Nicht nur in Leipzig läuft etwas falsch beim Umgang mit Menschen, die die hohen Hürden in den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Auch in anderen deutschen Großstädten sorgt gerade das Leib- und Magenthema der konservativen Parteien, das - falsche - Bild von Familie, dafür, dass soziale Bedürftigkeit für viele Kinder zum früh erlebten Lebensthema wird. Seit 2011 steigen die Zahlen der Kinder in "Hartz IV" wieder an.

Und das, obwohl die gesamte Bundesrepublik seit 2011 in einer guten konjunkturellen Entwicklung ist: Die Arbeitslosenzahlen sinken, die Erwerbstätigkeit nimmt zu. Nur geraten augenscheinlich wieder mehr Familien mit Kindern in die Bedürftigkeitsfalle. Bis 2009 nahmen die Zahlen ab.

Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat die Zahlen für Dezember 2014 ausgewertet.

“Im Dezember 2014 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 1,634 Millionen Kinder im Alter von unter 15 Jahren in 979.000 sog. SGB II-Bedarfsgemeinschaften. Dies waren 16.000 Kinder mehr als im Dezember 2013, 31.000 mehr als im Dezember 2012 (niedrigster  bisheriger Jahresendbestand) und 119.000 weniger als im Dezember 2009.”

Die durchschnittliche Hilfsquote für Kinder von unter 15 Jahren, deren Mütter und/oder Väter auf Arbeitslosengeld II  (Hartz  IV)  angewiesen  waren, lag in der Bundesrepublik bei 15,4 Prozent, in Stadtstaaten wie Berlin freilich auch bei 33 Prozent oder 31,6 Prozent wie in Bremen. Im Westen lag die Quote mit 13,7 Prozent praktisch genauso hoch wie 2009 – obwohl die Zahl der Kinder unter 15 Jahren dort abgenommen hat von 9,177 auf 8,672 Millionen Euro. Was würde in Deutschland eigentlich passieren, wenn die Geburtenraten auf einem normal hohen Stand wären und die Kinderzahlen höher? Würde das ganze auf Sparen und Mobilisieren fixierte System nicht einfach zusammenbrechen? Denn auf Kinder ist es augenscheinlich nicht eingerichtet.

Im Osten war die Hilfsqote 2014 übrigens bei 23,1 Prozent, etwas niedriger als 2009 mit 26,8 Prozent. Aber anders als im Westen steckt hier eine steigende Kinderzahl dahinter – von 1,846 Millionen stieg die Zahl der unter 15-Jährigen auf 1,935 Millionen. Es könnte eine zutreffende Vermutung sein, dass die deutlich höhere Ausstattung mit Plätzen in Kindertagesstätten hier dazu führt, dass Kinderkriegen nicht mehr so schnell zur sozialen Bedürftigkeit führt. Denn die jungen, meist gut ausgebildeten Eltern werden in den ostdeutschen Unternehmen mittlerweile händeringend gesucht.

Noch ist die Hilfsquote trotzdem höher als im Westen. Was aber – auch das an dieser Stelle erst einmal nur eine Vermutung – auch mit dem oft deutlich niedrigeren Einkommensniveau zu tun hat: Viele Eltern sind auch dann auf die Unterstützung des Jobcenters angewiesen, wenn sie Arbeit haben.

Und Arbeit gibt es. Zumindest für alle, die jung, flexibel, mobil und in der Regel auch gut ausgebildet sind. Wenn auch oft keine sonderlich gut bezahlte Arbeit. Es dominiert eindeutig die Dienstleistungsbranche.

Im Ergebnis ist in Sachsen die Zahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften deutlich abgeschmolzen – von 108.257 im Jahr 2009 auf 91.767 im Dezember 2014. Und dieses Abschmelzen ist die ganzen fünf Jahre kontinuierlich erfolgt – im deutlichen Unterschied zu praktisch allen Bundesländern im Westen. Selbst in den ach so ruhmreichen Ländern Bayern, Baden-Wüttemberg und Hessen steigen die absoluten Zahlen genauso wie die Prozentwerte seit 2012 an. Was den dortigen Politikern sehr zu denken geben sollte: Passt sich der Westen nun dem Osten so an, dass er seine eigenen Basisbedingungen für Familien verschlechtert? Oder werden Arbeitsuchende ohne Kinder so massiv bevorteilt, dass Kinder bald zum K.O.-Kriterium bei der Bewerbung werden?

