Der erwähnte kluge Kollege, der da am Dienstag, 12. April, bei Vorstellung des Schnellberichts zur „Bürgerumfrage 2015“ seine Frage stellte, ist Helge-Heinz Heinker. Seit Jahren treibt ihn der Zweifel um: Wie aussagekräftig sind eigentlich Leipzigs Bürgerumfragen, wenn sie freiwillig sind?
Denn Leipzigs Bürgerumfragen sind freiwillig. 18.000 Leipzigerinnen und Leipziger wurden 2015 angeschrieben, 7.515 haben die Fragebögen entweder ausgefüllt zurückgeschickt oder die Umfrage im Internet beantwortet. Das sind knapp 45 Prozent. „Wir sind ja froh, dass die Leipziger so auskunftsfreudig sind“, sagt Dr. Andrea Schultz, Abteilungsleiterin Stadtforschung im Amt für Statistik und Wahlen.
Immerhin leben wir in Zeiten, in denen die großen privaten Datenkraken alles aufsaugen, was sie an Informationen über die Konsumenten bekommen können, Geheimdienste erst recht keine Rücksicht mehr auf Privatsphäre nehmen, andererseits aber Milliarden Nutzer auch alle möglichen privaten Dinge im Internet preisgeben. Nur an einer Stelle scheint das Misstrauen zu wachsen: Wenn der Staat tatsächlich nur statistische Daten sammelt.
Mit Betonung auf „nur“. Denn selbst wenn das in einer Pflichtbefragung erfolgt wie im Zensus 2011, werden die Daten anonymisiert und lassen sich nicht mehr mit den konkreten Teilnehmer der Befragung in Verbindung bringen. „Darüber wacht bei uns schon der Datenschutzbeauftragte“, sagt Andrea Schultz.
Trotzdem halten sich – seit vier Jahren verstärkt – wieder mehr Leipziger zurück, die Fragebögen aus dem Amt für Statistik und Wahlen auszufüllen.
Eine These könnte ja lauten: Das sind eh vor allem Menschen, die wenig Zeit haben, keinen Nerv für Kleingedrucktes, vielleicht auch eher eine niedrigere Bildung oder ein niedriges Einkommen oder beides.
Dem könne man begegnen, so Andrea Schultz, indem man die grundsätzlichen Abweichungen aus den Datensätzen herausrechne – also soziale Gruppen wie Arbeitslose oder Niedrigverdiener stärker wichtet, dafür Gruppen, die übereifrig geantwortet haben, statistisch dämpfe, sodass ein einigermaßen ausgewogener Querschnitt der Leipziger Bevölkerung zustande käme.
Aber da ist noch das mulmige Gefühl, das einen beschleicht, wenn man die Befragung zu Lebenszufriedenheit und Zukunftssicht der Leipziger betrachtet. Über die Zahlen hat schon Andreas Müller, als Verwaltungsbürgermeister der Amtsvorgänger von Ulrich Hörning, immer gestaunt. Diesmal staunte Ulrich Hörning und fand die Zahlen gut. Da sei wohl die Stadt Leipzig auf gutem Weg und die Bürger würden goutieren, dass es der Stadt und ihrem eigenen Portemonnaie immer besser geht.
2015 wurde mit der Bürgerumfrage ein neuer Spitzenwert für die Lebenszufriedenheit ermittelt: 79 Prozent der Befragten gaben an, mit ihren Leben „zufrieden“ bzw. „sehr zufrieden“ zu sein. Der Wert ist seit 2005 kontinuierlich geklettert – von damals 53 Prozent über 70 Prozent im Jahr 2009 auf diesen neuen Spitzenwert.
Gleichzeitig stieg auch der Wert für die Zukunftssicht („eher optimistisch“ und „optimistisch“) von 49 Prozent im Jahr 2008 auf 65 Prozent im Jahr 2014. 2015 gab es einen leichten Dämpfer auf 64 Prozent.
Aber egal, wie man sich die Zahlen anschaut: Die Stadt müsste voller Leute sein, die mit breitem, zufriedenen Grinsen durch die Straßen laufen, weil alles zu ihrer Zufriedenheit läuft.
Und dann schaut man sich um.
Und sieht haufenweise grimmige, verlebte, müde Gesichter.
Das passt nicht zusammen.
Eine These könnte ja sein: Nur ein kleiner Teil der Fragebogenausfüller hat auch diese Fragen angekreuzt. Aber das ist nicht der Fall. Fast alle Leute, die die Fragebögen zu den Bürgerumfragen beantworten, füllen auch diese Kästchen aus.
Es ist auch nicht so, dass die meisten Ausfüller das Kästchen „teils/teils“ angekreuzt haben. Das taten in den Vorjahren immer nur zwischen 16 und 18 Prozent. Das wird 2015 nicht anders gewesen sein.
So dass sich die Frage von Helge-Heinz Heinker regelrecht aufdrängt: Kann es sein, dass die Ergebnisse der Bürgerumfrage verzerrt sind, weil ein bestimmter Teil der Leipziger einfach nicht mehr mitmacht?
Und das nicht aus Gründen von „Hartz IV“ oder niedrigem Bildungsstand usw.
Sondern aus anderen Gründen.
Zum Beispiel dem hier: Mir gefallen diese Fragen nicht. Sie bilden meine Welt falsch ab und führen sowieso zu keinen Veränderungen.
Leipzigs Stadtverwaltung verspricht zwar immer wieder, man werde sich die Ergebnisse genau anschauen und daraus Handlungsempfehlungen ableiten.
