Nicht die Flüchtlinge sind das Problem in Deutschland - auch wenn honorige Männer in grauen Anzügen jammern und stöhnen. Das Problem ist eine chaotische Bürokratie, ein perfekter Spätstart und eine mangelhafte Mittelausstattung. Nicht die Asylsuchenden verursachen das Chaos, sondern ein Staatsapparat, der in den vergangenen Jahren nur eines perfektioniert hat: Ablehnung und Abschiebung. Zahlen gefällig?

Die Zahlen sprechen für sich. Man kann sie sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) direkt abholen, das zum Jahresende 2015 im Grunde eine beschämende Bilanz vorlegte. Viel zu spät hat das Amt, das über die Jahre auf eine regelrechte Notbesetzung heruntergespart wurde, „Landunter“ gemeldet. Eine Meldung, die mitten in die Begrüßungseuphorie auf deutschen Bahnhöfen knallte. Während zehntausende Bundesbürger sich auf die Ankunft und Integration der Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Irak freuten, gab die deutschte Staatsbürokratie geradezu widerwillig zu, dass sie sich auf die Flüchtlinge überhaupt nicht vorbereitet hatte. Nicht bei der Ausstattung des BAMF, nicht bei der Mittelzuweisung an die Kommunen, nicht bei der Einrichtung von Erstaufnahmeeinrichtungen.

Nicht die Flüchtlinge haben das Chaos verursacht, dass nun seit sechs Monaten die überforderten Politiker panisch werden lässt, sondern die deutsche Staatsbürokratie. Selten zuvor hat sie derart gründlich gezeigt, wie unflexibel und handlungsunfähig sie ist, wenn tatsächlich einmal „schnell“ reagiert werden muss und nicht mit fünf Jahren Vorlauf.

Dass die deutsche Bürokratie tatsächlich fünf Jahre Vorlauf hatte, darüber haben wir auch schon geschrieben. Aber dass die zunehmende Not in Nahost und Nordafrika auch auf Deutschland durchschlagen würde, das haben die zuständigen Politiker auch in Deutschland immer wieder verdrängt, haben so getan, als könnten sie die „Flüchtlingsströme“ an den europäischen Außengrenzen abwehren, zurückschicken, festsetzen. Bei der Haltung sind sie heute immer noch.

Da kamen so manchen Lautsprechern die gewaltigen Zahlen gerade recht: 1 Million, 1,5 Millionen, 1,6 Millionen! Darf’s vielleicht noch mehr sein?

So langsam wächst die Erkenntnis im Land, dass es 2015 keine Million geworden sein könnte.

Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat diesmal gar nicht groß herumgerechet. Er hat einfach die Zahlen genommen, die das BAMF ganz offiziell zur Verfügung stellt. Er hat sie nebeneinander gestellt. Und sie sprechen schlicht für sich.

Die 1 Million taucht nur im EASY-System auf. Das steht für „Erstverteilung der Asylbegehrenden“ und geht von dem bis heute nicht verwirklichten Wunschtraum aus, dass alle an deutschen Grenzen auftauchenden Asylsuchenden sich hier erstmals registrieren und dann bestimmten Bundesländern und Erstaufnahmeeinrichtungen zuweisen lassen. Das aber ist 2015 nicht gelungen. „Bei der Erfassung von Flüchtlingen und Migranten mit EASY sind Fehl- und Doppelerfassungen wegen fehlender erkennungsdienstlicher Behandlung und fehlender Erfassung der persönlichen Daten nicht ausgeschlossen“, heißt es etwa in der Kritik dieser schwerfälligen Erfassung auf Wikipedia. Genauso gehen Personen auch wieder aus dem System verloren, wenn sie nicht in der zugewiesenen Erstaufnahmeeinrichtung auftauchen und zum Beispiel weiterreisen in ein anderes Zielland.

