutet an, dass aus allen Landesteilen einzelne Personen wie Vögel aufsteigen, einen Schwarm bilden und dieser sich in ausgewählten Schwarmstädten niederlässt“, versucht Prof. Dr. Harald Simons das Phänomen zu erklären.

Schwarmstädte und Wachstumsstädte im Freistaat Sachsen

Insgesamt existieren in Sachsen vier Schwarmstädte: Leipzig, Dresden, Freiberg und Chemnitz, die von 2009 bis 2014 eine Kohortenwachstumsrate von mehr als 200 nachwiesen. Um den Fakt an dieser Stelle nicht zu vergessen: Alle vier sind Universitätsstädte. Das Bild von den aufsteigenden Vögeln ist nämlich falsch. Die jungen Leute zieht es in diese Städte, weil sie hier genau die Berufsfelder studieren können, die die moderne Wirtschaft in Sachsen braucht.

Moderne Wirtschaft aber findet immer stärker auch wieder in diesen „Schwarmstädten“ statt, weil sich hier bei den Hochschulen auch die Forschungseinrichtungen und die modernen Wirtschaftscluster ansiedeln. Natürlich geht es um reine Wirtschaft. Aber wem soll man das in Sachsen eigentlich erklären, wenn keiner zuhört?

Die empirica-Studie wird daran nichts ändern, weil das falsche Bild vom „Schwarm“ auch zu falschen Betrachtungsweisen führt.

Kleiner Nebeneffekt der Studie: Es gibt auch noch ein paar andere Wachstumskommunen.

Neben den Schwarmstädten gewinnen weitere neun Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern durch das Schwarmverhalten Einwohner hinzu. Dies sind zum einen Gemeinden im direkten Umland von Dresden und Leipzig (Freital, Radebeul, Markkleeberg), die als Erweiterung der Schwarmstädte angesehen werden können. Zum anderen sind dies Meißen, Görlitz, Plauen, Pirna, Glauchau und Zwickau, bei denen grundsätzlich von einer eigenen Anziehungskraft gegenüber ihrem eigenen Hinterland auszugehen ist.

Die Lage macht’s.

Denn 11 der 24 Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern in Sachsen verlieren trotzdem weiter Einwohner durch Wanderungen. In Döbeln, Bautzen, Zittau, Coswig und Delitzsch ist der Verlust noch moderat. Annaberg-Buchholz, Werdau und Limbach-Oberfrohna verlieren schon deutlich stärker Einwohner. Sehr stark verlieren die Städte Riesa und Grimma.

Wobei auch hier die Daten täuschen können. Denn erfasst wurden für Sachsen die Jahre 2009 bis 2014. In dieser Zeitspanne hat für einige der genannten Kleinstädte erst der Wechsel vom Schrumpfen zum Wachsen stattgefunden (Borna zum Beispiel). Es sieht ganz so aus, dass auch noch einige andere Städte wieder auf Wachstum umschalten werden. Denn – das zeigt die Studie nicht – das hängt auch stark von der verkehrlichen Anbindung an die „Schwarmstädte“ ab.

Je weiter „ab vom Schuss“ Kommunen liegen, umso eher werden sie von starker Abwanderung geprägt. Die Stadt Hoyerswerda kann aufgrund einer Kohortenwachstumsrate von nur 39 (d.h. von 100 dort aufgewachsenen Personen werden 61 die Stadt im Saldo verlassen) möglicherweise zu einer Gruppe von Gemeinden gehören, bei denen von einer Fluchtwanderung ausgegangen werden kann, so empirica.

In der Gemeindegrößenklasse unter 20.000 Einwohner haben Rötha, Taucha, Heidenau, Wülknitz, Schneeberg, Großschweidnitz, Radeberg, Schkeuditz, Kreischa, Glaubitz, Aue, Zwenkau, Arnsdorf, Weinböhla und Borsdorf eine Kohortenwachstumsrate von über 100. Allerdings sind von diesen Gemeinden auch wieder neun im direkten Umland von Leipzig oder Dresden, weitere drei beherbergen besondere Einrichtungen (Medizinische Versorgungseinrichtung von überregionaler Bedeutung, Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber).

„Versteckte Perlen“

Was empirica jetzt erstmals deutlicher beleuchtet, ist, dass es durchaus eine Reihe Städtchen in Lauerstellung gibt: Das sind Gemeinden, die auf der einen Seite zwar Einwohner gewinnen, dieser Gewinn aber nicht ausreicht, um die Wanderungsverluste gegenüber den Schwarmstädten auszugleichen. Diese Gruppe wird „Verstecke Perlen“ genannt.

