Kann man Gemeinwohl messen? Einer jedenfalls ist überzeugt, dass es geht: Prof. Dr. Timo Meynhardt. Er ist Inhaber des Dr. Arend Oetker Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management und hat einen GemeinwohlAtlas für die Bundesrepublik erstellt.
Wobei das Wort Atlas wieder etwas in die Irre führt: Tatsächlich hat das Meinungsforschungsinstitut forsa nur rund 7.800 Bundesbürger zu einer Auswahl von Unternehmen, Vereinen und gemeinnützigen Verbänden befragt – und das im Rahmen von forsa.omninet, an dem sich bislang rund 30.000 Menschen beteiligen.
Dabei wurde auch nicht frei drauflos gefragt, welche Organisationen aus Sicht der Befragten besonders fürs Gemeinwohl tätig sind, sondern es wurde eine Vorauswahl mit den großen Dax-Unternehmen, Banken, Versicherungen, Fußballvereinen, Hilfsorganisationen und staatlichen Organisationen zusammengestellt, aus der dann nach Bekanntheitsgrad eine deutlich kleinere Auswahl von 127 Organisationen ausgesiebt wurde.
Aber Bekanntheit bedeutet eben noch nicht, dass diese dann auch als besonders nützlich fürs Gemeinwohl erachtet werden.
Nicht zu vergessen: Es ist ein HHL-Professor, der hier agiert hat. Entsprechend stark ist sein Fokus auf die unternehmerische Sicht des Ganzen gerichtet. Was dann in der Auswertung und Bewertung sichtbar wird.
So liest er aus den Fragen, die den Studienteilnehmern zusätzlich zu den Bewertungen der teilnehmenden Organisationen gestellt wurden, heraus, “dass die Deutschen sich auch aktiv für das Gemeinwohl engagieren möchten.”
Meynhardt: “Die Bundesbürger und hier: mehrheitlich Frauen, sind bereit, für ein gemeinwohlverträgliches Unternehmen zu arbeiten und dabei auf Gehalt zu verzichten.”
Mit dem GemeinwohlAtlas wolle er die Diskussion zwischen Wirtschaft und Gesellschaft befeuern, was eigentlich 2015 und in den kommenden Jahren das Gemeinwohl in Deutschland ausmacht. Weiterhin ziele die Studie darauf ab, den Wert der Wirtschaft aus Sicht der Gesellschaft auf den Punkt zu bringen und damit auch „bestehende Gräben zu schließen“.
Eine recht dicke Nachtigall, die man hier trapsen hört. Nach dem White- und Green-Washing nun also auch noch ein Social-Washing? Die vier Dimensionen, mit denen die Studie den Faktor Gemeinwohl bewertet, sind durchaus eigenwillig und erinnern da und dort an die Grundmuster von “Team Building” in einigen vor allem amerikanischen Konzernen. So wird “Aufgabenerfüllung” hier definiert mit: “Die Organisation erfüllt ihre Aufgabe, indem sie mit ihren Produkten und Dienstleistungen einen wahrnehmbaren Nutzen stiftet.” – “Zusammenhalt” wird zur Erfüllung des “Grundbedürfnisses nach positiven Beziehungen”, “Lebensqualität” zeige die Erfüllung des “Grundbedürfnisses nach Lustgewinn und Unlustvermeidung” …
Dazu noch die Dimension Moral – aber ergibt das tatsächlich eine echte Bewertung des Faktors Gemeinwohl?
Aus der Marketing-Perspektive ist es so. Zugespitzt dann auch auf der Website zu lesen: “Wird Gemeinwohl in diesem Sinne verstanden, so spielen Organisationen eine große Rolle bei der Schaffung von Gemeinwohl. Damit wird der Gemeinwohlbeitrag im Sinne einer gesellschaftlichen Wertschöpfung zu einer wichtigen Perspektive und Outputvariablen für das Management.”
Da erstaunt schon, dass neun von zehn Befragten angeben, eine klare Vorstellung davon zu haben, was unter Gemeinwohl zu verstehen ist.