1.091.894 erfasste Personen 2015 im EASY klingen zwar sehr konkret, scheinen aber mit den tatsächlichen Zahlen nicht viel zu tun zu haben. Die liegen nach diversen Schätzungen (wir haben auch darüber berichtet) zwischen 700.000 und 800.000. Was den Betroffenen aber auch nicht viel nützt, denn die Bürokratie beginnt ja mit EASY erst und geht in den Erstaufnahmeeinrichtungen erst richtig los. Und da bekamen es die Asylsuchenden mit dem völlig überforderten Apparat des BAMF zu tun, das es 2015 immerhin schaffte, 476.649 Asylanträge aufzunehmen.

Heißt: Der Asylbewerber hat seinen Antrag abgeben können, was noch nicht bedeutet, dass auch darüber entschieden wurde.

Tatsächlich entschieden wurden nur 282.726 Anträge. Aber nicht alle positiv. Wie streng die deutsche Bürokratie siebt, wird deutlich an der letzten Zahl: Nur 140.915 Anträge wurden positiv beschieden.

Tatsächlich sieht das Bild noch etwas prekärer aus, denn unter den 282.726 Anträgen, die das BAMF im gesamten Jahr 2015 geschafft hat zu entscheiden, waren ja auch noch zehntausende Anträge aus den Vorjahren. Heißt im Klartext: Die meisten Asylanträge, die 2015 gestellt wurden, wurden nicht einmal entschieden.

Von den 476.640 im Jahr 2015 gestellten Anträgen waren nach Auskunft des BAMF am Jahresende 364.664 noch nicht entschieden. Das heißt: Nur 111.985 der Antragsteller von 2015 haben auch noch im vergangenen Jahr einen Bescheid bekommen.

Was unter anderem mit den immer länger dauernden Bearbeitungszeiten zu tun hat. Paul M. Schröder kam auf 7,9 Monate Bearbeitungszeit.

Und das betrifft eben nur die Asylanträge, die überhaupt schon gestellt wurden. Da ist es schon peinlich, wenn Politiker schon ans Kürzen der Leistungen gehen, bevor sie wissen, wie viele Menschen überhaupt im System ankommen. Und peinlich ist die Trödelei auch deshalb, weil die meisten Ankömmlinge direkt aus den Bürgerkriegsländern Syrien (428.468), Afghanistan (154.046) und Irak (121.662) kamen. Gerade die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge sollten eigentlich alle vereinfachte Verfahren bekommen, so hatte es die Bundeskanzlerin versprochen. Doch daraus ist nur für einen kleinen Teil dieser Gruppe etwas anderes geworden. Alle anderen quälen sich wieder durch die (zeit-)aufwendigen Einzelfallprüfungen – jetzt noch mit dem Extra-Geschenk zugeknöpfter deutscher Spitzenpolitiker, dass sie auch noch auf den Familiennachzug verzichten müssen.

Das ist deutsche (Polit-)Bürokratie vom Feinsten.

Und als Statement legte Paul M. Schröder am 7. Februar noch nach: „Im vierten Quartal 2015 wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach Berechnungen des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) 240,6 Prozent (51.294) mehr positive Entscheidungen über Asylanträge getroffen als im ersten Quartal 2015. Die Zahl der negativen Entscheidungen sank dagegen im Vergleich des ersten und vierten Quartals 2015 um 3,2 Prozent (1.159). Auf der BAMF-Pressekonferenz am 5. Februar 2016 wurde die Veränderung der Zahl der Entscheidungen genannt, nicht jedoch differenziert nach positiven und negativen Entscheidungen!“

Und dann ging er noch beiläufig darauf ein, wie unwillkommen einigen Politikern so eine Meldung derzeit sein könnte: „Eine positive BAMF-Information, der Anstieg der Zahl der Entscheidungen des BAMF über Asylanträge resultiere (bei einer leicht sinkenden Zahl negativer Entscheidungen) allein aus dem Anstieg der positiven Entscheidungen, könnte gegenwärtig politisch nicht willkommen sein – auch wenn die Zahl der positiven Entscheidungen, gemessen an der Zahl der Asylsuchenden insgesamt, immer noch sehr gering ist.“

Die Grafik des BIAJ zum Thema.

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