Manche Kurven im in dieser Woche veröffentlichten Trendreport „Lebensbedingungen in Leipzig seit der Wiedervereinigung“ ähneln sich. Das ist kein Zufall. Die Kurven zur Einschätzung der wirtschaftlichen Situation der Stadt Leipzig laufen fast parallel zur Entwicklung der persönlichen Nettoeinkommen. Samt verräterischen Dellen.
Denn nach dem staunenden Aufschwung von 1991 bis 1995 (Sie erinnern sich: „Aufbau Ost“) und dem jähen Kippen der Stimmung 1996, hat sich Leipzig bis 1999, 2000 einigermaßen durchgewurstelt, neu orientiert und so langsam konsolidiert. Und dann passierte etwas Seltsames, was heute durch das Thema „Hartz IV“ immer überblendet wird: Die Stimmung kam ins Rutschen, ging bis 2005 regelrecht auf Talfahrt. Wohl gemerkt: die Stimmung.
Denn das war damals in Leipzig genauso wie mit der bundesdeutschen Wirtschaft: Die wuchs tatsächlich beharrlich vor sich hin. Auch die Leipziger Wirtschaft wuchs. Es war kein chinesisches Feuerwerk, aber der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts ging jedes Jahr weiter: Die einzige Delle gab es tatsächlich im legendären Jahr 1998, als die miese Stimmung deutschlandweit zur Abwahl von Helmut Kohl und zur ersten rot-grünen Koalition führte. Aber danach ging es kontinuierlich aufwärts – von einem 9,8-Milliarden-BIP in Leipzig im Jahr 1998 auf erstmals 10 Milliarden im Folgejahr, 10,5 Milliarden im Jahr 2001, 11 Milliarden im Folgejahr, 12 Milliarden im Jahr 2005, 13 Milliarden wurden 2009 erreicht, 14 Milliarden 2012. Und mittlerweile wird wohl eine 16 oder 17 Milliarden dastehen. Nur die Statistiker sind noch nicht so weit.
So weiß man meist erst drei, vier Jahre später, wie gut das Wirtschaftsjahr wirklich war.
Das gibt jede Menge Raum für Gemunkel, Gejammer und Schwarzmalerei. Wenn es jemand drauf anlegt. Und ab 1998 legten es eine Menge Leute drauf an: Einige Parteien, die gern wieder an die goldenen Töpfe wollten, etliche Wirtschaftsinstitute, Stiftungen und Thinktanks. Die Einführung von „Hartz IV“ 2005 war nicht der Anfang der Tragödie, sondern der Gipfelpunkt.
Es gibt zwar auch in Leipzig ein paar Genossen, die glauben bis heute, dass die SPD Zugriff auf das eine oder andere Medium hat und damit auf mediale Leitthemen. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die meisten Medien sind – auch weil ihre Wirtschaftsredakteure meistens eine sehr schmalspurige Ausbildung haben – sehr wirtschafts(partei)hörig: Sie glauben die angelernten Lehrsätze (Steuern sind schlecht, Löhne sind zu hoch, Regeln für den Markt gehören verboten usw.). Und ab 1998 sangen sie im Grunde alle dasselbe Lied: Deutschland sei der „kranke Mann Europas“ (Was für ein Frame!, würde Elisabeth Wehling sagen), die Löhne seien zu hoch, die Arbeitsmarktregeln zu starr, die Wettbewerbsfähigkeit im Eimer.
Die ersten „Reformen“ für den Arbeitsmarkt setzten schon damals massiert ein. Denn nicht nur das mediale Gejammer kam bei den Leipzigern an, was dazu führte, dass die Einschätzung zur wirtschaftlichen Lage der Stadt Leipzig von 2000 bis 2006 geradezu in den Keller rauschte (obwohl die BIP-Zahlen diese Einschätzung nicht bestätigen). Auch die neue Arbeitswirklichkeit kam bei den Leipzigern an. Das zeigt sich in der Grafik mit dem persönlichen Nettoeinkommen. Nach dem Nominalwert stagnierten sie ab 2000 – und zwar bis zum Jahr 2009. Real sind sie ja tatsächlich gefallen. Nicht nur, weil die Gewerkschaften sich für Jahre zurückhielten mit Forderungen nach Tariferhöhungen, sondern auch, weil immer neue Arbeitsmodelle eingeführt und ausgeweitet wurden, die immer mehr Leipziger mit prekärer Arbeit beglückten: Mini-Jobs, Midi-Jobs, Leiharbeit, befristete Jobs usw. Alles schon vor 2005 eingeführt und ausgeweitet.
