Es hat zumindest etwas von behรถrdlicher Kรผhnheit, wenn die Sรคchsische Arbeitsagentur jetzt vermeldet, in sรคchsischen Jobcentern habe man 2015 โ€žinsgesamt 74.800 Sanktionen ausgesprochenโ€œ. Und dann auch noch titelt, als wรคre das aus lauter Schusselei passiert: โ€žDie meisten Sanktionen wurden wegen verpassten Terminen ausgesprochen.โ€œ Dass die Zahl der Sanktionen schon wieder angestiegen ist, erwรคhnt man dann lieber weiter unten.

Denn seit 2009 steigt die Zahl der Sanktionen in Sachsens Jobcentern immer weiter an, obwohl die Zahl der ALG-II-Empfรคnger sinkt. Eigentlich ein Vorgang, bei dem die deutschen Arbeitsbehรถrden ins Grรผbeln kommen sollten, denn da lรคuft ja eindeutig etwas falsch. Doch irgendwie scheinen die regelmรครŸigen Schulungen zu fruchten, mit denen den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern immer wieder eingeblรคut wird, dass sie den Druck erhรถhen mรผssen, wenn ihre Schรผtzlinge beginnen, gegen das leer laufende System aufzubegehren.

Von 45.706 Sanktionen im Jahr 2009 stieg die Zahl auf 71.586 im Jahr 2013. 2014 wurden dann 73.300 Sanktionen gemeldet. Und im Jahr 2015 haben Sachsens Jobcenter insgesamt 74.780 Sanktionen gegenรผber erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten aus der Grundsicherung ausgesprochen. Die hรคufigsten Grรผnde fรผr Leistungskรผrzungen waren nicht eingehaltene Termine beim Jobcenter (79,1 Prozent oder 59.138), Ablehnung der Aufnahme einer BildungsmaรŸnahme, Ausbildung oder Arbeit (10,7 Prozent oder 7.973) und auch das Versรคumnis, vereinbarte Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung umzusetzen (7,5 Prozent oder 5.626).

Im Vergleich zum Jahr 2014 sind 1.509 mehr Sanktionen ausgesprochen worden. Dieser Anstieg sei auf die weiter gestiegene Zahl der nicht eingehaltenen Termine in den Jobcentern zurรผckzufรผhren, betont die Arbeitsagentur. Im Vergleich zum Vorjahr seien die Leistungskรผrzungen aus diesem Grund um 2.669 gestiegen. Gleichzeitig sei die Zahl der Leistungskรผrzungen wegen der Ablehnung einer Arbeit oder der Nichteinhaltung von Vereinbarungen gesunken (minus 1.035 und minus 77).

Die Sanktionsquote lag 2015 bei 3,5 Prozent, rechnet sich die Arbeitsagentur aus, was aus ihrer Sicht bedeutet: Im Jahr 2015 wurden durchschnittlich bei 3,5 Prozent der jahresdurchschnittlich 271.400 erwerbsfรคhigen Arbeitslosengeld-II-Bezieher die Leistungen der Grundsicherung wegen einer Pflichtverletzung gekรผrzt.

Wie bereits in den Vorjahren habe man am hรคufigsten bei Jugendlichen unter 25 Jahren (Sanktionsquote: 5,9 Prozent) die Leistungen gekรผrzt. Bei den ร„lteren hingegen lรคge die Sanktionsquote mit 0,9 Prozent auf vergleichsweise geringem Niveau. Im Jahr 2014 lag die durchschnittliche Sanktionsquote noch bei 3,4 Prozent.

Die 3,4 bzw. 3,5 Prozent sind natรผrlich reine Augenwischerei. Denn schon der Blick in die Grafiken der Arbeitsagentur zeigt, dass das kein wirklich realistisches Bild ergibt. Denn dort steht eindeutig: โ€žInsgesamt haben 27.871 Menschen Leistungskรผrzungen erhalten.โ€œ

Auf die durchschnittlich 271.400 erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten bezogen sind das nicht 3,5, sondern 10,3 Prozent. Von 100 erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten waren also 10 von neu festgestellten Sanktionen betroffen. Und zwar im Durchschnitt 2,7-mal.

