Man darf durchaus ein wenig nervös werden, wenn man die demografischen Entwicklungen derzeit in Sachsen und anderswo betrachtet. Leipzigs Bevölkerungswachstum gehört ja dazu. Aber es ist nicht ganz so einzigartig, wie es mit Blick auf die Wachstumsraten oft scheint. Alle europäischen Staaten haben dieselben Probleme. Und ignorieren sie mit aller Macht.
Vielleicht wird das ab heute mal etwas größer diskutiert. Vom 9. bis 11. März trifft sich die Deutsche Gesellschaft für Demographie (DGD) zu ihrer diesjährigen Jahrestagung in Leipzig. Die Veranstaltung steht unter dem Titel: „Aktuelle nationale und internationale Herausforderungen der Demographie“.
Bei dem Titel bekommen wahrscheinlich nicht nur Journalisten einen Einschlafreflex. Es ist eins dieser Chamäleon-Wörter, die gern suggerieren, dass man sich „den Herausforderungen stellt“, aber eigentlich komplett ratlos ist. Oder machtlos. Oder ahnungslos.
Manchmal werden sogar lauter Dinge damit kaschiert, die eigentlich eine deutlichere Benennung brauchen: Beeinträchtigung, Betriebsstörung, Fehlfunktion, Herkulesaufgabe, Problem … Daran sind nicht die forschenden Demografen schuld. Aber auf L-IZ.de berichten wir nun seit über zehn Jahren über die zunehmende Schieflage in der Bevölkerungsentwicklung, über eine zunehmend ratlosere Politik und die falschen Lösungsansätze, den Trend vielleicht irgendwie zu beeinflussen. Ein Trend, der schlichtweg heißt: Raus aus den ausgedünnten Infrastrukturen der ländlichen Bereiche, ab in die Großstädte.
Das Gummiwort “Heimat”
Auch deshalb wird ja das Gummiwort „Heimat“ in Sachsen und in sächsischen Werbekampagnen so strapaziert: Den Auftraggebern scheint es ungemein wichtig, die Schönheit, Heimeligkeit und Romantik der sächsischen Provinz zu betonen. Mit Stereotypen, die man sich im Urlaub so bestimmt besorgen kann, die aber nichts mit der wirtschaftlichen Realität und dem Alltag der Bewohner zu tun haben. Denn da geht es immer ums Reelle: um verfügbare und gut bezahlte Arbeitsplätze, um zahlungskräftige Kundschaft, um ein verlässliches soziales Netz, um barrierefreie Mobilität, um kulturelle Angebote, um familiäre Unterstützungsangebote … Alles schon oft genug in der L-IZ beschrieben.
Aber seit die sächsische Provinz zum Dauerprotest zu PEGIDA anreist, konturiert sich noch etwas anderes, was wir bisher vor allem nur als Problembeschreibung junger, kreativer und unangepasster Leute (Autoren witziger Provinz-Flucht-Bücher zumeist) beschrieben haben: Ihr Gefühl, mit ihrem Wissen, ihren Wünschen und ihrem Bildungshunger im Ort ihrer Geburt regelrecht vereinsamt und verlassen zu sein und in den ländlichen Räumen keinen Austausch mehr zu finden.
Was so eine Ahnung ergibt: Kann es sein, dass die moderne Informationsgesellschaft auch die enge räumliche Vernetzung braucht und ländliche Räume auch nicht (mehr) die nötige Vernetzungsdichte geben, um überhaupt noch beim nötigen Grad informeller Komplexität mithalten zu können? (Von Medienvielfalt ganz zu schweigen.)
Das geht jetzt in die Kybernetik. Aber der Schwachsinn, der bei all den Demos in Sachsens Provinznestern und bei PEGIDA und LEGIDA zu hören und zu lesen ist, der deutet darauf hin, dass die Leute, die sich jetzt dort wieder als „das Volk“ empfinden, kaum noch Korrektive besitzen, an der zunehmenden Verdichtung der Wissensgesellschaft nicht mehr teilhaben und sich nur noch auf einem wenig-komplexen Niveau gegenseitig bestätigen in der Ablehnung aller Überforderungen.
Wohlgemerkt: Das ist nur ein Aspekt.
Einer von vielen, der sichtbar wird bei einer Tendenz, die überall in Europa zu beobachten ist: Die modernen, informations- und dienstleistungsgetriebenen Wirtschaftsformen haben überall die Abwanderung aus den Provinzen in die Großstädte in Gang gesetzt. Das Europa der Zukunft wird ein Europa der Großstädte, der immer mehr verdichteten Knotenpunkte in einem oszillierenden Netz des permanenten Austausches von Informationen, Waren, Dienstleistungen, Menschen.
In Sachsen ist dieser Prozess seit Jahren im Gang. Und zwar in einer Massivität, die die Politiker, die so gern die „Heimat“ bewahren würden, regelrecht ratlos macht.
Dr. Ruth Schmidt, die Leiterin des Leipziger Amtes für Statistik und Wahlen, hat diese Bevölkerungsentwicklung im neuen Quartalsbericht noch einmal gründlich aufgearbeitet. Nicht neu – aber in der grafischen Aufarbeitung doch wieder erhellend – ist die Tatsache, dass nur die drei Großstädte Leipzig, Dresden und Chemnitz überhaupt ein Bevölkerungswachstum haben, die Landkreise verlieren Bevölkerung. Und dort, wo dieser Bevölkerungsverlust gebremst zu sein scheint – in Nordsachsen zum Beispiel und im Landkreis Leipzig – profitieren die Landkreise vom Überlaufeffekt der Großstadt: Leipziger, die es sich leisten können, suchen sich eine ruhigere Wohnumgebung direkt in den Städtchen im direkten Speckgürtel der Stadt.
