Selbst bei FAZ und SZ haben sie es mittlerweile begriffen, auch wenn sie allerlei Grexit-Befürwortern immer wieder Platz einräumen auf ihren Seiten: Die bisherige Strategie der Troika im Umgang mit Griechenland ist auf der ganzen Linie gescheitert. Und es ist nicht Griechenland, das "nicht genügend Reformbereitschaft" gezeigt hat. Es sind die Verhandlungsführer von IWH, EZB und Europäischer Kommission, die das Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit getrieben haben.
Doch während einige medienaffine deutsche Wirtschaftsprofessoren seit Jahren nicht müde werden, den Griechen Austritt und geordnete Insolvenz zu verordnen, nimmt jetzt ein Student der Wirtschaftslehre die falschen Thesen von IWF & Co. auseinander. Philipp Heimberger studiert an der Wirtschaftsuniversität Wien. Das ist ein Vorteil. Denn Österreich ist bis jetzt das einzige Land, das für Griechenland bisher so etwas wie einen Fünf-Jahres-Plan empfohlen hat. Das Gegenteil dessen, was die sogenannte Troika empfiehlt, die so nicht mehr genannt werden möchte.
Aber warum soll man sie so nicht nennen, wenn sie in all den Jahren ihre Position nicht um einen Millimeter verändert hat?
Dass in den Medien immer wieder der Spruch erscheint, die Griechen hätten keine oder nicht genügend oder die falschen Reformvorschläge vorgelegt, hat nichts mit Griechenland zu tun, sondern mit den falschen Wirtschaftsthesen, mit denen der IWF schon seit Jahren arbeitet. Und da die besonders meinungsstarken deutschen Fernsehsender die immer neuen alten Refrains aus der Verhandlungsgruppe unhinterfragt fast täglich in alle Haushalte strahlen, ist das Ergebnis eigentlich klar: Immer mehr Bundesbürger sind überzeugt, dass ein Austritt Griechenlands aus dem Euro, der einer Staatspleite gleich kommt, die bessere Alternative sei.
Zum täglichen “Nun ist aber die Grenze erreicht”-Theater auf jeden Fall. Man kann einen Konflikt auch so inszenieren, dass am Ende die Zuschauer nur noch die Nase voll haben und das Gefühl, es wäre jetzt besser, der Todeskandidat möge endlich geköpft werden.
Doch Philipp Heimberger hat jetzt für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung noch einmal aufgearbeitet, welche Reformleistungen die europäischen Südländer eigentlich seit 2010 schon geleistet haben. Er nimmt dafür genau das, was auch OECD und EU immer wieder als “Strukturreformen” fordern, zum Maßstab. Und er erklärt auch, was mit diesen Strukturreformen gemeint ist, was die abendlichen Nachrichtensprecher schon lange nicht mehr tun – wenn sie es überhaupt je getan haben.
Er zitiert dabei direkt von der Homepage der Europäischen Kommission, die sich gern wie eine Europäische Regierung benimmt, aber die Prämissen, nach denen sie regiert, selbst bestimmt. Auf ihrer Homepage steht zu lesen (von Heimberger ins Deutsche übersetzt): “Strukturreformen adressieren die Hindernisse der fundamentalen Triebkräfte wirtschaftlichen Wachstums, indem sie die Arbeits-, Produkt- und Dienstleistungsmärkte entfesseln, um die Schaffung von Arbeitsplätzen, Investitionen und Produktivität zu fördern. Zudem zielen sie darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft, ihr Wachstumspotenzial und ihre Anpassungsfähigkeiten zu stärken.“
Klingt alles marketingtechnisch, meint aber zwei Dinge, die auch den Bundesbürgern mittlerweile sehr vertraut sind: Liberalisierung (also den Abbau von Gesetzesvorschrift, Normen und Regularien – Abbau von staatlicher Kontrolle) und “Wettbewerbsfähigkeit”, was vor allem als Senkung des Kostenfaktors Arbeit verstanden wird. Dahinter steckt der fast manische Glaube daran, “der Markt” würde dann mystische Selbstheilungskräfte entfalten und das Land quasi durch reinen, freien Wettbewerb aus dem Dreck ziehen.
