Leipzigs Statistiker haben sich wieder ein bisschen Arbeit gemacht und den letzten Quartalsbericht fürs Jahr 2014 vorgelegt. Mit den ganzen Zahlen im gelben Teil, die Auskunft geben zum Gesundheitszustand des Patienten Leipzig (das Fieber ist wieder ein bisschen zurückgegangen) und mehreren Beiträgen diverser "Ärzte", die sich mit den zuweilen recht ungesunden Lebensgewohnheiten der Stadt beschäftigen.

Das geht gleich vorn los, wie immer, im Schnipselteil auf den Seiten 2 und 3, auf dem man sich über emsige Zuwanderungsgewinne, 10 Jahre Hartz IV, steigende Beschäftigtenzahlen und Armutsgefährdung austauscht. Letzteres ja ein unter Statistikern heftigst diskutierter Befund: Waren nun 16,8 oder 25,1 Prozent der Leipziger im Jahr 2013 armutsgefährdet? Oder vielleicht auch 17,8 Prozent?

Das hängt von einer anderen Größe ab: dem Einkommensniveau. Nimmt man das bundesdeutsche Einkommensniveau, ist jeder vierte Leipziger armutsgefährdet. Manche haben eben ein geringes Einkommen, fühlen sich aber nicht arm (Studenten zum Beispiel), andere kommen mit 60 Prozent des mittleren örtlichen Einkommens beim besten Willen nicht zurande. Deswegen wird das Ganze gern auf diesen örtlichen Status berechnet. Und siehe da: Es passiert ein Wunder!

Auf einmal ist Leipzig mit 16,8 Prozent Armutsgefährdung geradezu eine wohlhabende Stadt – die Quoten in den reichen Städten Frankfurt (19 %) und Stuttgart (20,4 %) liegen deutlich drüber. Was die Leipziger natürlich nicht die Bohne reicher macht.

Was dann 50 Seiten weiter hinten im Städtevergleich, den Lars Kreymann vorgenommen hat, sichtbar wird: Das verfügbare Durchschnittseinkommen in Leipzig lag 2012 nur bei 16.647 Euro und war damit das niedrigste der 15 größten deutschen Städte. In Frankfurt lag es zum Vergleich bei 20.249 Euro, in Stuttgart bei 22.739. Da verschieben sich Grenzen und Schwellenwerte.

Deswegen ist es – gerade in Zeiten steigender Mieten und Verbraucherpreise (zu den Mieten kommen wir noch) – wohl angebraucht, den Kopf nicht einzuziehen, und den bundesweiten Vergleich auf sich zu nehmen: 25 Prozent der Leipziger sind danach arm oder armutsgefährdet. Punkt. Denn das hat Folgen, die auch die Leipziger Politik ungern bedenkt. Denn die Leipziger ÖPNV-Fahrpreise – um nur ein Beispiel zu nennen – liegen eben nicht bei 77 Prozent des Bundesdurchschnitts, sondern über der 100.

Mathematik macht so Manches sichtbar, was im täglichen politischen Kauderwelsch gern verschwindet.

Der erste Beitrag im Heft widmet sich dem Thema, das Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) derzeit die meiste Freude bereitet (auch wenn hier die Mathematik genauso grimmige Konsequenzen zeigt): dem Bevölkerungswachstum. Der fünfte Beitrag übrigens auch. Und der hat es in sich.

Darin nimmt Andrea Schultz die letzte Leipziger Bevölkerungsvorausschätzung von 2013 unter die Lupe. Darin hatten Leipzigs Statistiker in zwei Varianten (der Hauptvariante und der optimistischen Variante) schon mal die Zahl benannt, die Burkhard Jung seither so gern in den Mund nimmt: 600.000 Einwohner. Noch im Jahr 2000 oder 2010 nicht mal geträumt, so eine Zahl. Erst die gewaltigen Bevölkerungszuwächse seit 2008 lassen so ein Szenario überhaupt denkbar werden. Vorher wäre auch der OBM schon mit 550.000, 560.000 zufrieden gewesen.

