Was sich im Januar abgezeichnet hat, bestätigt sich im Mai: Leipzigs Arbeitsmarkt driftet immer weiter auseinander. In Arbeitsagentur und Jobcenter sinken zwar die Zahlen. Dafür geht's bei den Bedarfsgemeinschaften rauf. Da kann auch der Chef der sächsischen Arbeitsagentur nur vorsichtig beschwichtigen: Wir haben doch neue Arbeitsmarktinstrumente!

Im Wortlaut der Arbeitsagentur Sachsen: “Allerdings ist nicht für alle langzeitarbeitslosen Menschen der direkte Einstieg in den Arbeitsmarkt möglich. Häufig sind es Hindernisse im persönlichen Umfeld, den Rahmenbedingungen oder in der Qualifikation, die eine Arbeitsaufnahme erschweren. Für diese Menschen stehen ausreichend Aktivierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen bereit. Zusätzlich können Frauen und Männer durch Arbeitsgelegenheiten in die Gesellschaft integriert werden, um eine schrittweise Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu erreichen. – Aber auch neue Ansätze zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit verfolgen die sächsischen Jobcenter. So können in Sachsen rund 800 Menschen mit dem Bundesprogramm ‘Chancen eröffnen und soziale Teilhabe sichern’ gefördert werden. Ziel ist es, schwer vermittelbare Menschen direkt im Betrieb – praxisnah – dauerhaft zu integrieren.”

Aber die schlichte Wahrheit ist: Nachdem die zuständigen Arbeitsminister – besonders die seinerzeit zuständige Bundesarbeitsministerin – die Integrationsmittel drastisch gekürzt haben, zeigt sich, wie sehr die alte Hartz-IV-Legende, man würde Menschen wieder an den Arbeitsmarkt heranführen, die zuvor ausgeschlossen waren, Legende geblieben ist. Wer durch Alter, fehlende berufliche Qualifikation, gesundheitliche oder familiäre Beeinträchtigungen über Jahre keinen Zugang mehr zum eigentlichen Arbeitsmarkt hatte und oft genug schon mehrere Schleifen durch die Beschäftigungsangebote des Jobcenters gedreht hat, der hat keine Chance. Der erlebt den Sprung “in den Arbeitsmarkt” wie den Versuch, auf ein rasend schnell drehendes Karussell aufzuspringen.

Den Beschäftigungsaufbau in Sachsen erleben die meisten so Betroffenen nur von ferne.

Und dabei ist Sachsen in einer guten Situation

Der Beschäftigungsaufbau ging auch im Frühjahr 2015 weiter. Im März 2015 waren in Sachsen nach ersten Hochrechnungen rund 1,510 Millionen Frauen und Männer sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Mit einem Zuwachs von 17.200 hält der Beschäftigungsanstieg gegenüber dem Vorjahr an und liegt bei aktuell 1,2 Prozent, teilt die sächsische Arbeitsagentur mit. Und weiß auch, wo die ganzen neuen Jobs entstehen. Es ist keine Überraschung, dass es die in Leipzig ansässigen Cluster sind, die am deutlichsten zulegen.

Den kräftigsten Beschäftigungsaufbau gab es in den Bereichen Verkehr und Lagerei (plus 4.000) sowie im verarbeitenden Gewerbe (plus 3.200). Auch im Bereich der Zeitarbeit (plus 3.100), im Gastgewerbe (plus 2.200) sowie im Gesundheitswesen (plus 2.100) sind mehr Menschen beschäftigt als noch vor einem Jahr. Einen kräftigen Beschäftigungsaufbau gab es weiterhin im Sozialwesen (plus 1.900) und im Handel (plus 1.900).

Stichwort Gesundheits- und Sozialwesen: Die demografische Entwicklung im Land macht sich bemerkbar. Mehr ältere Menschen sorgen für einen starken Zuwachs insbesondere in der Pflegebranche. Und das macht auch ein bisschen deutlicher, warum die Menschen, die im Jobcenter gestrandet sind, nicht auf das sich drehende Karussell aufspringen können: Die Jobs, die angeboten werden, setzten zumeist entsprechende Qualifikationen, Flexibilität, Mobilität und in der Regel auch körperliche Fitness voraus.

Die meisten freien Stellen sind im Bereich der Zeitarbeit (9.710), im verarbeitenden Gewerbe (3.297), im Gesundheits- und Sozialwesen (2.379), im Handel (2.062) und im Baugewerbe (1.871) zu besetzen.

Das gilt für Sachsen. Das gilt auch für Leipzig.

Auch hier ging die Arbeitslosigkeit in den letzten vier Wochen zurück. 484 Menschen weniger waren arbeitslos gemeldet. Aber die seit Januar aufklaffende Diskrepanz wird immer deutlicher: Mit 232 Arbeitslosen weniger im Rechtskreis SGB III und mit 252 weniger im Rechtskreis SGB II (Jobcenter) war der Rückgang auf den ersten Blick ähnlich groß.