Philipp Ther hat in seinem verdienstvollen Buch “Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent” im vergangenen Jahr sehr nuanciert herausgearbeitet, wie die Allheilmittel des IWF (die versteckt auch in der These der EU-Kommission stecken) in den osteuropäischen Ländern seit 1990 auf die unterschiedlichste Weise angewendet wurden. Ein Buch, das auch zeigte, dass nicht in jedem Land alle Rezepte auf die gleiche Weise funktionieren. Und dass die Ergebnisse völlig andere – zumeist deutlich positivere – sind, wenn sich Regierungen ihre Eingriffsmöglichkeiten und Gestaltungsräume nicht völlig wegnehmen lassen. Polen und die Tschechische Republik stehen dafür als Beispiel.
Ein wesentlicher Unterschied war aber auch immer: Keines dieser Länder war so hoch verschuldet wie Griechenland, gemessen am Bruttosozialprodukt.
Viele dieser Länder fingen zwar quasi “bei Null” an, mussten eine alte, nicht konkurrenzfähige Wirtschaft durch moderne, wettbewerbsfähige Strukturen ersetzen, mussten vor allem auch Kapital ins Land lassen und Investoren möglichst große Handlungsfreiheit geben. Aber bei Sozialstandards und Löhnen begann man oft genug ebenso bei Null. Man musste nicht erst einen Lohnmarkt und ein Sozialsystem zerstören, um Löhne “wettbewerbsfähig” zu machen.
Griechenland aber hat seit 2010 massiv genau die Strukturreformen umgesetzt, die die beratungsresistente Troika bis heute immer wieder fordert. Ein Vorgang, den Heimberger ganz trocken kommentiert: “In der angebotsseitigen Modellwelt, aus der diese Politikempfehlungen abgeleitet werden, sind alle Regulierungen, die einen Kostenfaktor für Unternehmen darstellen, ein zu beseitigendes Hindernis auf dem Weg zu höherem Wachstum und mehr Beschäftigung. ‘Strukturreform’ ist ein scheinbar sachlicher, ideologiefreier Begriff. Tatsächlich hat er aber natürlich eine eindeutige ideologische Schlagseite, nämlich zugunsten der Kürzung von Sozialleistungen und Arbeitnehmer_innenrechten, was konservative Politiker_innen auch für ihre Zwecke auszunutzen wissen. ‘Strukturreformen’ werden nachgerade als universelles Heilmittel für alle wirtschaftlichen Probleme Europas propagiert.”
Und nach Auswertung der Zahlen kommt er zu dem nüchternen Ergebnis: “Der Vorwurf, Griechenland und andere Krisenländer hätten in den letzten Jahren gar keine ‘Strukturreformmaßnahmen’ – wie sie von Institutionen wie der OECD und der Europäischen Kommission gebetsmühlenartig gefordert werden – unternommen, ist aus der Luft gegriffen; ganz im Gegenteil weist der OECD-Indikator darauf hin, dass die Krisenländer am vorbildlichsten den gängigen Reformvorgaben gefolgt sind.”
Dumm nur, dass die vorbildliche Umsetzung der Strukturreformen nichts gebracht hat – außer noch mehr Schulden. Um 20 Prozent sind in Griechenland die Reallöhne seit 2009 gesunken, die Arbeitslosenrate ist um 14 Prozent gestiegen, die Nachfrage (Konsum!) ist um 28 Prozent gesunken. Aus Griechenland ist ein Land geworden, das nicht einmal mehr in der Lage ist, seinen Zinsdienst für die Schulden selbst zu erwirtschaften. Jeder klassische Wirtschaftswissenschaftler würde an so einer Stelle spätestens sagen: Das Land braucht einen (Wieder-)Aufbauplan und ein Entschuldungskonzept, das dem Staatshaushalt nicht auch noch die letzten Reserven entzieht. Denn nichts anderes verlangt ja die Troika in ihrer erbarmungslosen Forderung, erst müssten die Forderungen der Gläubiger erfüllt werden.
Welcher Gläubiger eigentlich? Sind das nicht wir, die Steuerzahler?
Was aus dem Land dabei wird, ist den Troika-Verhandlern völlig egal. Das ist eine Dimension, in der sie gar nicht denken können. Und zur Selbstkorrektur ist die Truppe um den niederländischen Finanzminister Jeroen Dijsselbloem augenscheinlich auch nicht in der Lage. Griechenland ist als Absatzmarkt, Arbeitsmarkt, Exporteur in Europa praktisch lahmgelegt. Wenn man das Lohnniveau immer weiter drückt, entsteht ein ganzer Rattenschwanz von negativen Folgen: Große Teile der Wirtschaft können ihre Produkte nicht mehr absetzen, Mieten und Energiekosten werden nicht mehr bezahlt, Städte und Infrastrukturen verwahrlosen – das ganze Land gerät in eine Abwärtsspirale.
