Es ist ein kleines Jubiläum: Seit zehn Jahren legt Leipzigs Sozialbürgermeister Thomas Fabian einen "Sozialreport" für die Stadt vor, in dem die wichtigsten Zahlen zum sozialen Zustand Leipzigs zu finden sind. Von Bildung bis Wohnen, von Armut bis Alter. Wer mag, kann sich dabei über das schöne Wachstum der Stadt freuen. Das mindert auch die Probleme etwas.

“Leipzig befindet sich im Aufschwung. Die Stadt wird vielfältiger, verjüngt sich und mehr Menschen haben Arbeit”, freut sich Thomas Fabian. “Teilhabe für alle bleibt weiterhin unser oberstes sozialpolitisches Ziel. Denn trotz der positiven Entwicklung zeigt der Sozialreport 2014 auch, dass noch viel zu tun bleibt.“

Was dann wohl das richtige Fazit ist: Nicht alle haben am Aufschwung teil. Die Armutsgefährdungsquote ist sogar wieder gestiegen. Und die sozialen Brennpunkte sind auch die Brennpunkte für Bildung und Chancengerechtigkeit. Tatsächlich zeigt gerade das wachsende Leipzig, dass die Art des heute in Deutschland praktizierten Wachstums einseitig ist und ein Viertel der Gesellschaft einfach nicht mitnimmt.

Es klingt dann nicht ganz so viel, wenn die Armutsgefährdungsquote ausgerechnet wird. Aber selbst ein leichtes Anwachsen der Durchschnittseinkommen zeigt, wie sehr die Entwicklung bei den höheren und den niedrigsten Einkommen auseinander klafft.

Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen lag 2013 mit 1.549 Euro um 46 Euro höher als im Jahr 2012, heißt es im Report. Das durchschnittliche persönliche Nettoeinkommen (Median) betrug im Jahr 2013 insgesamt 1.152 Euro und lag damit um 17 Euro höher als im Jahr 2012. Aber die Einkommensunterschiede haben sich im Jahr 2013 wieder etwas erhöht. Während die Einkommen der einkommensschwächsten 20 Prozent nur um 1,1 % anstiegen, legten die der einkommensstärksten 20 Prozent um 7,2 % zu. Der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen hat sich von 278 Euro (2012) auf 283 Euro (2013) erhöht.

Armutsgefährdungsquote steigt auf 16,8 Prozent

Das Ergebnis: Rein rechnerisch erhöhte sich der Anteil der Leipziger, die weniger als 60 Prozent des errechneten Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hatten: 16,8 % der Leipziger/-innen waren 2014 relativ einkommensarm (2012: 16,0 %), da ihr Einkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle lag.

Was ja auch bedeutet: Dass mindestens dieser Prozentsatz von Leipzigern vom viel gepriesenen Aufschwung nicht viel mitbekommt. In der Zahl sind zwar auch Studierende und junge Menschen in Ausbildung enthalten. Aber es steckt auch der kaum abschmelzende Sockel von Menschen darin, die dauerhaft auf Unterstützung – etwa durch das Jobcenter – angewiesen sind. Die stellen den größten Teil der armutsgefährdeten Gruppe. Und schon das Jahr 2013 zeigte, dass diese Gruppe der auf Unterstützung Angewiesenen kaum noch Chancen hat, am Arbeitsmarktaufschwung Teil zu haben.

Im Report heißt es dazu: “Insgesamt 77.824 Leipziger Einwohner/-innen (14,6 % aller Einwohner/-innen) bezogen 2013 Leistungen der sozialen Mindestsicherung. Nach Jahren ständigen Rückgangs ist die Empfängerzahl im Jahr 2013 geringfügig angestiegen, bedingt durch die wachsende Einwohnerzahl hat sich die Empfängerquote jedoch gegenüber dem Vorjahr um 0,3 Prozentpunkte verringert.”

27 Prozent der Kinder leben in Bedarfsgemeinschaften

Und das betrifft dann auch  praktisch jedes vierte Leipziger Kind. Der Report dazu: “Von den 70.731 Leistungsempfängern erhielten 52.864 Personen Arbeitslosengeld II (minus 577 zum Vorjahr) und 17.867 Personen Sozialgeld (plus 184 zum Vorjahr). – Im Jahr 2013 waren insgesamt 17.483 Leipziger Kinder unter 15 Jahren auf Sozialgeldzahlungen angewiesen, das waren 163 mehr als ein Jahr zuvor; als der bisher niedrigste Jahreswert seit 2005 registriert wurde. – Anteilig beziehen damit 27,0 % aller Leipziger Kinder im Alter bis 15 Jahren Sozialgeld. Dieser Wert liegt wegen der gestiegenen Zahl aller Kinder unter 15 Jahren um 0,9 Prozentpunkte unter dem Vorjahreswert.”

Und wer dann in die Details schaut, sieht, dass auch hier bestimmte Schwerpunktortsteile besonders betroffen sind: “Der Anteil ist territorial verschieden. In vier Ortsteilen lebt mehr als die Hälfte aller Kinder unter 15 Jahren von Sozialgeld, in weiteren acht Ortsteilen mehr als 40 %. In Volkmarsdorf, dem Ortsteil mit dem höchsten Anteil, hat sich die Quote im Vergleich zum Vorjahr von 66,8 % auf 68,3 % erhöht. Die niedrigsten Anteile sind in den Ortsteilen Zentrum (2,5 %), Baalsdorf (3,7 %) und Zentrum-Nordwest (3,9 %) festzustellen.”

Das Ergebnis ist – wie es der Report-Teil zur Bildung zeigt – sofort auch bei den Bildungschancen zu sehen: In den stark betroffenen Ortsteilen sinkt der Anteil der Gymnasiasten drastisch ab, dafür ist die Quote der Schulabgänger ohne Zeugnis gleich deutlich höher. Kaum ein Bericht zeigt so deutlich den engen Zusammenhang von Armut und Bildungsmisere wie der Leipziger Sozialreport.

Und die Handicaps im Bildungsleben machen sich schon früh bemerkbar: bei der Schuleingangsuntersuchung. Gerade Kinder aus den bildungsfernen Familien fallen hier mit Entwicklungsstörungen auf, die oft genug auf direktem Weg in eine Förderschule führen. Und gerade das treibt die Leipziger Zahlen von Schulabgängern ohne Abschluss in die Höhe.

In sozialen Brennpunkten verlassen besonders viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2014
In sozialen Brennpunkten verlassen besonders viele Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2014

Schülerzahl mit Förderbedarf blieb hoch

Und ein wenig verzweifelt klingt es schon, wenn der Report konstatiert, dass sich daran einfach nichts zu ändern scheint: “Entgegen der demografischen Entwicklung stieg die Anzahl der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf seit Beginn der 2000er Jahre kontinuierlich an. Durch die gleichzeitige Abnahme der Gesamtschülerzahl stieg der Anteil der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf von 6,4 % auf einen maximalen Wert von 10,4 % im Schuljahr 2012/13. Gegenüber dem vorangegangenen Schuljahr nahm 2013/14 die Anzahl der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf um zehn ab. Dieser erste absolute Rückgang der Schülerzahl seit 2002/03 sorgte für ein Absinken des Anteils der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allen Schüler/-innen auf 9,2 %.”

Und warum mussten die Kinder besonders gefördert werden? – “Die stärkste Gruppe machte mit ca. 30 % der Förderschwerpunkt Lernen aus. Hier nahm die Zahl bis in das Schuljahr 2008/09 ab und stagnierte seitdem auf einem Niveau von knapp 1.200 Schüler/-innen.” Aber: “Im langjährigen Vergleich verschob sich die Zusammensetzung der Schülerschaft nach Förderschwerpunkten. Anfang der 2000er Jahre vereinte der Bereich Lernen noch die Hälfte aller Schüler/-innen auf sich. Im Zeitverlauf pendelte sich die Anzahl der Schüler/-innen auf einem Niveau von 1.200 Schüler/-innen ein und andere Förderschwerpunkte erlangten größere Bedeutung. So erfuhr im Gegenzug die Anzahl der Schüler/-innen mit dem Förderschwerpunkt emotionale/soziale Entwicklung mehr als eine Verdreifachung und die Zahl der Schüler/-innen mit Sprachförderbedarf stieg um mehr als 80 %. Mit Ausnahme des Förderschwerpunktes Lernen fiel die Anzahl der Schüler/-innen in allen anderen Förderschwerpunkten 2013/14 höher aus als 2000/01.”

