Etwas ist grรผndlich falsch am Jobcenter-System. Die Arbeitslosigkeit sinkt rapide, die Zahl der โ€žHartz IVโ€œ-Empfรคnger ebenfalls - doch in den sรคchsischen Jobcentern steigt die Zahl der Sanktionen auf immer neue Rekordwerte. Das Jobcenter Leipzig ist auf dem direkten Weg in die Spitzengruppe der Sanktions-Meister.

Von โ€žWillkรผrโ€œ spricht Paul M. Schrรถder vom Bremer Institut fรผr Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ), denn die drastischen Unterschiede der Sanktionsquoten in den verschiedenen Jobcentern erzรคhlen nicht von einem logisch begrรผndbaren System der Sanktionen.

โ€žAuf Jobcenterebene stellt sich das Verhรคltnis der Zahl der erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten mit mindestens einer neu festgestellten Sanktion und dem durchschnittlichen Bestand erwerbsfรคhiger Leistungsberechtigter wie folgt dar: Im Zeitraum Oktober 2014 bis September 2015 reicht dieses Verhรคltnis (โ€šQuoteโ€˜) von 3,7 pro 100 im Jobcenter Vorpommern-Greifswald Sรผd MV) bis 19,8 pro 100 im Jobcenter Bad Tรถlz-Wolfratshausen  (BY).โ€œ

Und wรคhrend in einigen Jobcentern รผbers Jahr die Sanktionsquoten im zweistelligen Bereich zurรผckgingen, stiegen sie in anderen ebenso drastisch an. Und das in einem Bereich, in dem jede Sanktion eigentlich gegen das Grundgesetz verstรถรŸt. Denn da sie auf die auf das Existenzminimum berechnete Grundsicherung von ALG-II-Beziehern zugreift, streicht sie den Betroffenen Geld, das ihnen eigentlich gesetzmรครŸig zur Sicherung des Lebensunterhalts zusteht.

โ€žDer Jobcenter-Vergleich dieser โ€šQuotenโ€˜ und die zum Teil extremen Verรคnderungsraten der neu festgestellten Sanktionen, der Zahl der von neu festgestellten Sanktionen betroffenen erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten und der Mehrfachsanktionen im Verlauf von 12 Monaten deuten auf eine groรŸe Beliebigkeit oder gar Willkรผr bei der Anwendung des โ€šSanktionenrechtsโ€˜ hinโ€œ, schreibt Schrรถder. โ€žDie Reduzierung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter das vom Bundesverfassungsgericht geforderte โ€šmenschwรผrdige Existenzminimumโ€˜ sollte beendet werden.โ€œ

Zu den Bundeslรคndern, in denen die Zahl der Sanktionen im Zeitraum Oktober 2015 bis September 2015 trotz sinkender Arbeitslosenzahl weiter anstieg, gehรถrt auch der Freistaat Sachsen. Von 72.690 im Vorjahreszeitraum stieg die Zahl der Sanktionen auf 75.392. Mit einer Steigerung um 3,7 Prozent ist Sachsen das Bundesland mit der hรถchsten Steigerung der Sanktionsrate. Ganz so, als hรคtte man die hartherzigsten Verwaltungsmitarbeiter alle nach Sachsen delegiert, um sich an den Klienten so richtig auszutoben.

Wobei es bei den Sanktionen immer vor allem um Geld geht, Geld, das sich der Bund erspart, wenn er Menschen dafรผr bestrafen lรคsst, dass sie (unzumutbare) Arbeitsangebote ablehnen, Vorstellungstermine verschwitzen oder persรถnliche Unterlagen vergessen oder einer Meldeaufforderung bei ihrem Sachbearbeiter nicht nachkommen.

Indirekt spiegelt sich in der steigenden Zahl von Sanktionen je Betroffener auch die zunehmende Frustration von Menschen, die von einer vรถllig auf ihren โ€žIntegrationserfolgโ€œ besessenen Behรถrde รผber die Jahre immer wieder in vรถllig sinnlose Umschulungen, Beschรคftigungsprogramme oder miserable Saisonjobs vermittelt wurden, die trotz aller Anstrengungen aus dem Kreislauf von miesen Jobs und drakonischer Jobcenter-Verwaltung nicht herauskommen.

Dante hรคtte โ€“ hรคtte er sich das vorstellen kรถnnen โ€“ einen ganz besonderen Kreis der Hรถlle daraus gemacht.

Und auf der anderen Seite ahnt man die zunehmende Abgestumpftheit der Jobcenter-Sachbearbeiter, die von Bund und Kommune zu immer neuen โ€žZielerreichungenโ€œ verdonnert werden, einer permanenten Bringepflicht, ohne dass sie die Probleme der dauerhaft Arbeitslosen lรถsen kรถnnen.

Ein pervertiertes System, in dem von der einst gepriesenen Hilfe zur Selbsthilfe nicht mehr viel รผbrig geblieben ist.

Und statt in Zeiten der zunehmenden wirtschaftlichen Stabilitรคt einfach mal den Druck rauszunehmen, scheinen die Verantwortlichen in Sachsens Jobcentern zu glauben, sie kรถnnten die Betroffenen mit noch mehr Druck und noch mehr Sanktionen zur Raison bringen.

Dabei liegt Sachsen mit 2,45 neu festgestellten Sanktionen pro sanktioniertem Leistungsbezieher lรคngst in der Spitzengruppe der Sanktionslรคnder: Nur Berlin mit 2,47 und Thรผringen mit 2,46 sanktionieren noch hรคrter. Eine kleine Gruppe wird immer รถfter und immer hรคrter sanktioniert.