Heimberger: “In den Ländern mit dem stärksten Lohnabwärtsdruck stieg die Arbeitslosenrate am deutlichsten an – umgekehrt war die Entwicklung der Arbeitslosenrate in jenen Ländern am vorteilhaftesten, wo die Reallöhne sich positiv entwickelten. Dieser empirische Zusammenhang steht in offenem Widerspruch zu den Erwartungen von Institutionen wie der Europäischen Kommission, der OECD sowie von konservativen Politiker_innen.”
Heimberger benutzt ein Wort, das im neoliberalen Neusprech gar nicht vorkommt, weil das “Freier Markt”-Modell solche komplizierten Verquickungen gar nicht vorsieht – es ist eben ein Wirtschaftsmodell für Leute, die das Ganze immer ganz einfach haben wollen und schlicht nicht begreifen wollen, dass die Engländer zwar gern von “the markets” sprechen, damit aber vor allem und allein das Börsenparkett meinen. Den “Markt” an sich gibt es schlichtweg nicht. Nur eine Gesamtwirtschaft, in der auch Staat, Sozialsysteme, Konsumenten Teil eines immerwährenden Austauschprozesses sind. Diese Gesamtwirtschaft blüht nur, wenn alle daran Teil haben und wenn alle möglichst gleichberechtigt daran teilhaben. Wenn man aber “Staat”, Sozialsysteme und Binnenkaufkraft derart schwächt, wie das in Griechenland passiert ist, hört der gesamte Wirtschaftskreislauf auf zu funktionieren.
“Der gezielt ausgeübte Lohnabwärtsdruck in den Krisenländern der Eurozone – vorangetrieben durch die ‘Strukturreformen’ der Deregulierung der Arbeitsmärkte und den Abbau des Sozialstaates – verstärkte in den letzten Jahren nachfrageseitig die negativen gesamtwirtschaftlichen Kreislaufeffekte, was zu einer Vertiefung der Krise führte”, stellt Heimberger fest. “Dass Institutionen wie die Europäische Kommission, der IWF und die EZB sowie konservative Politiker_innen angesichts dieser Erfahrungen ‘more of the same’ für Griechenland fordern, ist eine intellektuelle Bankrotterklärung.”
Die Mutter aller Sprüche würde wohl an dieser Stelle wieder ihr “alternativlos” einwerfen.
Aber das ist falsch. Selbst die Aktionäre an den Börsen haben das begriffen und bringen, wo sie nur können, ihr Geld vor einem möglichen Griechenland-Crash in Sicherheit. Denn das wird teuer. Selbst der “Spiegel”, der sich mit der Kritik an der Troika eher zurückhält, kommt auf 420 Milliarden Euro, die dann einfach weg sind. Richtig weg. Den größten Batzen würden dann wieder die deutschen Steuerzahler aufbringen müssen, die glauben, ein Grexit wäre jetzt die beste Lösung, obwohl genau die Leute, die ständig “Reformen” fordern, am allerwenigsten reformfähig sind und unfähig, auch nur die simpelsten Alternativen zu finden.
Und das wirkt auch lähmend auf die wirtschaftliche Entwicklung in ganz Europa. Auch das scheint die Schulmeister-Truppe der Troika nicht begreifen zu wollen.
Heimberger: “Eine nachhaltige Erholung der europäischen Wirtschaft setzt eine Umkehr der vorherrschenden ‘Reformpolitik’ voraus, nicht ihre Intensivierung. Dessen sollten sich kritische Medienbeobachter_innen stets bewusst sein, wenn im Zuge der aktuellen Verhandlungen zwischen Griechenland und den Gläubigervertreter_innen der Eurozone und des IWF unaufhörlich und leider zumeist unwidersprochen von den Austeritäts-Hardlinern verlangt wird, Griechenland müsse endlich ‘seine Reformhausaufgaben erledigen’.”
Es gibt 2 Kommentare
Wenn sie sich bereiterklären würden auf Kosten der EU 5000 Steuerfachleute aus den Mitgliedsländern, ….
Dabei muss jedoch Folgendes dringend mit berücksichtigt werden:
Die Finanzverwaltung in Griechenland scheint wahrlich nicht das Gelbe vom Ei zu sein. Dafür gibt es vielfältige Ursachen, welche die jetzige Regierung nicht zu verantworten hat.