Womit man bei den Quoten wรคre, die Paul M. Schrรถder vom BIAJ regelmรครŸig ausrechnet. Fรผr den September 2015 hatte er schon einmal vorgerechnet, dass die Sanktionszahlen in Sachsen 2015 besonders heftig stiegen โ€“ um 3,7 Prozent. Heftiger sanktioniert wurde nur noch in Rheinland-Pfalz und Berlin.

Wobei die Quoten der sanktionierten Leistungsberechtigten in Sachsen heftig schwanken โ€“ von 7 Prozent im Erzgebirge bis zu 14 Prozent in Leipzig. Schon im September zรคhlte die amtliche Statistik der Bundesarbeitsagentur fรผr Leipzig 24.016 Sanktionen. Und das, wรคhrend die Zahl der Sanktionierten leicht sank.

Mit den Worten von Paul M. Schrรถder: โ€žDer Jobcenter-Vergleich dieser โ€šQuotenโ€˜ und die zum Teil extremen Verรคnderungsraten der neu festgestellten Sanktionen (Spalt, der Zahl der von neu festgestellten Sanktionen betroffenen erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten und der Mehrfachsanktionen im Verlauf von 12 Monaten deuten auf eine groรŸe Beliebigkeit oder gar Willkรผr bei der Anwendung des โ€šSanktionenrechtsโ€˜ hin.โ€

Deswegen ist es eher sogar vรถllig abwegig, wenn Dr. Regine Schmalhorst, Vizechefin der Regionaldirektion Sachsen der Bundesagentur fรผr Arbeit, erklรคrt: โ€žLeider sind Frauen und Mรคnner aus der Grundsicherung hรคufig vielen Vorurteilen ausgesetzt. Um das zu รคndern und um zusรคtzliche Beschรคftigungsmรถglichkeiten fรผr sie zu schaffen, werben die Arbeitsagenturen und Jobcenter mit den Partnern aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik fรผr deren Einstellung. Denn Fakt ist, Hartz-IV-Empfรคnger sind motiviert und haben berufliche Kompetenzen. Hier lohnt sich bei der Personalauswahl der zweite Blick.โ€œ

Aber wer sorgt denn eigentlich fรผr die Vorurteile gegen die Bedรผrftigen, wenn nicht so ein emotionsloses Sanktionssystem? In dem das Sanktionieren noch verkauft wird, als wรคre das eine unerlรคssliche Pflicht fรผr die ordnungsliebenden Staatsdiener? โ€“ Oder im Ton der Arbeitsagentur: โ€žIm Jahr 2015 musste insgesamt fรผr 27.900 Frauen und Mรคnnern die Grundsicherung gekรผrzt werden.โ€œ

โ€žDie meisten der in den Jobcentern gemeldeten Frauen und Mรคnner verhalten sich richtig, wollen arbeiten und bemรผhen sich um Arbeitโ€œ, vergieรŸt Dr. Regine Schmalhorst noch ein paar Mitleidstrรคnen.

Eine Analyse aber ist das nicht. Und das รคndert sich auch nicht, wenn das Jobcenter das Netz der Kontrolle immer mehr verdichtet. Denn das steckt ja in diesem Satz: โ€žDie Mitarbeiter in den Jobcentern sind bemรผht, ihre Kunden vor Meldeversรคumnissen zu bewahren, zum Beispiel durch Erinnerungsanrufe. Zusรคtzlich bieten die Jobcenter auch eine kostenlose SMS-Terminerinnerung an. Kunden, die es wรผnschen, erhalten vor ihrem Termin im Jobcenter eine automatische Benachrichtigung per SMS.โ€œ

Die Zahlen widersprechen dieser Behauptung. Sie sprechen eher dafรผr, dass Jobcenter wie das in Leipzig einer ganzen Gruppe von Antragstellern keine sinnvollen Angebote mehr macht oder machen kann. Und dass die Beratung im Jobcenter (wo die meisten โ€žMeldeversรคumnisseโ€œ festgestellt wurden), von etlichen Betroffenen nicht mehr als zielfรผhrend oder hilfreich empfunden werden.

