Die Zahlen geistern schon eine ganze Weile durch die Diskussion: Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland eigentlich, um nicht in wenigen Jahrzehnten zu vergreisen und zu einem Land zu schrumpfen, in dem die Arbeitskräfte fehlen? Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung hat nun mal das ifo Institut beauftragt, sich mit diesem demografischen Aspekt der Zuwanderung zu beschäftigen.

Herausgekommen ist eine 60-Seiten-Broschüre mit dem Titel “Auswirkungen des demografischen Wandels im Einwanderungsland Deutschland”. Sie bestätigt, was man mit Zahlen alles so ausrechnen kann. Aber macht sie klüger? Zeigt sie überhaupt einen Weg, wie die Bundesrepublik künftig mit Zuwanderung umgehen kann? Oder umgehen sollte, damit etwas Gescheites dabei herauskommt?

Letzteres eindeutig noch nicht. Aber die Zahlen sind natürlich wichtig. Denn wenn die Bundesrepublik ein wettbewerbsfähiges Land bleiben soll, wird sie um die Zuwanderung von Arbeitskräften und klugen Köpfen nicht umhin kommen. Die anderen europäischen Staaten übrigens auch nicht. Sie haben dasselbe Problem: viel zu niedrige Geburtenraten. Und noch ein anderes obendrauf: Sie sind in der Regel alle von einem extrem neoliberalen Wirtschaftsdenken beherrscht, das echte Gestaltungshorizonte über den nächsten Quartalsbericht oder das Wirtschaftsjahr hinaus nicht zulassen. So dass das Thema Demografische Entwicklung in der Regel völlig unberührt neben dem Thema Wirtschaftsentwicklung steht. Als hätten sie nichts miteinander zu tun.

Übrigens auch in Sachsen. Aber wie will man ratlosen Menschen auf der Straße den Wirtschaftsfaktor Zuwanderung erklären, wenn das im Demografie-Denken der Staatsregierung gar nicht vorkommt? Wenn man noch immer ein Staatsgebilde plant, dem über die nächsten zehn Jahre spekulativ eine halbe Million Einwohner verloren gehen und Wachstum überhaupt nicht gedacht wird?

Das Ergebnis ist natürlich genau die herrschende Ratlosigkeit, die derzeit das ganze Land lähmt.

Die ifo-Rechner um Prof. Dr. Marcel Thum, der die Dresdner Niederlassung des ifo Instituts leitet, benennen das Thema Fachkräftezuwanderung durchaus in einem eigenen Kapitel, auch wenn sie sich vor allem auf das konzentrieren (und damit dutzende Seiten füllen), was die sächsische Staatsregierung unter Demografie versteht: Überalterung, steigende Kosten für Sozial- und Rentenkassen, und auch zunehmend Pflegefälle von einstigen Migranten.

Das kontrastiert natürlich extrem mit der Feststellung des enormen Bedarfs an zuwandernden Arbeitskräften.

Das sind eigentlich die bekannten Zahlen: Ohne Zuwanderung schmilzt die Bevölkerung in Deutschland dahin wie Schnee an der Sonne – von 82 Millionen auf ungefähr 60 Millionen im Jahr 2060, über ein Drittel davon im Rentenalter. Eine echte Greisenrepublik mit verödeten Dörfern.

Zuwanderung gibt es freilich. Die kommt aber vor allem aus anderen EU-Staaten: aus Polen, Tschechien, Ungarn, Spanien, Frankreich, Großbritannien. Die europäischen Länder stehen alle in einem direkten Wettbewerb um gut ausgebildete Fachkräfte. Sie profitieren in der Regel von der in der EU herrschenden Freizügigkeit. Und Deutschland hätte dabei durchaus gute Karten, seinen Fachkräftebedarf künftig zu decken (und auch klugen wissenschaftlichen Nachwuchs zu gewinnen), wenn das nicht just gleichzeitig die wichtigsten europäischen Märkte schwächen würde. Der größte Exportpartner der Bundesrepublik ist die EU. Erwähnt der Bericht in diesem Fall zwar nicht, ist aber wichtig zu wissen.

Völlig anders wird Zuwanderung aus Drittstaaten behandelt. Die es auch gibt, aber eben leider nicht über ein sinnvolles Einwanderungsgesetz, das auch die Zuwanderung in Arbeit regeln würde. Das Ergebnis ist: Die meisten Menschen aus Drittstaaten haben nur die Chance, über das Asylgesetz ins Land zu kommen, womit sie eben nicht als künftige Arbeitskräfte begrüßt werden und einen unbürokratischen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, sondern als “Last” für die deutschen Sozialsysteme.

Und entsprechend brachial war dann auch die Argumentation der konservativen Politik seit 1991 und 1992 (Stichworte: Hoyerswerda und Rostock) und entsprechend rigide waren dann auch die Einschränkungen des Asylrechts. Was dann ab 1993 dazu führte, dass die Asylbewerberzahlen drastisch sanken. Eine Zeit lang schwankten sie noch um die 150.000 im Jahr, weil man in der Bundesrepublik zumindest anerkannte, dass das ehemalige Jugoslawien nun einmal Kriegsgebiet war und die Menschen mit echter Not um Asyl baten.

Das hat sich noch lange nicht in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien entspannt, trotzdem versuchen die konservativen Akteure im Bund, auch noch die letzten Teilrepubliken des einstigen Vielvölkerstaates zu “sicheren Herkunftsländern” zu erklären. Noch viel peinlicher ist der Versuch, jetzt auch noch Afghanistan zum “sicheren Herkunftsland” zu erklären. Abschottungspolitik auf allen Kanälen.