Das heißt ja wohl: Da muss noch eine Menge Arbeit geleistet werden – insbesondere in den Kindertagesstätten, damit diese Kinder im sechsten Lebensjahr deutlich weniger Entwicklungsrückstand haben. Und das heißt: Das von der Landesregierung gepriesene Betreuungsgeld bzw. Landeserziehungsgeld ist geradezu kontraproduktiv, wenn es von sozial schwachen Familien beantragt wird. Die Kinder brauchen jede mögliche Förderung in einer Kita, die sie bekommen können.

Da ist das Herumreformieren am Zugang zum Gymnasium eher Begleitmusik. Das Heraufsetzen der Zugangskriterien hat nur dazu geführt, dass noch mehr Familien alles dafür tun, dass ihre Kinder aufs Gymnasium kommen. Die sächsische Oberschule wird einfach nicht mehr als belastbare Regelschule betrachtet. Daran hat auch die Umtitulierung nichts geändert.

Gymnasium bleibt weiter die angestrebte Regelschule

Oder wie im Report nachzulesen: “Aufgrund der angesprochenen Verschärfung der Zugangskriterien für den Besuch eines Gymnasiums sank der Anteil der gymnasialen Bildungsempfehlungen zwischen 2009 und 2010 um fast zehn Prozentpunkte auf 46,9 %. Seither fand eine stetige Aufwärtsbewegung statt, die 2012/13 erstmals seit der Novellierung dazu führte, dass wieder mehr gymnasiale Empfehlungen als solche für die Oberschule ausgegeben wurden (50,7 %). Diese Entwicklung setzte sich auch im Schuljahr 2013/14 fort, der Anteil gymnasialer Bildungsempfehlungen stieg erneut an und erreichte einen Wert von 52,1 %.”

Einen besonderen Schwerpunkt setzt der Report diesmal für die Alleinerziehenden. Denn deren Zahl steigt. Aber sie haben auch bessere Arbeitsmarktchancen, seit der Fachkräftebedarf zunimmt – und wahrscheinlich hilft auch das besser ausgebaute Kita-Netz dabei.

“Am Jahresende 2013 gab es in der Stadt Leipzig insgesamt 13.845 Alleinerziehende, davon 12.621 Frauen und 1.224 Männer. Der Anteil der Alleinerziehenden an allen Haushalten in der Stadt Leipzig hat sich von 4,1 % im Jahr 2008 auf 4,5 % im Jahr 2013 erhöht”, stellt der Report fest. “Jedes vierte Kind unter 18 Jahren lebt in einem Alleinerziehenden-Haushalt. Das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen von Alleinerziehenden lag im Jahr 2013 bei 1.426 Euro und somit um 143 Euro höher als im Vorjahr.”

Noch hängen 26 Prozent der Alleinerziehenden im Jobcenter fest

Ergebnis: “Die Mehrzahl der Alleinerziehenden bestreitet ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch Erwerbseinkommen, 2013 waren das 70 Prozent. 26 Prozent aller Alleinerziehenden leben hauptsächlich von Arbeitslosengeld II. Im Jahr 2013 erhielten 7.375 Alleinerziehende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II.”

Besonders frappierend ist freilich eine Grafik auf Seite 68, die zeigt, wie die Zahl der Bewerber für Berufsausbildungsstellen von 6.965 im Jahr 2007 regelrecht abstürzte auf 2.449 im Jahr 2010. Auf diesem Niveau liegt die Zahl der Berufsbewerber seitdem und nichts zeigt so deutlich, wie sehr der Geburteneinbruch der 1990er der Fachkräftemangel von heute ist. Dass sich Sachsen trotzdem ein Bildungssystem leistet, in dem 10 Prozent der Jugendlichen durchs Raster fällt, ist eine Katastrophe.

Und auch wenn sich Thomas Fabian über die sinkenden Arbeitslosenzahlen freut, erzählen andere Zahlen aus dem Report etwas anderes über den wirklichen Stand der Armut. Denn die Zahl der Schuldnerberatungen, die der Räumungsklagen oder die der Grundsicherung im Alter ziehen weiterhin an. Zeichen dafür, wie manifest und verbreitet Armut in Leipzig tatsächlich noch ist. Auch wenn die Stadt mit einem jährlich steigenden Sozialetat gegensteuert. Aber es sind nicht nur die Kita-Kosten, die diesen Etat anwachsen lassen.

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