Die Arbeitslosigkeit sank auch im Vergleich zum Mai 2014. Der Rückgang lag bei –303. Die Arbeitslosigkeit im Mai 2015 mit 28.207 Menschen ist die niedrigste in Leipzig seit Anfang der 1990er Jahre.

Aber das ist nur die Oberfläche. Denn während auch im Jobcenter die Zahl der als arbeitslos Gezählten sank – von 22.436 auf 22.184, stieg gleichzeitig die Zahl der Bedarfsgemeinschaften an – und die der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auch. Das Jobcenter Leipzig betreut aktuell 52.806 erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Im Vergleich zum Vormonat betrug der Anstieg +72, gegenüber März sogar 296. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl um -917 Personen.

Die Zahl der Bedarfsgemeinschaften kletterte von 42.116 im März auf 42.311 im April nun auf 42.403 im Mai. Statt also die von der Stadt erhoffte Abschmelzung des Bestands an Bedarfsgemeinschaften zu erleben, steigt die Zahl wieder. Und das mitten in der Saison. Die Zahl der in diesen Bedarfsgemeinschaften betreuten Personen sank leicht von 71.082 auf 71.036.

Ein Grund dafür, dass das in Leipzig so ist, obwohl in ganz Sachsen auch diese Zahlen fallen, ist natürlich, dass die Unternehmen in der Region bevorzugt auch die jungen Leute einstellen, die nach Leipzig ziehen. So hat zwar Leipzig mit 9,8 Prozent Arbeitslosigkeit (April: 10,2 Prozent) die höchste Arbeitslosenrate aller Agenturbezirke in Sachsen. Aber davon profitieren eben auch die anderen Regionen – auch der Agenturbezirk Oschatz, der die beiden Leipziger Landkreise umfasst. Hier sank die Arbeitslosenzahl gegenüber 2014 um 3,9 Prozent. Geradezu erstaunlich sind die starken Rückgänge von über 10 Prozent in Zwickau, Riesa und Annaberg-Buchholz. Aber wenn man davon ausgeht, dass die jungen Leute weiterhin in die drei Großstädte abwandern, ist das eher ein Alarmzeichen. Denn damit verlieren die Landkreise ihre künftigen Fachkräfte.

Leipzig hat zwar noch keine Beschäftigtenzahlen fürs Frühjahr gemeldet, sondern hat erst die für September 2014 vorliegen. Aber die Dimension macht schon deutlich, wo in Sachsen die Arbeitsplätze entstehen. So meldet die Leipziger Arbeitsagentur: “Im September 2014, dem letzten Quartalsstichtag mit gesicherten Angaben, belief sich die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im Bezirk der Agentur für Arbeit Leipzig auf 245.678. Gegenüber dem Vorjahresquartal war das eine Zunahme um 9.702 oder 4,1%, nach +11.233 oder +4,9% im Vorquartal. Nach Branchen gab es absolut betrachtet die stärkste Zunahme in der Arbeitnehmerüberlassung (+3.071 oder +21,5 %)…”

Damit passiert die Hälfte des sächsischen Beschäftigungsaufbaus in Leipzig.

Die Frage ist eher: Geht irgendwann der “Nachschub” aus? Wie groß der Druck auf die Unternehmen schon ist, macht eine Zahl deutlich: Während besonders die Zahl der 25- bis 50-jährigen Vollzeitbeschäftigten wuchs (um 6.684) und auch die Zahl der beschäftigten über 50-Jährigen zunahm (plus 3.851), ging die Zahl der Beschäftigten unter 25 Jahren deutlich zurück – um 1.077.

Was eben nicht daran liegt, dass die jungen Leute alle gefeuert wurden. Im Gegenteil: Sie werden händeringend gesucht. Denn parallel ging auch die Zahl der jungen Arbeitslosen im Jahresverlauf um 17,8 Prozent zurück. Die halbierten Ausbildungsjahrgänge, die seit 2010 in den Arbeitsmarkt eintreten, machen sich überdeutlich bemerkbar. In Leipzig kompensieren das die Unternehmen noch damit, dass sie vom starken Zuzug profitieren. Aber wie lange kann das gut gehen?

Tatsächlich stellen sie ja eigentlich die jungen Leute ein, die in den Landkreisen zunehmend fehlen. Und für eine andere Arbeitmarktreserve fehlen nach wie vor die gut ausgebauten Integrationsinstrumente: Das sind die Ausländer. Bei ihnen hat der Wert der Arbeitslosigkeit seit 2014 um 18,5 Prozent zugelegt. Im Bereich des Jobcenters sogar noch deutlicher: um 20,2 Prozent. Ihre Arbeitslosenquote liegt bei 24,1 Prozent. Signal genug, dass hier etwas passieren muss.

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