Aber interessant ist auch der Blick auf die Entwicklung der Bevölkerung mit deutscher Staatsbürgerschaft und der Ausländer. Denn Sachsen hat zwar seit 2014 wieder ein Bevölkerungswachstum. Aber das entsteht nicht aus eigener Kraft. Die Geburtenrate in Sachsen ist so gering, dass das Land – selbst wenn kein einziger Sachse abwandern würde – jedes Jahr um die 8.000 Einwohner verlieren würde. Das ist zwar deutlich weniger als die 40.000 oder 100.000, die im vergangenen Jahrzehnt oft jedes Jahr „verschwanden“. Aber damals wanderten gerade junge Menschen, die in Sachsen keine Ausbildungsstelle fanden, scharenweise ab.
Das hat sich geändert seit 2010. Seitdem suchen sächsische Unternehmen händeringend nach ausbildbarem Nachwuchs.
An jeder politischen Vorstellung vorbei – die Flüchtlinge
Im Ergebnis bestimmt also vor allen Dingen die Differenz zwischen Geburten und Sterbefällen die Bevölkerungsentwicklung der Sachsen. Doch seit dem Frühjahr 2014 wird die Entwicklung verstärkt durch die Ankunft von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens bestimmt. Eine Entwicklung, die in den politischen Vorstellungen der damaligen sächsischen Regierung überhaupt nicht vorkam. Man hatte sich in seinen provinziellen „Heimat“-Vorstellungen regelrecht eingelullt, hatte auch keine Ideen, wie man eventuell die Geburtenrate wieder erhöhen könnte oder die Abwanderung aus den Dörfern stoppen. Nichts.
Und dann das: Fremde Menschen, die nach Deutschland kamen und hier zumindest so lange Obdach finden wollen, bis der Krieg in ihrer Heimat zu Ende ist. Die auch arbeiten und sich integrieren wollen.
Und da kommen wieder die Großstädte ins Spiel. Nicht nur als Orte der großen Erstaufnahmelager (und 2014 war in Chemnitz das einzige Erstaufnahmelager Sachsens), sondern als dichte Netzknoten, die überhaupt erst in der Lage sind, genügend Integrationsangebote zu schaffen. Schon 2014 war das sichtbar: Die neuen Asylbewerber wurden zwar eifrig nach ihrer Registrierung umverteilt in alle Landkreise. Aber schon damals sind sie dort ganz und gar nicht gern geblieben. So dass sich schon damals – zum Beispiel im Landkreis Bautzen – das Bild ergab, dass die deutsche Bevölkerung weiter kräftig schrumpfte, aber mehr Ausländer in den Kreis wanderten, als deutsche Bewohner abwanderten.
Wobei das Wort „deutsche“ in diesem Fall nur die Inhaberschaft eines Passes der Bundesrepublik bezeichnet und nicht das illusionäre Selbstbild, das manche Leute heute vor sich hertragen wie eine Monstranz. Es hat nicht einmal etwas mit Sprache oder Kultur zu tun. Die abwandernden Deutschen aus dem Landkreis Bautzen können auch lauter bunte Menschen unterschiedlichster Herkunft sein, die mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und zum Arbeiten oder Unternehmensgründen dorthin umziehen, wo das möglich ist. Also nicht unbedingt nach Freital oder Heidenau, sondern eher nach Dresden oder Leipzig.
Leipzig ganz vorn mit 16.000 Zuwanderern 2015
Der Beitrag von Ruth Schmidt zeigt sehr deutlich, dass von der Migration nach Sachsen vor allem und fast allein die Großstädte profitieren. Und besonders stark genau die Großstadt, die seit weit über 25 Jahren schon Übung darin hat, Menschen aus aller Welt zu integrieren: Leipzig.
Was dann auch den Effekt erklärt, der auch die Leipziger Statistiker bisher ratlos gemacht hat. Denn rein auf die klassische Demografie begrenzt, wäre ein Bevölkerungswachstum von 7.000 bis 8.000 in Leipzig erklärbar und berechenbar.
2015 aber stieg der Bevölkerungszuwachs sogar auf fast 16.000. Der Blick in die Zahlen zeigt, dass 2015 erstmals mehr als die Hälfte des Leipziger Wanderungsgewinns durch Ausländer bedingt war – also zum größten Teil eben Flüchtlinge aus aller Welt, allen voran Syrer, Iraker, Afghanen …
Was dann auch die Leipziger Ausländerquote spürbar hat steigen lassen: von 6,2 Prozent im März 2014 auf 8,1 Prozent im Dezember 2015. Aber darin sind dann schon die großen Flüchtlingszahlen aus der zweiten Jahreshälfte 2015. Und es ist noch nicht wirklich klar, ob es Leipzig gelingt, diese Menschen dauerhaft zu integrieren. Mit großen Sammelunterkünften, in denen heute noch zwei Drittel dieser Menschen leben, wird das nicht gelingen.
Hier taucht dann dasselbe Problem auf, das auch den Wenigverdienern in Leipzig zu schaffen macht: Es fehlt an Reserven im Bereich des bezahlbaren Wohnraums.
Ein Thema für den nächsten Beitrag, in Kürze an dieser Stelle zu lesen.
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