Entwicklung der verfügbaren Erwerbspersonen in der Bundesrepublik bis 2030. Grafik: FES
Entwicklung der verfügbaren Erwerbspersonen in der Bundesrepublik bis 2030. Grafik: FES

Grund dafür ist natürlich, dass die Zahl der Asylsuchenden seit dem Tiefststand im Jahr 2008 wieder steigt und 2015 einen neuen Rekordwert erreicht. Aber diesen “Rekord” gibt es ja nicht, weil sich die Lage in Syrien, Tunesien, Kosovo oder Afghanistan auf einmal verschärft hätte, sondern weil die EU-Politik gescheitert ist, die Flüchtlinge aus diesen instabilen Regionen in großen Lagern am Rand der EU zurückzuhalten. Und das, ohne die Frage zu klären: Was soll aus den Leuten dort eigentlich werden? Sollen sie dort fünf, zehn oder noch mehr Jahre ausharren, bis vielleicht mal irgendwann IS besiegt ist und der syrische Diktator Baschar al-Assad freiwillig zurücktritt? Es gibt nicht mal eine Strategie der Europäer, die so etwas in Aussicht stellt. Der Krieg kann sich genauso lange hinziehen wie der in Afghanistan oder Irak.

Aber die Bundesregierung hat sich bislang immer dahinter verstecken können, dass die Flüchtlinge in “sicheren Drittstaaten” angelandet sind. Warum hätten sie in die Bundesrepublik kommen sollen?

Aber jetzt kommen sie, weil sie einfach ihrer Hoffnung folgen, dass sie sich in Deutschland eine neue Existenz aufbauen können.

Und was ist mit den Zahlen?

Vielleicht werden es 1 Million in diesem Jahr. Aber was heißt das?

Tatsächlich kommen jetzt viele dieser lange hingehaltenen Menschen, die schon in den vergangenen Jahren hätten kommen und Asyl finden können. Bis 2012 lag die Zahl der Asylanträge in der Bundesrepublik unter 100.000. Das ist viel zu wenig. Das würde nicht mal reichen, die Bevölkerung in der Bundesrepublik einigermaßen stabil zu halten. “Erfolgt bis 2030 eine jährliche Nettozuwanderung  von 200.000 Personen, wirkt sich dies zusätzlich positiv auf den Altersquotienten aus”, heißt es jetzt in der FES-Studie.

Damit ist noch nicht einmal der Bevölkerungsrückgang aus der niedrigen Geburtenrate in Deutschland ausgeglichen – aber das komplexe System aus Wirtschaft und Sozialversicherung kann gesichert werden. Was im Klartext heißt: Die Bundesrepublik müsste schon aus eigenem Interesse eine jährliche Zuwanderung von mindestens 200.000 Menschen organisieren.

Das gilt gar nicht erst fürs Jahr 2015, das gilt längst schon seit über zehn Jahren. Das von der SPD gewünschte und von der CDU abgelehnte Einwanderungsgesetz ist überfällig.

Besonders drastisch wird sich die Überalterung und Schrumpfung der Gesellschaft übrigens auf den ostdeutschen Arbeitsmarkt auswirken. Das ist im Bericht sogar mit einer farbigen Karte unterlegt. Denn die eigentliche Reserve des Ostens, die jungen, fitten Arbeitskräfte, sind seit 1990 alle in den Westen abgewandert und sorgen dort nicht nur dafür, dass die Geburtenzahlen einigermaßen hoch geblieben sind, sondern auch die nötigen Arbeitskräfte für die Jahre 2015 bis 2030 zur Verfügung stehen. Und da sich die Zuwanderung in den letzten Jahren vor allem auf die westlichen Bundesländer konzentriert hat, ist dort auch noch mit einem Zuwachs an Erwerbspersonen bis 2030 zu rechnen, während der Osten mit einen drastischen Rückgang von Arbeitskräften von bis zu 40 Prozent vor allem in den ländlichen Räumen zu rechnen hat. Als grüne “Rettungsinseln” leuchten im roten Meer eigentlich nur Berlin, Leipzig und Dresden.

Und da demonstrieren die Narren aus der Provinz ausgerechnet in Dresden gegen Zuwanderung?

Die drei grünen Inseln erinnern auch daran, dass sich das Wachstum in Deutschland in den nächsten Jahren komplett auf die Metropolkerne konzentrieren wird. Hinter der demografischen Betrachtung des Themas wird also auch noch einmal sichtbar, dass die alte Verwaltungspolitik schon jetzt heftig mit der notwendigen Stärkung der Metropolstrukturen kollidiert. Denn im Kern ist demografische Entwicklung nun einmal wirtschaftliche Entwicklung: In den Abwärtsstrudel kamen die ostdeutschen Flächenländer ab 1991, weil die alte Wirtschaft in drastischer Weise abgewrackt wurde und die simpelste Existenzgrundlage für viele Menschen fehlte. Was übrigens dazu führte, dass die Geburtenrate binnen fünf Jahren regelrecht abstürzte – auch Familienpolitik ist nun einmal Wirtschaftspolitik.

Die Folgen des Geburteneinbruchs bekommen die ostdeutschen Unternehmen seit fünf Jahren zu spüren. Und kluge Landesregierungen würden nicht nur dafür sorgen, dass die erbärmlich hohen “Schulabbrecher”-Quoten endlich abgebaut werden, sie würden die Flüchtlinge auch mit deutlich mehr Plan und Gestaltungswillen unterbringen, ausbilden und integrieren, weil damit auch ein gut Teil die morgige Konkurrenzfähigkeit der sächsischen Wirtschaft gesichert wird.

Das alles steht so direkt nicht im Bericht. Aber alle angeführten Zahlen sprechen genau dafür.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar