Über alles Mögliche wird geredet in der aktuellen Flüchtlingsdebatte, aber nicht wirklich über die Ursachen, warum Europa jetzt am Zerfallen ist und in Deutschland die Fetzen fliegen. Reihenweise fühlen sich Länder, die in früheren Jahrzehnten problemlos Flüchtlingszahlen der aktuellen Dimension stemmen konnten, überfordert. Natürlich liegt es am Geld - und an einer völlig falsch gelaufenen Finanzpolitik.
Denn Staaten, die seit den 1980er Jahren allesamt den neoliberalen Weg eingeschlagen haben, haben natürlich auch ihre Ressourcen und Puffer abgebaut, mit denen sie Krisen begegnen können. Das neoliberale Wirtschaftsmodell kennt keine Krisen, sondern nur Märkte, Wettbewerb und knallharte Effizienz. Es kennt auch keinen vorsorgenden Staat – dafür eine Menge Leute, die reihenweise Wettbewerbsgründe dafür vorschieben können, dass die Steuern gesenkt und ganze Wirtschaftszweige subventioniert werden.
Dass es so ist, merken viele Bundesbürger gar nicht mehr, sie sind der felsenfesten Überzeugung, Deutschland sei nicht nur eine erfolgreiche Wirtschaftnation, sondern würde mit seinem Geld auch noch besser haushalten als es seine Nachbarn tun.
Der Blick ins Detail zeigt, dass dem nicht so ist: Ganze Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge sind völlig unterfinanziert und werden nun schon seit Jahren auf Verschleiß gefahren. Die Kommunen im Land können ein Lied davon singen. Das reichste Land Europas ist nicht in der Lage, seine Infrastrukturen zu erhalten.
Aber die Umverteilung passiert an einer ganz anderen Stelle, nicht erst bei den Steuern, wie die ewig beleidigten Steuerzahler behaupten. Sie passiert da, wo es um die Honorierung von Arbeit geht, da geht die Schere auch in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren auseinander. Während Managergehälter explodierten, fuhren die deutschen Regierungen seit 1990 eine Runde neuer “Liberalisierungen” auf dem Arbeitsmarkt nach der anderen. Jede führte dazu, dass wieder neue Beschäftigungsfelder immer dichter am Lebensminimum entstanden. Vollwertarbeitsplätze wurden in Mini- und Midijobs geteilt, Festangestellte in Zeitarbeit ausgelagert, selbst der Staat machte fleißig mit bei der Einführung von schlecht oder gar nicht bezahlten Praktika (auch das ist Arbeit) oder bei Zeitarbeitsverträgen oder der Abwälzung von Lohnarbeit in Honorararbeit.
Ergebnis: Ein Riesenberg gesellschaftlich notwendiger Arbeit wird miserabel oder gar nicht bezahlt.
Die Gesellschaft teilte sich immer mehr in eine Elite Festangestellter, die bei jeder Lohnrunde mit dabei waren und in ein Heer von Malochern, die dankbar sein müssen, dass ihre Arbeit überhaupt entlohnt wird. Arbeit als Gnade quasi.
Und das hat Folgen. Und zwar brandgefährliche.
So ganz nebenbei geht Hagen Krämer, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Hochschule Karlsruhe, darauf ein in einem Beitrag, den er für die Friedrich-Ebert-Stiftung geschrieben hat. Titel: “Die Verteilung von Einkommen in Deutschland: (K)Ein Problem?”
Bislang gehen ja die üblichen Zahlenwürfler der Forschungsinstitute davon aus, dass die Einkommensverteilung in Deutschland noch nicht so auseinanderdriftet wie etwa in Kalifornien, einem US-Bundesstaat, aus dem augenscheinlich eine Menge Studien zur Einkommensschere stammen und wo diese auch noch besonders weit auseinander klafft. Mit drastischen Folgen, wie jetzt ein Beitrag in der “Süddeutschen” erzählt. Denn ab einer bestimmten Wahrnehmungsschwelle schlägt der gehortete Reichtum bei den Reichen direkt in Geiz um. Sie halten es nicht mehr für notwendig, sich gesellschaftlich besonders zu engagieren, weil ja doch irgendwie alle haben, was ihnen zusteht.
“Woran das liegen kann?”, heißt es im “Süddeutsche”-Beitrag: “Ungleichheit steigere bei Privilegierten das Gefühl, selbst bedeutend und ein ganz besonderer Mensch zu sein, so Côté. Und das verstärke den Eindruck, dass alle haben, was ihnen zusteht, egal wie viel oder wenig das ist.”