Und mittendrin ist das Jobcenter Leipzig, das schon 2014 zur Spitzengruppe der sanktionseifrigsten Jobcenter gehรถrte (und das mitten in einem rasant wachsenden Arbeitsmarkt), das aber im Zeitraum Oktober 2014 bis September 2015 noch einmal drastisch die Gangart verschรคrft hat.

Die Zahlen sprechen fรผr sich und zeigen im Grunde das Jobcenter Leipzig als den eigentlichen Grund dafรผr, warum in Sachsen die Sanktionszahlen steigen.

Denn allein im Jobcenter Leipzig sind im Berichtszeitraum die Sanktionen von 19.578 auf 24.016 gestiegen โ€“ ein Plus von 22,7 Prozent.

Und das vor dem Hintergrund, dass die Zahl der erwerbsfรคhigen Leistungsberechtigten im gleichen Zeitraum von 53.346 auf 51.948 sank (- 2,6 Prozent). Das ist ziemlich langsam, wenn man es mit dem sachsenweiten Rรผckgang von 6,3 Prozent vergleicht. Aber andererseits sinken die sachsenweiten Zahlen auch deshalb, weil junge Erwerbstรคtige in Scharen in die GroรŸstรคdte (wie Leipzig) ziehen, dort die neu geschaffenen Arbeitsplรคtze besetzen und logischerweise von den Unternehmen  lieber genommen werden als Langzeitarbeitslose mit fehlenden Qualifikationen.

Tatsรคchlich hat sich die Zahl der Sanktionierten in Leipzig kaum geรคndert, sank von 7.283 im Vorjahreszeitraum auf 7.252.

Was einerseits bedeutet, dass von 51.948 Leistungsberechtigten nur eine Gruppe von knapp 14 Prozent รผberhaupt sanktioniert wurde โ€“ dafรผr noch hรคufiger als im Vorjahr, denn statt durchschnittlich 2,69 Sanktionen wie im Vorjahreszeitraum haben die Betroffenen diesmal im Schnitt 3,31 Sanktionen verpasst bekommen. Es gibt im Osten einige Jobcenter, wo die Sanktionszahl nun langsam Richtung 4 steigt. Leipzig ist noch nicht ganz in diesen Dimensionen. Aber Paul M. Schrรถder hat natรผrlich Recht, so ein System als reine Willkรผr zu benennen, die weder den Betroffenen hilft noch der gepriesenen Arbeitsmarktstatistik.

In zwei anderen Statistiken wird sich das freilich wieder auswirken โ€“ in der Schuldnerstatistik und in der Kriminalitรคtsstatistik.

Mit 3,31 Sanktionen pro Sanktionierten im Schnitt liegt Leipzig sachsenweit natรผrlich an der Spitze, gefolgt mit jeweils 3,19 Sanktionen von Nordsachsen und im Vogtlandkreis.

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Es gibt 5 Kommentare

Zurรผck zu den Jobcentern:

Ist es jetzt sehr schlimm, wenn auch der Umgang der JC und Arges & Co mit Arbeitslosen als โ€œStaatsversagenโ€ bezeichnet wird? Ein Staatsversagen, welches so kommen musste, weil auch ein Jobcenter in einer Marktwirtschaft keine Arbeitsplรคtze erschaffen kann. Selbst die berรผchtigten โ€œArbeitsgelegenheitenโ€ (wie ich solche Euphemismen hasse!) verzerrten die รถrtliche Wirtschaft.

Behรถrden kรถnnen ganz gut gegen Gesetze verstoรŸen.

Es muss sich nur ein Klรคger finden und auch ein passendes Gesetz sowie ein kritischer Richter. Wie es aussieht, kann man Behรถrden nรคmlich nur dienst- oder aufsichtsrechtlich beikommen, aber meistens nicht eigentlich verantwortlich machen und zu einem bestimmten Verwaltungshandeln zwingen (Stichwort: Staatshaftung, der WP-Artikel ist aufschlussreich).

(Leider konnte auch unser Finanzrevisor auf diesbezรผgliche Fragen eines Lesers (im Kommentar zum ersten Beitrag der mutmaรŸlich abgebrochenen Serie zu finden) keine auch nur annรคhernd erhellende Antwort geben.)

Ich frage mich, wie es mรถglich ist, dass ein JC gegen das GG verstoรŸen kann? Ist das ein rechtsfreier Raum? Ich bekomme sofort ein Parkticket, wenn ich (beim JC) mal fรผnf Minuten falsch parke.

Dass das Leipziger JC besonders gerne sanktioniert, wundert mich nicht, fallen doch die nicht zugezogenen Leipziger generell durch ruppige Umgangsformen auf (die โ€œFreundlichkeitโ€ der Leipziger ist definitiv ein Gag von Touristenbรผros). Das Gรคngeln und Bevormunden hat man ja noch aus DDR-Zeiten mitgenommen oder sich von den Eltern beibringen lassen.

Dennoch:
Ich bin mit einem solchen Sachbearbeiter privat bekannt. Ich fรคnde es gut, mal die Bearbeiter des JC (anonym) zu befragen oder zu interviewen, wie sie sich dabei fรผhlen, und auch mal deutlich herauszustellen, dass aus Nรผrnberg ganz erheblicher Druck kommt.

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