Aber was passiert, wenn genau das in der Wahrnehmung etlicher Leipziger nicht passiert?
Oder wenn Probleme, die bestimmte Leipziger Bevölkerungsgruppen ganz offensichtlich haben, jedes Mal marginalisiert werden, weil andere Problemfelder „mehrheitsfähiger“ waren?
Das wird deutlich, wenn mit jeder Bürgerumfrage die „größten Probleme“ der Stadt in einer richtigen Hitliste sortiert werden und am Ende doch immer nur die Probleme „die größte Mehrheit“ finden, die von den üblichen Leipziger Leitmedien auch am häufigsten thematisiert, problematisiert und durchgekaut werden:
- Kriminalität und Sicherheit
2. Straßenzustand
3. Kindertagesstätten
Das war die Reihung 2014. 2015 steht da:
- Kriminalität und Sicherheit
2. Straßenzustand
3. Zusammenleben mit Ausländern
Sind das wirklich „die größten Probleme der Stadt“? Man darf zweifeln. Es sind die „Probleme“, über die am meisten geredet wird. Stünde da irgendwo noch „Wetter“ zum Ankreuzen, wäre wohl Wetter auf Platz 1.
Das „Zusammenleben mit Ausländern“ lag in den Vorjahren recht weit hinten in der Problemwahrnehmung der Leipziger – 2014 zum Beispiel auf Platz 9.
Und jetzt dürfen alle mal stutzen: mit 24 Prozent.
2015 ist es auf Rang 3 gerutscht. Mit: 24 Prozent der Nennungen.
Oh, wir wissen jetzt schon, was die Leipziger Leitmedien aus dieser Zahl machen werden (oder gemacht haben werden, den Text haben wir ja schon gestern Nachmittag geschrieben).
Und sie werden vielleicht erwähnen, dass die Bürgerumfrage im November 2015 begann, als die Flüchtlingsdebatte in den deutschen Medien erst so richtig hochkochte.
Aber sie werden nicht nachschauen, wie die Prozentwerte im Vorjahr waren.
Tatsächlich hat sich gar nichts geändert: 2015 haben prozentual genauso viele Leipziger ihre Probleme (oder ihre Problemwahrnehmung) in Bezug auf Ausländer wie im Vorjahr.
Aber was hat sich geändert?
Alle anderen Problemfelder, die 2014 zwischen „Straßenzustand“ und „Zusammenleben mit Ausländern“ landeten, wurden 2015 von deutlich weniger Leipzigern noch als Problem angekreuzt: die Prozentwerte sind durch die Bank gefallen.
Mit den Kindertagesstätten angefangen: 2014 noch von 34 Prozent der Befragten angekreuzt, 2015 nur noch von 18 Prozent. Straßenbaustellen waren 2014 für 30 Prozent ein Problem, 2015 auf einmal nur noch für 12 Prozent. Die (fehlenden) Schulen machten 2014 noch 26 Prozent der Befragten Sorgen, 2015 nur noch 14 Prozent.
Usw.
Das lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Was hier jedes Jahr abgefragt wird mit der Frage „Wo gibt es Ihrer Meinung nach die größten Probleme in der Stadt Leipzig?“ sind gar nicht die größten Probleme, die die Befragten wirklich wahrnehmen.
Sondern es ist ein sauberes Spiegelbild der medialen Problemwahrnehmung in Leipzig: Die Probleme, die von den vorherrschenden Medien am stärksten und häufigsten problematisiert werden, werden von den meisten Leipzigern dann auch als Problem reflektiert.
Tatsächlich bekommt Leipzigs Verwaltung mit dieser Problemliste ein völlig falsches Bild dessen, was in Leipzig wirklich ein Problem ist.
Das ist sogar der Fall, wenn ein Topos wie „Wohnkosten“ unverhofft von Rang 13 auf Rang 6 springt.
Da muss man auch ins Jahr 2014 springen und sieht: Beide Male haben genau 18 Prozent der Befragten hier ihr Kreuz gemacht.
Was zumindest vermuten lässt, dass hinter einigen der angeboten Begriffe tatsächlich echte Betroffenheit steckt, wenn die Fragebogenausfüller hier ihr Kreuz machen. Wie bei „Wohnkosten“. Oder „Öffentlicher Nahverkehr“, der mit 8 Prozent der Nennungen nur auf Rang 16 steht.
Der Wert steigt übrigens seit Jahren, lag 2010 bei 4 Prozent und 2012 bei 5 Prozent.
Das heißt: Hier mischen sich die tatsächlich von einem Teil der Leipziger erlebten Probleme mit denen der medialen Problematisierung. Leipzigs Verwaltung bekommt also so eine Art Problemgemüseladen, der dann – wenn die problematisierenden Medien wieder über diese Umfrage berichten – wieder problematisiert wird, so dass die Stadt Leipzig sich permanent über Probleme unterhält, die eigentlich nicht wirklich die wichtigsten sind. Dafür werden andere Probleme, die für einzelne Bevölkerungsgruppen tatsächlich brennend sind, einfach mit breitem Hintern ausgesessen, weil sie nur auf Rang 16, 17 oder 18 der Hitliste auftauchen.
Und so abwegig ist die Frage dann nicht: Kann es sein, dass ein guter Teil der Leipziger, die den Fragebogen zugeschickt bekommen, das Ding einfach in die Tonne pfeffern, weil sie das Gefühl nicht mehr loswerden, dass sich ihre Verwaltung um ihre Probleme gar nicht mehr kümmern will?
Die Frage lassen wir hier einfach mal so stehen.
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