Und besonders betroffen davon waren die Frauen.
Sie haben ab 2000 sogar heftige nominale Einkommensverluste hinnehmen müssen, weil sie augenscheinlich in Branchen arbeiteten, wo die Anwendung dieser schönen neuen Beschäftigungsinstrumente besonders um sich griff – im Einzelhandel etwa, in der Gastronomie, in diversen Dienstleistungseinrichtungen.
Erst ab 2008 stiegen die Einkommen der Frauen wieder spürbar, machte sich bemerkbar, dass tatsächlich auch weibliche Arbeitskräfte immer öfter in Vollzeit gebraucht wurden. Seitdem nimmt der Anteil der prekären Beschäftigung wieder ab.
Aber das Frappierende an den beiden Kurven ist, dass sie zeigen, wie sehr das persönliche Erleben – in diesem Fall das Auf oder Ab beim persönlichen Einkommen – direkt die Einschätzung der wirtschaftlichen Situation der Gesamtstadt beeinflussen. Ab 2009 – und auch hier wieder völlig parallel zum Anstieg der Durchschnittseinkommen – steigt in Leipzig auch die Kurve zur Einschätzung der Wirtschaftssituation der Stadt.
Aber nicht nur Frauen erscheinen hier als direkt Betroffene der Einschnitte in die Vergütung ihrer Arbeit.
Es gibt auch eine Grafik, die die Einkommen nach Altersgruppen aufzeichnet. Und danach haben von 2002 bis 2008 vor allem die jüngsten Erwerbstätigen, die 18- bis 34-Jährigen, heftige Einkommenseinbußen zu verzeichnen. Die viel gepriesenen Arbeitsmarktreformen wurden also vor allem auf dem Rücken der Frauen und der jungen Leute ausgetragen. Bei den jungen Leute zumeist verbunden mit solchen Zumutungen wie befristeten Verträgen, unbezahlten Praktika und Probezeiten usw.. Etliches davon hat ja bis heute im System überdauert, auch wenn sich jüngere Arbeitsuchende darauf nicht mehr einlassen müssen, sondern ausweichen können.
Aber wie man weiß, hat auch Väterchen Staat eifrig zugegriffen, als es die Chance auf diese Billighubereien gab – etwa im Hochschulbereich. Aber damit verschreckt und verliert er mittlerweile den eigenen Nachwuchs, der dann doch lieber den Forschungs- und Bildungsbereich verlässt, weil anderswo zumindest ganz ordentlich bezahlt wird. Für ein Land, das so angewiesen ist auf hochkarätigen Forschungsnachwuchs, ist das eine Katastrophe. Die Leipziger Callcenter freuen sich, denn so viel kluges und gut gebildetes Personal finden sie anderswo nicht.
Die neuen Schieflagen haben sich längst eingestellt.
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Vielen Dank für den aufschlussreichen Artikel.
Ich kenne es aber speziell bei Leipzig so, dass eine um 2005 herum veröffentlichte “Kurve” eine Delle ungefähr um das Jahr 2000 herum aufwies. Das hatte damals auch gut zum kleinen Sterben in der (östlichen) Grimmaischen Straße gepasst, wo um 2001 herum viele kleine Läden schlossen und es sogar einen gewissen Leerstand gab. (Will heute natürlich niemand wissen…)
Wie auch immer. Nicht nur mit der von Kohl verschleppten iund von Schröder desaströs durchgeführten Rentenreform, sondern auch mit der brutalstmöglichen Sozialreform (better known as Hartz I-IV), die so nur von einer SPD-Regierung, die aus Angst industriehörig war, verkauft werden konnte, wurde die Vision der Aufstiegsgesellschaft endgültig vernichtet.
Das mögen besonders die heutigen Neofeudalisten (junge wie alte) nicht lesen wollen, aber sie sollten mal ihre Eltern ausfragen: in der alten BRD (bis ca. 1985) und sogar ein kleines Stück weit auch in der DDR war es möglich, sich durch Arbeit und Leistung hochzuarbeiten und(!) dabei auch die Familie mitzunehmen (“work-life-balance”). Heute _müssen_ beide Elternteile arbeiten unter Bedrohung des Familienzusammenhalts bei ungewisser Zukunft in späteren Zeiten und erst recht im Alter und vor allem ohne reelle Aufstiegschancen.
Die sozialen Schichten sind heute wechselseitig abgeschotteter, auch das ist eine Folge der Einkommensspreizung.