Es ist ein Monstrum: fast 350 Seiten, vollgestopft mit Tabellen und Grafiken. Der Leipziger "Ortsteilkatalog" erscheint alle zwei Jahre. 2012 gab's den letzten. Den nรคchsten hรคtte es eigentlich 2014 geben mรผssen. 2014 steht auch drauf. "Aber da kam uns wieder mal eine Wahl dazwischen", erklรคrte Dr. Ruth Schmidt, die Leiterin des Amtes fรผr Statistik und Wahlen, am Donnerstag, 16. April. Und packte das Mordstrumm auf den Tisch.

Der Ortsteilkatalog ist zwar auf den ersten Blick etwas fรผr Historiker und Forscher. Aber auch die Leipziger selbst finden sich darin wieder โ€“ und zwar in ihrer ganzen Vielfalt. Denn jeder der 63 Leipziger Ortsteile wird extra portrรคtiert. Und jeder sieht anders aus. Da staunt auch Ruth Schmidt. Und das macht auch die Karte deutlich, die die Statistiker diesmal aufs Titelbild gepackt haben: lauter grรผne, gelbe, rote Punkte, fein aufgerastert รผbers ganze Stadtgebiet. Rot steht fรผr Schrumpfung โ€“ also Bevรถlkerungsverlust, grรผn fรผr Wachstum. Und der erste Blick schon ist recht eindeutig: Die innerstรคdtischen Quartiere sind grรผn dominiert (auch wenn es zwischendurch auch gelbe Flecken gibt). Das heiรŸt: Sie hatten 2013 allesamt Einwohnerzuwachs. 2013 deshalb, weil viele Daten fรผr 2014 noch fehlen. Manche Behรถrde braucht ein halbes oder ganzes Jahr, um die Daten zu liefern.

Rote Flecken im Stadtbild findet man fast nur noch an den Stadtrรคndern, inbesondere in den groรŸen Plattenbausiedlungen. Doch vor zwei, drei Jahren wรคre hier noch alles rot gewesen. Der genaue Blick zeigt: Auch in Grรผnau, Paunsdorf, Mockau macht sich der Bevรถlkerungszuwachs mittlerweile in grรผner Farbe bemerkbar. 43 der Leipziger Ortsteile haben 2013 ein Wachstum hingelegt.

Was dann die 63 einzelnen Portrรคts der Ortsteile zeigen, ist im Grunde die Ungleichzeitigkeit dieser Entwicklung, die ja in Leipzig um 2000/2001 nicht flรคchendeckend einsetzte. Wer damals so eine Karte gezeichnet hรคtte, hรคtte nur wenige grรผne Inseln eingemalt โ€“ im WaldstraรŸenviertel, in der Sรผdvorstadt, in SchleuรŸig. Das wรคre es damals auch schon gewesen.

Der โ€œOrtsteilkatalogโ€ ist eine Augenweide fรผr Jeden, der Leipzigs Stadtentwicklung gern plastisch vor sich sieht. Zu jedem Ortsteil gibt es einen Lebensbaum, der die Altersjahrgรคnge hรผbsch รผbereinander geschichtet zeigt. Und direkt darunter ist eine Grafik, die die Einwohnerentwicklung von 1990 bis 2013 zeigt. รœberall ist der absolute Tiefpunkt in der Einwohnerentwicklung im Jahr 1997 zu sehen. Das war das Jahr, an dem selbst im Rathaus die Panik glรผhte und man alles dafรผr tat, die in den Jahren zuvor geflรผchtete Stadtbevรถlkerung durch Eingemeindungen wieder zurรผckzuholen. Dass 1997 der absolute Tiefpunkt war, hat aber nicht nur mit der Flucht aufs Land (Suburbaniserung) zu tun, sondern auch mit der seinerzeit als beklemmend empfundenen Tatsache, dass die Sanierung der Grรผnderzeitbestรคnde erst 1995/1996 in Gang kam. 1997 und 1998, als es dafรผr auch endlich ordentlich Steuerabschreibungen gab, gab es ja dann bekanntlich ein Feuerwerk. Manche StraรŸen wurden gleich in einem Aufwasch saniert โ€“ und der Sรผden der Stadt blรผhte geradezu auf, wurde zum ersten echten Boom-Viertel.