Das sind die Trump-Typen, die nicht mal mehr einen Gedanken daran verschwenden, dass eine ganze Gesellschaft ins Trudeln kommt, wenn sich jene Leute, die das große Geld haben, nicht mehr für das Ganze verantwortlich fühlen, sondern nur noch für sich und ihr eigenes Bankkonto.
Und so ähnlich kippt die Stimmung so langsam auch in Deutschland, stellt Kramer fest.
“Verschiedene Umfragen haben ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Deutschen die gegenwärtige Einkommens- und Vermögensverteilung als ungerecht empfinden”, schreibt er im Fazit seiner kleinen Analyse zur Einkommensverteilung und dem Gini-Koeffizenten, welcher angibt, wie groß die Ungleichverteilung in einem Land ist.
Und wo steht Deutschland da? – Kramer: “Der Gini-Koeffizient der Markteinkommen ging in diesem Zeitraum in Australien, Schweden und in den Niederlanden zurück, wohingegen er sich in Kanada, Finnland, Deutschland, Italien, Norwegen und den USA erhöhte. Mit 4,7 Prozentpunkten fiel der Zuwachs in keinem Land dieser Gruppe so stark aus wie in Deutschland. Dieser Anstieg erfolgte vor allem im Zeitraum von Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre.”
Und Kramer sieht durchaus Verbindungen zum zunehmenden Rumoren in Deutschland, denn kaum ein Gefühl trägt so sehr zur gesellschaftlichen Abwendung bei wie das Gefühl, trotz Anstrengung und Maloche immer weiter (finanziell) benachteiligt zu sein.
“Derartige Ansichten können die Identifikation mit einem demokratischen Gemeinwesen mittelfristig unterminieren und zudem der individuellen Leistungsbereitschaft abträglich sein”, schreibt Kramer. Die Träger des gesellschaftlichen Wohlstands beginnen, sich übers Ohr gehauen zu fühlen. Der Boden für Ressentiments und Verschwörungstheorien wird gelegt. Und für Ängste natürlich. Und Umfrage für Umfrage zeigt ja, wie gerade die “gesellschaftliche Mitte” sich zunehmend verunsichert fühlt, ihre zunehmenden Aggressionen aber ziemlich irrational artikuliert. Denn wie in Deutschland die Reichtümer umverteilt werden, das steht ja selten in der Zeitung. Wie viele Menschen aber hier Zuflucht suchen und Rettung aus ihrer Not, das ist da jeden Tag zu lesen.
Und wohin führt das alles?
“Eine zunehmende Ungleichheit kann ferner darauf hindeuten, dass es mit den Startbedingungen und der Chancengleichheit in einer Gesellschaft nicht zum Besten bestellt ist”, schreibt Kramer. “Außerdem kann eine wachsende Ungleichheit zu geringerem Wachstum und größerer makroökonomischer Instabilität führen. Wenn die Einkommenskonzentration auf die Aneignung von ‘ökonomischen Renten’ zurückzuführen ist, wie dies zum Beispiel im Zusammenhang mit den Topmanager-Vergütungen diskutiert wird, führt dies zu einer Fehlallokation von ökonomischen Ressourcen, die negative Auswirkungen auf Investitionen und das Wirtschaftswachstum hat.”
Mit den “ökonomischen Renten” beschäftigen wir uns noch. Denn da geht es auch darum, wie sehr die Gewinne einer durchaus noch wettbewerbsfähigen Wirtschaft aus dem produktiven Bereich einfach abgeleitet werden, dorthin, wo sie keine Rolle mehr spielen für neue Investitionen, Schaffung neuer Arbeitsplätze, Innovation, Forschung oder Entwicklung.
Stichworte wären Risikokapital, Unternehmenserweiterung, Starthilfen, Förderung für Produktinnovationen usw. Alles Themen, bei denen derzeit in Deutschland alarmierend wenig geschieht.
Aber einen anderen Effekt dieser rücksichtslosen Umverteilung kann man ja in den USA schon lange begutachten.
Kramer: “Des Weiteren besteht die Gefahr, dass sich politische und wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Elite konzentriert, was die Demokratie untergräbt. Angesichts der teilweise drastischen Zunahme von ökonomischer und sozialer Ungleichheit in vielen Ländern, zu denen auch Deutschland gehört, und aufgrund der dadurch verursachten Probleme ist es längst an der Zeit, diesem Thema einen angemessenen Raum im wissenschaftlichen und politischen Diskurs einzuräumen.”
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