Prof. Dr. Timo Meynhardt: “Der GemeinwohlAtlas 2015 zeigt ein klares Bild: Die Feuerwehr, die unser Schutz- und Sicherheitsbedürfnis befriedigt, wird von den Befragten mit Abstand als die gemeinwohlförderlichste Organisation eingestuft. Am unteren Ende rangiert mit Abstand die BILD-Zeitung. Sie steht für den polarisierenden Boulevardjournalismus. Diese beiden Pole spannen gewissermaßen den Bogen und definieren die Atlasränder.“
Der Wissenschaftler kommentiert weiter: „Der GemeinwohlAtlas 2015 zeigt: Trotz aller Kritik gibt es in Deutschland eine grundsätzliche positive Haltung gegenüber den Institutionen einschließlich der Wirtschaftsunternehmen.“
Aber die Befragung ergab auch: 85 Prozent der Befragten sind besorgt, dass dem Thema in Deutschland zu wenig Beachtung geschenkt wird. Eben weil Eigennutz viel zu oft Vorfahrt hat.
Aber kann man das über so eine Befragung sichtbar machen? Nicht wirklich. Denn tatsächlich sind die hier gelisteten Unternehmen zumeist auf völlig anderen Gebieten unterwegs als etwa staatliche oder gemeinnützliche Organisationen.
Wirklich fürs Gemeinwohl tätige Akteure stehen neben rein aufs Geschäft fixierten Unternehmen. Dass Facebook auftaucht in der Liste (ja, so ein sogenanntes “social media”), überrascht nicht. Dass dieser Internetgigant in der Bewertung unten im Keller bei “Bild”, Deutscher Bank und “McDonald’s” auftaucht, überrascht ebenfalls nicht – alle vier sind immer wieder mit Kampagnen unterwegs, mit denen sie ihre Nützlichkeit fürs Gemeinwohl behauptet haben. Die Kunden hat es nicht überzeugt (was aber dem Geschäft zumeist nicht geschadet hat).
In Auftrag gegeben hat die Studie übrigens nicht die HHL, sondern das Center for Leadership and Values in Society (CLVS-HSG) der Universität St.Gallen. Finanziell unterstützt wurde das ganze von Ernst & Young AG Schweiz und der Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deutschland.
Und eine auch im Fragenkatalog deutlich artikulierte Absicht ist es, einen “liberalen Gemeinwohlbegriff” zu etablieren.
Die Nachtigall ist also ein richtig dickes Tier.
Der Boden wackelt, wenn sie trapst. Auch wenn ein Ansatz verständlich ist: Brauchen die Menschen nicht auch “Orientierungshilfe bei Konsumentscheidungen und Arbeitgeberwahl”? Entscheiden sie dabei nicht gern nach Gemeinwohl-Aspekten?
Oder ist das Ganze andersherum gedacht: Soll jetzt der “Gemeinwohlbeitrag von Wirtschaft und Verwaltung” besser verkauft werden?
Tatsächlich wirkt die komplette Befragung wie der Versuch, Grenzen zu verwischen, die den Bundesbürgern heute noch sehr wohl bewusst sind. Deshalb tauchen Feuerwehr, THW, Weißer Ring, DRK und Bundespolizei ganz unangefochten an der Spitze des Rankings auf (ja, es ist auch diesmal wieder nichts anderes als ein Ranking, keine Studie). Die Bürger wissen sehr wohl, was die Gemeinschaft sich als notwendige gemeinschaftliche Hilfseinrichtungen geschaffen hat.
Schwieriger zu beantworten ist die Frage: Was haben sich die Befragten gedacht, als sie die Dritten Programme, ARD und ZDF mit hohen Gemeinwohl-Werten in der Platzierung ins Spitzenfeld hievten? Beginnt hier schon die Verwässerung durch die gewählten vier Dimensionen? Wird am Ende tatsächlich nicht das Gemeinwohl abgefragt, sondern so eine Art gesellschaftliche Nützlichkeit? Ist das ZDF tatsächlich gemeinwohlorientierter als Greenpeace und “Brot für die Welt”? Und wie kann ein eigennütziger Autokonzern wie Volkswagen schon auf Rang 22 auftauchen?