Es war eindeutig nicht nur die Westflucht und der massive Verlust von Arbeitsplรคtzen, der Leipzig in den 1990er Jahren รผber 100.000 Einwohner kostete. Mindestens die Hรคlfte war schlicht in die aus dem Boden gestampften Wohnparks im Umland oder im schรถnen Muldental gezogen. Und der Bevรถlkerungsanstieg, der sich in der Sรผdvorstadt schon ab 1998 bemerkbar machte, hatte eindeutig mit der endlich sanierten Bausubstanz zu tun, die auch ein Wiedergewinn von Wohnqualitรคt bedeutete, der bis heute zur Attraktion Leipzigs als Wohnort beitrรคgt. Die Sรผdvorstadt erreichte รผbrigens 2007 schon wieder die Einwohnerzahl von 1990 und zรคhlt mittlerweile neben SchleuรŸig zu den Leipziger Ortsteilen, die einfach voll sind. Hier ist praktisch alles vermietet, auch wenn die Wohngemeinschaften von Studierenden hier nach wie vor Fluktuation erzeugen. Noch sind bis zu 11 Prozent der 24.007 Einwohner der Sรผdvorstadt Studierende.

Aber das wird weniger mit der Zeit, denn auch junge Menschen, die in Leipzig beruflich und familiรคr Tritt fassen, neigen irgendwann dazu, standorttreu zu werden. Das trifft auch auf die Sรผdvorstadt zu, wo 69 Prozent der Bewohner durch eigene Erwerbseinkommen leben โ€“ der Stadtdurchschnitt liegt bei 58 Prozent.

Es sind solche Daten, die sichtbar machen, wer eigentlich in den Ortsteilen wohnt. Und wie jung diese Ortsteile sind. Die Sรผdvorstadt ist nach wie vor 6,7 Jahre jรผnger als der Stadtdurchschnitt, der 2013 mit 43,4 Jahren auch deutlich jรผnger war als der sรคchsische Bevรถlkerungsdurchschnitt. Die GroรŸstadt mit all ihren Angeboten an Lebensmodellen ist eindeutig ein Angebot an junge Leute, die gerade ihre Berufs- und Familienkarrieren beginnen. Und das ergreift einen Ortsteil nach dem anderen. Ablesbar auch an den blau und gelb gefรคrbten Lebensbรคumen. In der Sรผdvorstadt sind zum Beispiel die Jahrgรคnge der 25- bis 40-Jรคhrigen viel stรคrker ausgeprรคgt als im Stadtdurchschnitt. Das ist die Elterngeneration, die verantwortlich ist fรผr den deutlichen Anstieg der Kinderzahl seit punktgenau zehn Jahren.

Und da jeder Ortsteil so einen Lebensbaum hat, kann man รผberall sehen, wohin die Welle dann weitergeschwappt ist. Denn als die Sรผdvorstadt und SchleuรŸig um 2006 begannen, Sรคttigungserscheinungen zu zeigen, rollte die Besiedlungswelle bekanntlich weiter รผber Plagwitz nach Lindenau. Dort setzte dann der Baby-Boom vor fรผnf Jahren ein. Und seit zwei Jahren hรถrt man die Signale aus dem Leipziger Osten, allen voran Reudnitz-Thonberg, dass die jungen Leipziger Siedlungspioniere nun dort angekommen sind. Sichtbar auch an der รผberdurchschnittlich hohen Studierendenzahl. Was aber im Lebensbaum noch nicht sichtbar wird: dass dadurch auch die Kinderzahl steigt. Das steht den Quartieren zwischen Volkmarsdorf und Stรถtteritz also noch bevor.