Ein heikles Thema, das aber eben auch leider die Bundespolitik bestimmt – man denke nur an die unleidigen Querschüsse des bayerischen Ministerpräsidenten gegen den Kita-Ausbau.

Ein anderer möglicher Grund könnte aber auch sein, dass die Jobcenter-Politik, die seit den überschwänglichen Zeiten einer Arbeitsministerin Ursula von der Leyen völlig hingetrimmt wurde auf bürokratische Effizienz, gerade jene Bedürftigen benachteiligt, die eben nicht springen können, wenn der Sachbearbeiter “Spring!” ruft. Denn selbst in Leipzig ist der Effekt seit 2013 sichtbar, dass die Zahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften steigt, obwohl die Zahl dieser Gemeinschaften sinkt. Familien mit Kindern und Alleinerziehende bleiben augenscheinlich beim Hopp-und-Topp-Integrieren in den 1. Arbeitsmarkt auf der Strecke.

Bis 2012 konnte Leipzig die Zahl der Kinder unter 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaften auf 17.320 senken, was einer Hilfsquote von 27,1 Prozent entsprach. Doch 2013 stieg die Zahl wieder auf 17.483 und 2014 auf 17.540. Das fiel nicht so sehr auf, weil ja auch bekanntlich die Gesamtkinderzahl in Leipzig deutlich anstieg. Deswegen sank die Quote rein optisch auf 26,3 Prozent (für 2013 und für 2014). Damit reiht sich Leipzig bei der Hilfsquote in deutschen Großstädten hinter Berlin, Essen und Dortmund (die mittlerweile alle über 30 Prozent liegen), Bremen und Duisburg auf Rang 6 ein.

Dresden liegt mit einer Hilfsquote von 17,1 Prozent eher auf Westniveau – vor Hamburg mit 20,9 Prozent und hinter Stuttgart mit 13,7 Prozent. Die Zahlen zeigen, dass gerade die Großstädte sich schwer tun, genügend und auch ausreichend bezahlte Arbeitsplätze für junge Eltern bereitzustellen.

Leipzig ist mit 26,2 Prozent dabei in Sachsen zumindest prozentual das Schlusslicht. Erst mit einigem Abstand kommen der Landkreis Görlitz mit 23 Prozent und Chemnitz mit 22,9 Prozent.

Was für Leipzig ja bekanntlich trotzdem eine positive Entwicklung bedeutet. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die Stadt den gesamtdeutschen Titel “Armutshauptstadt” abgeben konnte. Und mit der Hilfsquote für Hartz-IV-Kinder lag Leipzig lange im Spitzenfeld. Da findet man die Stadt schon eine Weile nicht mehr.

Den Titel Kinderarmutshauptstadt können sich jetzt vor allem westdeutsche Städte streitig machen, angefangen mit Bremerhaven (39,6 Prozent Hilfsquote), Gelsenkirchen (37,7 Prozent) und Offenbach am Main im ach so reichen Hessen mit 35,7 Prozent. Erst auf Rang vier kommt die erste ostdeutsche Stadt: Halle an der Saale mit 34,5 Prozent Hilfsquote, vor Berlin (33 Prozent) und Frankfurt/Oder (32,8 Prozent).

Und selbst unter ostdeutschen Großstädten hat Leipzig seine Position verbessert, rangiert bei der Hilfsquote für die unter 15-Jährigen auch hinter Schwerin (30,1 Prozent), Magdeburg (29,4 Prozent) und Rostock (29,1 Prozent). Und knapp vor Erfurt mit 24,8 Prozent. Wobei der Blick nach Halle schon bedrückend ist, denn dort steigen seit 2009 nicht nur die absoluten Zahlen, sondern auch die Prozente. Die Saalestadt profitiert eindeutig noch nicht wirklich vom Wirtschaftsaufschwung im benachbarten Leipzig, das von 402 Kreisen in Deutschland mittlerweile nur noch auf Rang 40 bei der Hilfsquote für die unter 15-Jährigen liegt. Aber wie gesagt: mit einem wichtigen Fragezeichen versehen.

Denn wenn die Arbeitsmarktentwicklung jetzt immer stärker von den Familien mit Kindern abgekoppelt ist und die Zahlen stagnieren, werden die sozialen Verwerfungen der Zukunft schon wieder manifest. Und die Zahlen aus westdeutschen Kommunen deuten darauf hin, dass hier ein gewaltiger Fehler im System stecken muss.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar