Wer die IAB-Studie zu den drei Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen genauer liest, der merkt schnell, dass es eigentlich Unfug ist, die "Arbeitsmärkte" der drei Länder gesondert zu betrachten: Nur Verwaltungen denken bis zur Landesgrenze. Menschen packen ihre Sachen und ziehen um. Oder pendeln. Und auch die demografische Entwicklung verändert "Arbeitsmärkte". Stärker, als die Forscher glauben.

Denn Forscher kommen in Sackgassen, wenn sie immer nur über Arbeitsmarktreserven, Altersstrukturen, Qualifizierungen und dergleichen nachdenken. Die IAB-Studie geht zumindest ein wenig darüber hinaus, indem sie auch berücksichtigt, welche Rolle dünn besiedelte Räume und kompakte Großstädte dabei spielen.

“Einer stetig steigenden Zahl an Stellen, die immer schwieriger oder teilweise gar nicht besetzt werden können, scheint damit eine nicht im gleichen Umfang sinkende bzw. immer noch hohe Zahl von Arbeitslosen gegenüber zu stehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß in Ostdeutschland spezifische Hemmnisse auf der Stellen- und/oder der Bewerberseite existieren, die einer umfassend(er)en Potenzialnutzung entgegen stehen.”

Kann man fragen. Bringt aber selbst den IAB-Forschern nichts: “Spezifische Hemmnisse auf beiden Marktseiten in Ostdeutschland, die einer problemloseren Besetzung offener Stellen und einer besseren Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt im Wege stehen, lassen sich derzeit hingegen aus der Arbeitsmarktstatistik kaum erkennen. So lag 2013 beispielsweise der Flexibilisierungsgrad, der den Anteil der atypisch Beschäftigten an allen Beschäftigten quantifiziert, in beiden Landesteilen bei knapp 40 Prozent.  Die Strukturunterschiede bei den Arbeitslosen – z. B. beim Alter oder den Zielberufen – oder den gemeldeten Stellen – z. B. bei den Qualifikationsanforderungen oder den Berufen – sind ebenfalls eher gering.”

Nein, an den Qualifikationen liegt es nicht

Versuch einer Antwort der IAB-Forscher: “Die Gründe für die weiterhin schlechtere Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland sind vor allem in den Rahmenbedingungen zu finden. Dazu zählt die im Vergleich zu Westdeutschland ländlichere Siedlungsstruktur, die ungünstigere Branchenzusammensetzung und die kleinteiligere Betriebsstruktur. Diese führen dazu, dass die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt eine größere Herausforderung darstellt. Weitere hemmende Faktoren sind zudem die hohen Anteile von SGB II-Arbeitslosen und erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit längerem durchgängigem Leistungsbezug, die Qualifikationsentwertung Langzeitarbeitsloser und der teils geringe Abstand zwischen Grundsicherungsleistungen und möglichem Arbeitsentgelt.”

Dumm nur, dass man daran nichts ändern kann: Der Osten wurde ab 1990 flächendeckend von großen, leistungsstärkeren Unternehmen entblößt. Selbst wo sie die ersten Jahre überlebten, fehlte ihnen in der Regel das Kapital, um wirklich kräftig in Innovationen und Ausbau der Produktion und der Absatzmärkte zu investieren. Damit dominieren kleinteilige Betriebe. Aber sie tun das auch deshalb, weil größere Unternehmen auch deutlich mehr Anforderungen an ihr Umfeld stellen. Sie brauchen nicht nur die Nähe zu ihren Arbeitskräften, Rohstoffquellen und vielleicht einem Autobahnanschluss, sondern in der Regel ein dichtes Netz von Infrastrukturen, Nähe zu Zulieferern und Abnehmern, engen Kontakt zu Bildungs- und Forschungseinrichtungen, gute ÖPNV-Anbindungen und – immer stärker – ein gutes Netz von familiären Versorgungsstrukturen.

Auch große Unternehmen bevorzugen große Städte

Es liegt in der Logik der Sache: Größere Unternehmen bevorzugen schon aus Überlebensinstinkt die Nähe größerer Städte. Und wenn die Arbeitsmarktforscher auch mal die zuständigen Chefs fragen würden, würden die ihnen das auch noch vorrechnen: Was kosten überhöhte Transport- und Infrastrukturkosten? Was kosten fehlende Forschungsverbindungen? Fehlende Ausbildungsstätten in der Nähe? Fehlen Auffangstrukturen für Familienprobleme?

Darüber wird so gut wie nie geredet. Aber das sind die Fakten, die bei einer Standortentscheidung ins Gewicht fallen. Da ist eher die Frage: Henne oder Ei?

Ei, schreiben die Forscher des IAB.

“Die Frage, die sich mit Blick in die Zukunft stellt, ist, ob die Konzentration der Arbeitskräfte und Kaufkraft in den Agglomerationen – respektive westdeutschen Regionen – weiter zunimmt, oder ob ausgleichende Kräfte die Oberhand gewinnen. Der nach wie vor negative Binnenwanderungssaldo in Sachsen-Anhalt und Thüringen spricht eher für die erste Vermutung.”

Man sieht: Wer die falschen Fragen stellt, bleibt blind. Von welchen “ausgleichenden Kräften” reden diese Leute? Vielleicht von einer “Ich zieh aufs Land”-Prämie für Unternehmer und Fachkräfte?

Das ist nicht nur ein Witz. Das ist unbezahlbar.

Die simple Erkenntnis lautet: Menschen und Unternehmen ticken fast ähnlich, wenn sie “Standortentscheidungen” treffen. Und es geht schon lange nicht mehr West gegen Ost. Auch die Sachsen-Anhalter und Thüringer ziehen nicht mehr in die viel beschworenen Agglomerationen im Westen. Warum sollten sie, wenn es die Jobs wieder im eigenen Land gibt?

Das Land heißt aber nicht Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Sondern: Metropolregion Mitteldeutschland. (Kann ja ruhig jemand einen schöneren Namen für ausdenken. Der Fakt bleibt.) Und am stärksten profitieren davon – das stellen die IAB-Forscher richtig fest – die Agglomerationen. Die hiesigen, die da heißen: Leipzig, Dresden und – gerade auf dem Sprung – auch Chemnitz.

Auch Dienstleistung ist Produktion

Der Versuch, die Entwicklung mit Exportquoten berechnen zu wollen, verkleistert die Entwicklung tatsächlich, entwertet auch das, was man so landläufig Dienstleistung nennt.

Aber natürlich sind es eher größere Betriebe, die auch Export bewerkstelligen: “Ein hoher Anteil an Großbetrieben dürfte sich auch positiv auf die Exportleistungen der Wirtschaft in den neuen Bundesländern auswirken. In Verbindung damit wären auch Produktivitätszuwächse und ein stärkerer Beschäftigungsaufbau zu erwarten. Die Orientierung der  ostdeutschen Wirtschaft hin zu ausländischen Märkten hat sich in den zurückliegenden Jahren zwar erhöht. Die Exportquote ist allerdings immer noch deutlich geringer als in Westdeutschland.”

Ist sie nicht wirklich. Denn selbst im Westen differiert die Quote zwischen den Bundesländern deutlich. Und so bekömmlich ist die hohe deutsche Exportquote etwa für das wirtschaftliche Gleichgewicht in der EU gar nicht. Es kommt immer darauf an, was man exportiert, welche Margen man damit erzielt und ob das tatsächlich zusätzliche Mittel bringt, um wieder in Innovation und Kapazitätserweiterung zu investieren. Der Vorlauf der süddeutschen Industrie gegenüber Ostdeutschland beträgt eben nicht nur 40 Jahre, sondern 140 Jahre. Die Jahre 1945 und 1989 bedeuteten dort keinen Bruch für die über Jahrzehnte gewachsenen Großkonzerne. Dagegen ist alles im Osten junges Gemüse.

Und da die Experten seit über 20 Jahren dieses Lied singen, kann man’s einfach nicht mehr hören. Selbst die Wirtschaftsförderung im Osten kann nur ganz wenige Unternehmen wirklich mit dem nötigen Kapital ausstatten, um in die 2. oder gar die 1. Liga aufzusteigen in überschaubaren Zeiträumen. Andererseits wurden auch schon Milliardenförderungen in den Sand gesetzt, weil es die geförderten Unternehmen nicht geschafft haben.

Wer sein Land liebt, stärkt die Agglomerationen

Tatsächlich können Landesregierungen viel mehr tun, wenn sie ihre Agglomerationen stärken und fit machen.

Mit ordentlichen Straßen-, Schienen-, Luftanschlüssen. Und – und hier klappern sie derzeit alle mit den Zähnen – mit leistungsstarken Breitbandanschlüssen. Das alles lohnt und rechnet sich nur in Agglomerationen. Die muss man definieren. Oder sie wachsen von allein, wenn die Zeit reif ist. Leipzig mag keine Metropole sein – ein Agglomerationskern für Mitteldeutschland ist es allemal und trotzdem. Trotz aller Versuche der behäbigen Landesregierung, die Stadt möglichst kurz zu halten.

Nein, es stimmt eben nicht, was die IAB-Forscher wieder als These unterbreiten für die geringe Exportstärke in Mitteldeutschland: “Eine zentrale Ursache hierfür liegt ebenfalls in der im Durchschnitt kleinteiligeren Betriebsstruktur, gefolgt von vergleichsweise geringeren Investitions- und Innovationsaktivitäten . Im Jahr 2013 lag der Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz in Sachsen bei 27 Prozent, Thüringen und Sachsen-Anhalt verzeichneten eine Quote von 30 Prozent und 35,4 Prozent.”