Das verwunderte auch Meynhardt. Deswegen gab es hier noch eine Nachbefragung: “VW führt die Rangliste der Unternehmen im GemeinwohlAtlas an. Die Datenerhebung für den GemeinwohlAtlas fand zwischen Juli und August statt – noch bevor die Manipulation von Abgaswerten durch den VW-Konzern aufgedeckt wurde. Daher wurde zwischen dem 1. und 10. Oktober eine zweite Erhebung mit insgesamt 777 Befragten durchgeführt, um den Gemeinwohlbeitrag von VW, weiteren vier Unternehmen der Fahrzeugindustrie sowie Bosch vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse erneut zu messen.”
Und das Ergebnis: “In der Nacherhebung erhält VW deutlich schlechtere Bewertungen als vor der Diesel-Abgasaffäre. Mit einem Gemeinwohl-Score von 3.30 fällt VW im Vergleich zum Gemeinwohl-Score der Haupterhebung von 4.35 aktuell stark ab und würde sich mit diesem Ergebnis in der Schlussgruppe aller Organisationen befinden. Außerdem gehen die Meinungen in Bezug auf den Gemeinwohlbeitrag von VW stärker auseinander als bei der letzten Befragung wenige Monate zuvor. Die Befragten bewerteten insbesondere die Dimension Moral schlechter.”
Und damit ist im Grunde schon die eigentliche Befragungsgrundlage in Zweifel gezogen.
Denn tatsächlich spiegelt das Ranking eben keineswegs wider, wie der Beitrag eines Unternehmens fürs Gemeinwohl tatsächlich ist, sondern wie gut sein Marketing funktioniert hat. Wer wirklich harte Fragen zu echten Parametern des Gemeinwohls sucht (soziales Engagement, Umweltschutz, faire Lohnpolitik, Wohltätigkeit, Initiativen zur gesellschaftlichen Teilhabe, Kultursponsoring, Achtung von Menschenrechtsstandards usw.), der findet sie nicht.
Man hat also etwas völlig Anderes vor sich, eine Art Welfare-Außenbild, das bei den einen schon jahrzehntelang geübt und ins Gedächtnis der Bürger eingegraben ist, andere bekommen ihr miserables und egoistisches Image einfach nicht los – letztere sind dann alle hinten in der Liste zu finden. Und es sind eine ganze Menge Unternehmen in der Liste vertreten, die man nicht mal im Traum mit dem Thema “Gemeinwohl” in Verbindung bringen würde – die aber trotzdem punkten, weil sie irgendwie fest verwurzelt sind im Alltag der Befragten. Das trifft auch auf die Fußballclubs zu, die längst kleine, eigensüchtige Konzerne sind, ihren Anhängern aber so eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl verkaufen.
Und sie sind nicht umsonst in der Liste, denn sie machen deutlich, dass auch Emotionen aus dem großen Bereich “Gemeinwohl” zur Ware gemacht und verkauft werden können. Genauso wie Produkte mit positiv aufgeladenen Bewertungen sich besser verkaufen. Und längst machen damit nicht nur große Fußballunternehmen Umsatz, sondern eben auch Unternehmen, die ihren Kunden so eine Art Ersatz-Gemeinschaft bieten.
Dass das bei Misserfolg auf dem Rasen eher nicht klappt, sieht man am Beispiel HSV (Rang 119 – hinter Pepsi Cola und Pro Sieben). Aber noch weniger nimmt man Großbanken den Versuch ab, sich als wichtig fürs Gemeinwohl darzustellen, und auch Ölkonzernen wie Shell (was dann wieder verblüfft, wenn man die hohen Bewertungen für Automarken sieht).
Das Ranking ist also sichtlich eine trapsende Nachtigall mit Übergewicht. Und es ist auch noch ein früher Vogel, der schon mal ankündigt, wo die großen Marketing-Etats demnächst eingesetzt werden: Bei der Verbesserung des sozialen Anstrichs der großen Unternehmen, ein Anstrich, hinter dem der auf Profit bedachte Egoismus dann erneut verschwinden soll, nachdem die Sache mit dem Greenwashing schon mal bei Öl- und Autokonzernen in die Hose gegangen ist.
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