Mich stört aber gewaltig, dass führende Vertreter der BRD bezüglich unserer (angeblich) so tollen Finanzverwaltung auf den Putz hauen bis die Schwarte knackt. Sicher ist die Finanzverwaltung in Deutschland gut aufgestellt. Es ist aber politisch nicht (!!!) gewollt, diese wesentlich – im Interesse des Gemeinwohls – zu verbessern. Jährlich gehen beispielsweise Beträge, die in die Milliarden Euro gehen (mindestens 50,0 Milliarden – in Worten: fünfzig Milliarden Euro) verloren, weil man nicht gewillt ist, die “Zentrale Steuerfahndung der BRD” zu bilden, was jeder Steuerfahnder längst erkannt hat. Obwohl ich kein Steuerfahnder bin bzw. war, sondern nur der “Finanzrevisor Pfiffig aus der DDR”, habe ich per E-Mail den Bundesfinanzminister und außerdem weitere hohe bzw. höchste Politiker bzw. Parteien darauf hingewiesen. Nichts hat sich bisher getan. Diese Kreise haben keine Probleme damit, dass diese Mittel nicht für dringend erforderliche Maßnahmen zur Verfügung stehen. Sie bleiben somit in Taschen, wo sie nicht hingehören. Ist das nicht ein Skandal?
Vielfach habe ich in der L-IZ auf die beschämende Rolle bei der Kontrolle der Steuergelder in Deutschland (beim Bund und in allen Bundesländern) hingewiesen. Die ordnungsgemäße Kontrolle ist deshalb nicht gewährleistet, weil das die Strukturen (bewusst) verhindern. Auch bei den Wirtschaftsprüfungen bedarf es gravierender Änderungen. Das betrifft vorwiegend die Zerschlagung der sogenannten Big Four.
Dieser Kommentar ist dazu gedacht, nichts in Griechenland zu beschönigen. Ich möchte jedoch nachdrücklich davor warnen, selbst den sogenannten Experten Glauben zu schenken, was ihre Darlegungen zur (angeblich) vorbildlichen Finanzpolitik in Deutschland betrifft, Schön wäre es, wenn jedem, der so einen Schmarrn verbreitet, eine lange Nase wachsen würde. Das wäre ein Segen, denn wer will schon mit solch einer langen Nase herumlaufen.
Ich habe durchaus Verständnis für den Kommentar von Olala, denn er spiegelt letztlich vieles von dem wieder, was die Medien mit Rang und Namen täglich den Zuschauern, Lesern und Hörern vermitteln. Oft ist dabei die Wahrheit nur Nebensache. Allein eine deftige Schlagzeile reicht oft aus, um hohe Einschaltquoten zu erreichen bzw. Zeitungen an den Mann oder die Frau zu bringen (um letztlich Kohle zu machen).
Olala, zum Schluss noch ein persönlicher Hinweise für Sie, auch deshalb, weil Ihre Kommentare gutes Niveau aufweisen. Leisten Sie sich doch einmal mein Hörbuch “Finanzrevisor Pfiffig aus der DDR”, welches seit wenigen Tagen erhältlich ist. Ich behaupte sogar, dass das ein Hörbuch der Spitzenklasse ist, Der Thono Audio Verlag produziert keine Massenware, Sie erhalten darin u.a. wichtige und zugleich leicht verständliche Informationen, wie es tatsächlich um die Kontrolle der Steuerfelder im wieder vereinten Deutschland bestellt ist. Und das zudem humorvoll verpackt und mit angenehmer Stimme vorgelesen. Geht es noch leichter, um sich dieser Thematik zu nähern? Ich glaube nicht.
Was ich hier vemisse ist ein echte Alternativendarstellung mit Kostenanalyse in politischer und finanzieller Hinsicht.
Ebenso vermisse ich den Willen der griechischen Regierung eine effektive Steuer- und Grundbuchpolitik einzuführen.
Ich bin gerne bereit über einen Schuldenschnitt bzw. eine ewige Staatsschuld, siehe England, mitzutragen.
Allerdings sollten dann auch die Griechen Hilfe annehmen.
Wenn sie sich bereiterklären würden auf Kosten der EU 5000 Steuerfachleute aus den Mitgliedsländern, zusammen mit 5000 Grundbuchspezialisten und Vermessungsteams, ohne Einschränkungen, dort eine neue Steuer- und Grundbuchordnung einzuführen die gesetzlich verankert ist, dann kann es sofort zu einer Einigung kommen!