Dahinter steckt auch der falsche Glaube, in einem hohen Anteil an Dienstleistung stecke keine Innovation und keine Investitionskraft. Die produzieren doch nichts, oder?

So ein Quatsch. Die wichtigsten Produktionen einer Dienstleistungsgesellschaft sind Dienstleistungen – die reichen vom Flurputzen übers Hinternputzen, Produktentwerfen, Konstruieren und Forschen bis hin zur wachsenden IT-Dienstleistung, Bildung(sdienstleistung), Familiendienstleistung, Gastronomie, Handel, Medizin, Gesundheitspflege und immer so fort. Die ganze Gesellschaft diversifiziert sich auf völlig neue Weise. Und das braucht eben auch neue Fachkräfte mit neuen Qualifikationen. “Helfer”, wie sie in der IAB-Statistik auftauchen, brauchen bestenfalls noch Firmen in Transport und Logistik.

Moderne Dienstleistung braucht moderne Bildung

Das war’s aber auch. Wer heute einen qualifizierten Schulabschluss vermasselt, der schneidet sich selbst ins Bein. Der wird zu einer “Arbeitskraft”, die niemand braucht.

Haben wir das schon erwähnt? – Agglomerationen zeichnen sich vor allem auch durch Agglomeration von Wissen aus.

Aber so lange die Botschaft nicht mal die Arbeitsagenturen erreicht, wird die Verwaltung der Arbeitslosen weiter so unpassend bleiben, wie sie derzeit ist.

“Ein Hemmnis für die Passgenauigkeit von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt liegt in der räumlichen Struktur begründet”, stellen die IAB-Autoren zumindest fest. “Im ländlichen Raum ist die Mobilität von Arbeitskräften eingeschränkter als in Agglomerationsräumen. Mobilität gilt jedoch als ein wichtiger Ausgleichsmechanismus zur Überwindung von regionalen Disparitäten am Arbeitsmarkt.”

Und dann werden auch noch Bus- und Bahnlinien eingestellt? – Dümmer geht’s nimmer.

Die Folge: Die jungen Leute gleichen diese Disparitäten schlichtweg damit aus, dass sie nach der Schule ihren Kram packen und in die Zentren der funktionierenden Agglomerationen ziehen. Am liebsten nach Leipzig. Das hat sich herumgesprochen. Lange Nase ziehen dabei nur all diejenigen, die schlicht keinen qualifizierten Abschluss haben oder mittlerweile so lange aus dem Markt sind, dass es einfach keine Integrationsinstrumente mehr für sie gibt.

Sachsen-Anhalt ist keine Insel (aber wem sagen wir das?)

Hat nun Sachsen-Anhalt besonders Pech, wenn die Forscher schreiben: “Sachsen-Anhalt hat im Vergleich der drei Bundesländer den höchsten Anteil ländlicher Kreise, obgleich in Thüringen der Anteil der Bevölkerung in den ländlichen Kreisen etwas höher ist als in Sachsen-Anhalt. Thüringen scheint allerdings sehr viel stärker von der räumlichen Nähe zu Westdeutschland zu profitieren, was sich in höheren Pendlerzahlen niederschlägt. Das Pendeln nach Westdeutschland entlastet damit den thüringischen Arbeitsmarkt sehr viel stärker.”

Damit verwischen die IAB-Forscher die Spur, die sie gefunden haben, gleich wieder. Irgendwie träumen sie immer noch den alten Traum, man könne Wirtschaft einfach schön flächendeckend in der Landschaft verteilen, das würde schon funktionieren. Aber so denkt kein innovativer Unternehmer, der seine Grundstrukturen und Ansiedlungskosten kalkulieren muss. Und die schlichte Wahrheit lautet leider: Für innovative Unternehmen ist eine Ansiedlung außerhalb der infrastrukturell gut vernetzten Agglomerationen unbezahlbar. Die zusätzlichen Kosten würden sie schlichtweg ruinieren.

Deswegen siedeln sie sich alle in den Metropolen an. Oder in ihrer Nähe. Doch was aus der Perspektive von Lausitz und Börde wie eine Katastrophe aussieht, ist tatsächlich die einzige Chance der Gesamt-Region, wirtschaftlich den Anschluss zu behalten. Denn dieser Zug in die Metropolen findet im Westen genauso statt. Aus denselben Gründen. Sachsen-Anhalt hängt nur scheinbar hinterher, weil weder Arbeitsmarktverwalter noch Landespolitiker in der Lage sind, die Region als das zu denken, was sie eigentlich ist: Ein einheitlicher Wirtschaftsraum mit ein paar wenigen, aber zukunftsfähigen Wachstumskernen.

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