Statt also die eigene Arbeitsweise zu รผberdenken und zu analysieren, warum viele Bedรผrftige immer stรคrkeres Ausweichverhalten zeigen, flรผchtet man sich in sture Sanktion.

Das ist bรผrokratisch. Und vรถllig sinnfrei.

Deutschlandweit ist die Zahl der Sanktionen รผbrigens 2015 wieder gesunken โ€“ unter 1 Million.

Die Zahlen zu Sanktionen im Bereich der Sรคchsischen Arbeitsagentur.

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Es gibt 3 Kommentare

Wenn man nun noch die Zahlen hรคtte von den erfolgreichen Widersprรผchen und Klagen gegen die Sanktionen, dann wรผrde sich nรคmlich die Sanktionierei viel deutlicher darstellen als das was sie eigentlich ist: Gelder einsparen um jeden Preis, koste es was es wolle an Personal in Widerspruchsstelle und Rechtsabteilung. Und weil man diese ja eh bezahlen muss, kann man denen auch immer wieder mal รœbungsstunden vorm Sozialgericht angedeihen lassen, kostet ja keine Gerichtsgebรผhren.
So werden Richter zu Nachhilfelehrern. Betroffene, die sich wehren, werden in Zukunft etwas weniger mit Willkรผr รผberzogen (oder man konstruiert halt was zusammen), dafรผr werden die โ€œSchlafschafeโ€ die sich eh nicht wehren mit nochmehr Sanktionen behelligt. Wie sonst kommt eine Steigerung bei weniger Betroffenen zustande?

Nur zur Erinnerung: es werden fรผr einen versรคumten Termin 3 mal 10% des Regelsatzes einbehalten, macht bei einem Single 40,40โ‚ฌ. 3 Monate lang. 121,20โ‚ฌ fรผr einmal verpennen oder vergessen, oder ein anderer Grund, der aber als solcher nicht anerkannt wird.

10% von einem Regelsatz, der seit Jahren mehr als unzureichend ist, um dessen korrekte Hรถhe Betroffene seit mindestens Januar 2016 betrogen werden, weil man im Ministerium nach Gutsherrenart meint, erst ab 2017 die Auswertungen der EVS 2013 zu berรผcksichtigen.
Na klar, so lange brauch man schon um noch paar Ausgabepositionen zu finden die man einfach per ordre de mufti als nicht regelsatzrelevant erklรคren kann.
รœbrigens ein Ministerium mit einer Ministerin an der Spitze, die ihre Vorgรคngerin Amt stark kritisiert hatte fรผr eben jenes Verhalten und die Beibehaltung von Sanktionen.

Ich kann meiner Vorschreiberin zustimmen, bin selbst ein Jahr arbeitslos gewesen hab allerdings ALG 1 erhalten.
Nun, die Jobvermittlungsvorschlรคge, die ich bekam, waren entweder von Zeitarbeitsfirmen oder passten nicht zu meiner Qualifikation. Zur Jobvermitttlung, ist die ARGE eine ziemlich nutzlose Institution. Meinen Job habe ich per Eigeninitiative gefunden und den nรคchsten bekam ich per Personaldienstleister.

Zitat: โ€œStatt also die eigene Arbeitsweise zu รผberdenken und zu analysieren, warum viele Bedรผrftige immer stรคrkeres Ausweichverhalten zeigen, flรผchtet man sich in sture Sanktionโ€.

Ja, das Arbeitsamt oder die ARGE machen ihre Arbeit nicht richtig. Kenne fast niemanden, der von dort eine Arbeit vermittelt bekommen hat. (Max. Zeitarbeit). Das soviele Stellen offen sind, das ist eine Lรผge! Die Zeitarbeitsfirmen stellen nur Mitarbeiter ein, wenn sie konkrete Auftrรคge haben, die ausgeschriebenen Stellen sind nur dazu da, ihren Pool zu fรผllen, um aussuchen zu kรถnnen.

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