Während die Schwarmstädte praktisch gegenüber allen Städten und Gemeinden an Einwohnern hinzugewinnen, gewinnen die Wachstumsstädte und „Versteckten Perlen“ gegenüber einer Vielzahl an ausblutenden Städten und Gemeinden Einwohner, verlieren aber an die Schwarmstädte. Bei Wachstumsstädten ist der Saldo derzeit positiv, bei „Versteckten Perlen“ hingegen negativ. Zu den „Versteckten Perlen“ als Kristallisationspunkte in den ausblutenden Regionen zählen die elf Gemeinden Borna, Döbeln, Stollberg/Erzgebirge, Bautzen, Markranstädt, Eilenburg, Wurzen, Hohenstein-Ernstthal, Mittweida, Delitzsch und Bischofswerda.

Man merkt, dass die Daten von 2014 stammen. Markranstädt hat sich längst zur wachsenden Kleinstadt entwickelt, Eilenburg könnte dem bald folgen.

Schrumpfungsregionen und ausblutende Gemeinden: Die Zahlen

Zu den Verlierern des Schwarmverhaltens zählen insgesamt 391 Gemeinden mit insgesamt rund 1,9 Millionen Einwohnern, die praktisch in alle Richtungen Einwohner verlieren. In diesen Schrumpfungsregionen wohnen derzeit 48 Prozent der Einwohner Sachsens. Verlierer sind mit der Ausnahme der Suburbanisierungsgemeinden um Leipzig und Dresden sämtliche Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern und 29 von 44 der Gemeinden zwischen 10.000 und 20.000 Einwohnern sowie die größeren Städte Hoyerswerda, Riesa, Grimma, Zittau, Limbach-Oberfrohna, Werdau, Coswig und Annaberg-Buchholz. Diese dürften weiter schnell schrumpfen.

Im Umkehrschluss heißt das: 52 Prozent bzw. über 2 Millionen Sachsen wohnen jetzt schon in Wachstumsstädten und ihrer Umgebung.

Und das werden noch mehr.

Was – wie man weiß – auch die „Schwarmstädte“ überfordert, wenn der Staat nicht von seiner Gießkannenpolitik lassen will.

Rainer Seifert, Direktor des vdw Sachsen Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft e.V. mahnt: „In Leipzig und Dresden zeichnet sich ab, dass vor allem im Bereich der Sozialwohnungen Neubauten notwendig werden. Der vdw Sachsen spricht sich daher für die Neugründung einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft in Dresden aus. Doch auch in anderen Regionen und ländlichen Gebieten Sachsens brauchen wir Unterstützung für Sanierungen und den Um- und Neubau von Wohnungen, selbst wenn dort der Leerstand höher ist. Der Fokus sollte hier auf kinderfreundliche und gleichzeitig altersgerechte innovative Projekte mit individuellerem Charakter liegen. Dabei geht es vor allem darum, auch den Menschen ein passendes Zuhause zu bieten, deren Ansprüche sich verändert haben. Wenn es solche Angebote nur noch in den Ballungsräumen gibt, würde sich der Trend vom Wegzug und der Landflucht – auch von derzeit fest verankerten ganzen Familien und Leistungsträgern dieser Regionen – noch zusätzlich verstärken. Das muss verhindert werden.“

Der Trend wird sich trotzdem verstärken, denn diese jungen Familien brauchen deutlich mehr funktionierende Infrastrukturen als nur eine schöne Wohnung.

Deswegen macht empirica ein paar ganz andere Vorschläge und fordert: Endlich weg vom „Gießkannenprinzip“.  Auch in den schrumpfenden Regionen sollte man sich auf wenige Städte, möglichst die „versteckten Perlen“, konzentrieren und sie stärken. Die Wohltäterei für alle führt nur zu verzettelten Strukturen, es solle möglichst keine Funktionsteilungen, keine Städtenetzwerke, keine Zersplitterung geben, so empirica. „Ausgewählte Zentren müssen eine echte Chance haben.“

Das läuft – übrigens in ganz Deutschland – auf neue Strukturen hinaus. Oder mit den Worten von empirica: „Wachstumsstädte und versteckte Perlen bilden die Ankerpunkte in ansonsten ausblutenden Regionen.“ Sie werden das neue tragende Gerüst für die ganze Region und jede Landesregierung ist gut beraten, wenn sie die „Erhaltung und weitere Stärkung ihrer Position im regionalen Gefüge“ ins Auge fasst.

Die Pressemitteilung mit den Statements.

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