Wer mag, kann dann immer gleich in den hinteren Teil des Buches blรคttern, dort sind die Daten zu allen Ortsteilen noch einmal gesammelt und auch mit Karten dargestellt. Und eine dieser Karten zeigt auch schรถn das Fleckenmuster der Leipziger Kindertagesstรคtten, die in einigen der gefragten jungen Quartiere eindeutig fehlten. Fehlten, muss man sagen. Denn wer die Hauruck-Aktionen der Leipziger Politik verfolgt hat, weiรŸ ja, in welchem Affenzahn auch in diesen Quartieren in den letzten zwei Jahren Kindertagesstรคtten aus dem Boden gestampft wurden.

Und der weiรŸ auch, dass 2013 eigentlich schon lange Uralt-Geschichte ist. Das Tempo der Leipziger Stadtentwicklung hat sich seit 2010 deutlich forciert. Und das verรคndert mittlerweile unรผbersehbar auch den Arbeitsmarkt โ€“ auch wenn die eigentlich fรถrderbedรผrftigen Langzeitarbeitslosen davon nichts haben. Eine Erkenntnis, die den Entscheidern einfach nicht einleuchten will. Vom deutlichen Anstieg der Beschรคftigtenzahl profitieren vor allem die jungen, gut qualifizierten Arbeitskrรคfte. Wer es vor der Deppen-Reform von โ€œHartz IVโ€ schwer hatte, guckt auch zehn Jahre spรคter noch in die Rรถhre. Da helfen alle Schรถnmalereien nichts.

Die Tabellen im Anhang machen natรผrlich auch sichtbar, in welchen Ortsteilen sich Leistungsempfรคnger ballen, die Karten daneben machen es noch deutlicher. Aber auch Vergleiche zu Kraftfahrzeugbesitz, ร„rzten, Apotheken und Kitas gibt es. Die zu den Straftaten im Stadtgebiet kann man hingegen nur mit Vorsicht genieรŸen, dazu hรคngen zu viele Zahlen direkt oder indirekt mit der sรคchsischen Sucht(bekรคmpfungs)politik zusammen, die oft genug an Ratlosigkeit nicht zu รผberbieten ist. Leipzig selbst kann da wenig bis gar nichts tun.

Die Stadt hat ihre eigenen Aufgaben. Und manche versiebt sie, auch wenn ganze Statistik-Verรถffentlichungen belegen, dass die konkrete Politik die falsche ist. Man denke nur an das Thema Verkaufseinrichtungen, in Leipzig gebรผndelt im so genannten Stadtentwicklungsplan (STEP). Zentren, von denen die Erfinder seit รผber 15 Jahren schwรถren, dass sie funktionieren und kleinteilige Einzelhandelseinrichtungen in Leipzigs Wohngebieten bewahrt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Sterben der kleinen Lรคden in StraรŸen und Wohngebieten geht munter weiter, auch weil die Einkaufsgiganten, die Supersupermรคrkte in den โ€œStadtteilzentrenโ€ die ganze Kรคuferschaft an sich ziehen.

Gab es 2009 noch 3.877 Verkaufseinrichtungen in Leipzig, waren es 2011 noch 3.723 und 2013 nun nur noch 3.636. Der Konzentrationsprozess hat vor allem die Nahrungsmittelhรคndler erwischt. Die Verkaufsflรคche ist hingegen von 803.000 auf 840.000 Quadratmeter gestiegen โ€“ da steckt der Gigant โ€œHรถfe am Brรผhlโ€ mit drin, der auf sehr elementare Weise zeigt, dass Gigantismus noch lange keine Bereicherung der Einkaufsvielfalt bedeuten muss.

Den Ortsteilkatalog 2014 bekommt man fรผr eine Gebรผhr von 25 Euro gedruckt im Amt fรผr Statistik und Wahlen.

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โ€œDen Ortsteilkatalog 2014 bekommt man fรผr eine Gebรผhr von 25 Euro gedruckt im Amt fรผr Statistik und Wahlen.โ€

Auch darin kommt das Hinterherhinken der ร„mter hinter der Zeit zum Ausdruck. Schon mal was von Open Data*) gehรถrt?

*) http://de.wikipedia.org/wiki/Open_Data

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