Bevor am heutigen Mittwoch, 20. April, auch die Stadt Leipzig ihre neue Bevölkerungsprognose vorlegt, hat am Dienstag, 19. April, Innenminister Markus Ulbig das Kabinett über die Ergebnisse der „6. Regionalisierten Bevölkerungsvorausberechnung für den Freistaat Sachsen bis 2030“ informiert. Dabei glaubt jetzt sogar die Staatsregierung endlich, dass Leipzig auf 600.000 Einwohner anwächst.

Aber das wichtigste Ergebnis ist eine längst überfällige Korrektur. Denn bislang beruhte die sächsische Politik auf der völlig falschen Annahme, dass die Bevölkerung drastisch unter die 4-Millionen-Marke fallen würde. Darauf waren alle Einsparprogramme seit 2009 aufgebaut. Dass Sachsen keineswegs in diesem wilden Tempo schrumpft, war eigentlich damals schon klar.

Was aber bis heute den Regierenden nicht klar ist, ist, dass sie an der demografischen Wende nicht den geringsten Anteil haben.

Trotzdem schrieb sich Innenminister Markus Ulbig (CDU) diese völlig andere Entwicklung einfach mal auf die politischen Fahnen: „Wir haben in Sachsen den dramatischen Bevölkerungsrückgang der vergangenen 25 Jahre gestoppt. Dennoch bleibt die demographische Entwicklung für uns eine große Herausforderung. Während die Zahl der Einwohner von 4,78 Millionen im Jahr 1990 bis auf 4,06 Millionen Ende 2014 permanent nach unten gegangen ist, haben wir im vergangenen Jahr erstmals einen leichten Anstieg von rund 10.000 bei der Bevölkerungszahl verbuchen können. Im günstigsten Fall würde sich dieser Trend in den kommenden vier Jahren fortsetzen, so dass 2020 wieder deutlich mehr als 4,1 Millionen Menschen bei uns leben könnten.“

Die traurige Bilanz ist tatsächlich: Die Trendwende gab es trotz einer vom Sparwahn berauschten Landespolitik. Die Landesregierung hat trotz allen Geredes über demografische Entwicklungen bis heute kein nachvollziehbares Programm vorgelegt, wie man der verheerenden Entwicklungen im Land eigentlich Herr werden will.

Denn der Zuwachs seit 2014 generiert sich vor allem durch Zuwanderung aus dem Ausland – und die wird gerade von Markus Ulbig mit mehr als großem Misstrauen betrachtet. Dass die Abwanderungszahlen endlich zurückgegangen sind, hat hingegen ganz allein mit den halbierten Geburtenraten der 1990er Jahre zu tun, die es den jungen Ausbildungswilligen seit 2010 geradezu komfortabel machen, in Sachsen einen Ausbildungsplatz und eine Arbeit zu finden.

Alte Interpretationen für neue Entwicklungen

Aber das sieht Markus Ulbig nicht ganz so. Als Hauptursachen für diese Entwicklung nannte er vor allem die anhaltend hohe Geburtenrate in Sachsen, den positiven Wanderungssaldo, die erhöhte Zuwanderung und die weiter steigende Lebenserwartung.

„Mit 1,57 Kindern je Frau liegt Sachsen bundesweit an der Spitze bei der Geburtenrate und das seit Jahren. Natürlich wirkt sich auch die hohe Zuwanderung im vergangenen Jahr in Sachsen aus. Auch wenn sich bisher nur schwer abschätzen lässt, wie stark. Für 2015 wird mit insgesamt 80.000 Zuzügen aus dem Ausland das Vierfache des Mittelwerts der vergangenen zehn Jahre erwartet“, sagte er am Dienstag. „Hinzu kommt das anhaltend positive sächsische Saldo bei den Zu- und Fortzügen zwischen den Bundesländern. Schließlich steigt die durchschnittliche Lebenserwartung immer weiter. Liegt sie derzeit bei 77 Jahren und vier Monaten für Männer und bei 83 Jahren und vier Monaten für Frauen, wird sie bis 2030 um jeweils knapp drei weitere Jahre ansteigen.“

Die Geburtenrate liegt mit 1,57 Kindern pro Frau noch lange viel zu niedrig, um auch nur eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl zu erreichen. Schon gar nicht in den ländlichen Regionen, aus denen seit zehn Jahren gerade die jungen Leute mit Sack und Pack abwandern, die nicht nur an Bevölkerung verarmen, sondern regelrecht vergreisen. Wenn sich nichts tut und diese Regierung nicht endlich andere Rezepte vorlegt, das Problem anzugehen.

„Während die Gruppe der Menschen im hauptarbeitsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren bis 2030 um etwa 16 Prozent zurückgehen wird, steigt der Anteil der Senioren, die 65 und älter sind, im gleichen Zeitraum um rund 17 Prozent. Diese umgekehrte Proportionalität ist insbesondere für unsere Wirtschaft und unser Sozialsystem eine echte Herausforderung“, meinte Ulbig.

Wer fühlt sich für die „Unwucht“ eigentlich verantwortlich?

Und dass es da eine „Unwucht“ zwischen der Bevölkerungsentwicklung in den Großstädten und im ländlichen Raum gibt, hat er zumindest erkannt. „Während die beiden Großstädte Leipzig und Dresden immer weiter wachsen, wird sich der Bevölkerungsschwund in den kleineren Kommunen weiter fortsetzen. Auch diese Entwicklung stellt unsere Städte und Gemeinden zunehmend vor Probleme“, sagte er.

Leipzig wird übrigens bis 2020 nun eine Bevölkerungszahl von 602.000 vorausgesagt, Dresden eine von 582.000.

Bis 2030 – so die Prognose – könnte Leipzig auf kurz mal 618.000 Einwohner kommen und dann wieder schrumpfen.

Dazu sagen wir an der Stelle nur eins: Das wird so nicht eintreffen. Die sächsischen Statistiker, die sich in ihren Berechnungen auf das Bundesamt für Statistik berufen, nehmen die eigentlichen demografischen Trends auch im Jahr 2016 immer noch nicht ernst. Gerade weil auch die sächsische Regierung keine Rezepte für das „demografische Problem”“ hat, wird Leipzig sogar deutlich über die 618.000 hinauswachsen. Man könnte ja richtig frech sein und hier einfach hinschreiben: Dafür sorgt schon der Markt.

Das haben wir hiermit auch getan.

Einige Kernaussagen der 6. Bevölkerungsvorausberechnung:

Der Bevölkerungsrückgang in Sachsen verläuft langsamer als in den vorherigen Berechnungen ermittelt, setzt sich aber fort. Im September 2015 lag die Einwohnerzahl bei rund 4,07 Millionen Personen. Die Einwohnerzahl wird je nach Variante im Jahr 2022 beziehungsweise 2030 unter vier Millionen Einwohner sinken.

Zu- und Fortzüge zwischen den Gemeinden in Sachsen verlaufen alters- und geschlechtsspezifisch sowie räumlich selektiv. Grundsätzlich konzentriert sich die Abwanderung stärker auf jüngere Altersgruppen. Es wandern mehr Frauen als Männer ab. Der Wegzug fokussiert sich regional auf ländliche und strukturschwache Regionen. Für 2030 wird davon ausgegangen, dass insbesondere die Oberzentren Dresden und Leipzig für junge Menschen attraktiv bleiben. Mit Chemnitz tun sich die Statistiker schwer und sagen der Stadt mit einem kleinen Gipfel von 249.000 im Jahr 2020 danach wieder einen deutlichen Bevölkerungsrückgang voraus.

Wenn alles so bleibt wie bisher, dann trifft partiell auch das zu: Der Bevölkerungsrückgang wird von einer fortgesetzten Alterung der Bevölkerung begleitet. Das Durchschnittsalter steigt von 46,7 Jahren im Jahr 2014 bis auf 47,6 Jahre beziehungsweise 48,1 Jahre im Jahr 2030.

Was hat Sachsens Regierung da also eigentlich gestoppt?

Eigentlich doch gar nichts.

Regionale Disparitäten?

Man schaut nur mit zunehmendem Entsetzen auf eine Entwicklung, die das Ministerium fast schüchtern mit zunehmenden „regionalen Disparitäten“ umschreibt.

Danach beschränkt sich das Wachstum nur noch auf die Großstädte: Die Einwohnerzahl der unteren Variante steigt in Dresden um 8,7 Prozent bzw. in Leipzig um 11,9 Prozent. In Chemnitz sowie in den Landkreisen Leipzig, Sächsische Schweiz, Meißen und Nordsachsen geht die Einwohnerzahl mit unter 8 Prozent weniger stark zurück, als in den anderen fünf Landkreisen. In diesen wird mit einem Rückgang von 12 bis zu 16 Prozent gerechnet.

Und auch, wenn man die Großen Kreisstädte betrachtet, ergibt sich ein deutlich differenziertes Bild: 2030 können nur fünf Große Kreisstädte, die in der Nähe von Leipzig oder Dresden liegen, in beiden Varianten mit einem Bevölkerungsgewinn rechnen. Weitere vier Große Kreisstädte aus derselben Region können nur in der Variante 1, mit höherer Zuwanderung, einen Einwohnerzuwachs verzeichnen. Für die meisten anderen Großen Kreisstädte wird für das Jahr 2030 im Vergleich zu 2014 ein Bevölkerungsrückgang vorausberechnet.

Das Kabinett zweifelt

Aber erstmals seit 2009 kommt jetzt auch so ein Zweifel auf, ob man mit den bisherigen Mitteln überhaupt so eine lange Voraussage machen kann.

Deswegen hat das Kabinett das Innenministerium am Dienstag gleich beauftragt, dem Kabinett bis zum 30. September 2018 zu berichten, wie sich die Bevölkerung bis zum Stichtag 31. Dezember 2017 tatsächlich entwickelt hat und welche Konsequenzen sich hieraus für die 6. Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung ergeben.

Die Präsentation mit zahlreichen Grafiken.

Die Prognose für Leipzig.

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Keine Kommentare bisher

Schade, dass nur wenige Bürger über solche hirnverbrannten Aussagen des Herrn Ulbig lachen können, anderswo werden wahrscheinlich solche sachverständigen Einlassungen einfach als wahr akzeptiert.
Sieht man ja spätestens zu den Wahlen.

Wachsen die Großstädte, weil die Infrastruktur ab der Peripherie stetig schlechter wird?
Selbst in den Städten wird ja der ÖPNV von seinen Betreibern eher als Last, statt Lust und Chance wahrgenommen.

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