Dass Leipzigs Statistiker 2013 überhaupt wagten, in der Hauptvariante eine 600.000 für das Jahr 2032 zu prognostizieren oder (in der optimistischen Variante sogar schon für 2024), hatte damit zu tun, dass neben der Geburtenrate eben auch der Zuzug gewachsen war. Ein Trend, den mittlerweile alle Großstädte kennen: bundesweit verlassen die jungen, ausbildungsbereiten Menschen die Dörfer und kleinen Städte und wechseln in die großen Zentren, oft in Verbindung mit einem Studium.

Das hat mit den Chancen zu tun, die eine höhere Ausbildung mit sich bringt, aber auch mit der Tatsache, dass gerade Großstädte auch Arbeitsplätze für Hochqualifizierte bieten. Was dann dazu führt, dass die jungen Leute da bleiben, Familien gründen und Kinder kriegen.

Nur war die Entwicklung 2013 und 2014 so rapide, dass Andrea Schultz nun feststellen muss, dass selbst die optimistischste Variante zu niedrig angesetzt war. (Was werden da erst die Landesstatistiker in Kamenz sagen, die für Leipzig noch viel niedrigere und sogar teilweise sinkende Werte vorausgesagt haben? Sitzen die nun da und verzweifeln über ihrem Rechenmodell, das augenscheinlich gar nicht mehr stimmt?)

Wachstum hat schöne, aber auch teure Seiten

Aus schierem Eigeninteresse sind die Leipziger ja hinterher, möglichst schnell herauszufinden, wo denn nun der Fehler in der eigenen Rechnung steckt. Denn wenn man dem OBM nun sagen muss, dass es bis 2024 nicht 600.000 werden, sondern möglicherweise 650.000, dann hat Leipzig ein Problem. Und zwar ein ausgewachsenes. Denn dann steigen auch die Geburtenzahlen weiter und es steigt massiv der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum. Dann reichen 10.000 Wohnungen als Wohnungsmarktreserve nicht mehr. Dann muss der oberste aller Bürger noch 2015 ein soziales Wohnungsbauprogramm für Leipzig verkünden – und zwar ohne zu wissen, ob die Unbelehrbaren in Dresden überhaupt mitspielen.

Und warum haben Leipzigs Statistiker 2013 doch zu niedrig gerechnet? – Hauptgrund sind die Zuwanderungen. “Wir haben damals mit einem positiven Wanderungssaldo von 6.700 gerechnet”, sagt Schultz. Es wären also jährlich 6.700 Menschen mehr nach Leipzig gezogen als wieder weggingen. Die beiden Jahre 2011 und 2012 betrachtete man quasi als Spitze der Entwicklung, danach sollte es wieder weniger werden.

2010 hatte Leipzig zum Vergleich einen positiven Wanderungssaldo von 4.359, 2011 schnellte die Zahl auf 9.064 und 2012 auf 10.791. Da die Zuwanderer vor allem junge Leute aus den nahen Landkreisen und Bundesländern waren, musste dort schon aufgrund der niedrigen Geburtenraten irgendwann der Nachschub erschöpft sein, die Zahlen würden wieder sinken, Leipzigs Wachstum sich verringern.

Dachte man. Aber da hatten die Statistiker einen Effekt nicht mitberechnet: Dass nach den jungen Ausbildungsjahrgängen auch die jungen Familien beginnen würden zu wandern. Ziel: Leipzig. Und der Grund könnte genau das sein, was sich in der Erwerbsstatistik niederschlägt: Die Entstehung von tausenden neuen Arbeitsplätzen in und um Leipzig. Ein Wachstum befeuert das andere.

Und im Ergebnis sind auch 2013 und 2014 über 10.000 Menschen mehr nach Leipzig gezogen als wieder weg. 12.933 waren es 2014.

Immer mitbedacht: fast alles junge Leute, die hier ihr Berufsleben starten, Familien gründen und – jaja – Kinder kriegen.

2014 war übrigens das erste Jahr seit 1965, in dem Leipzig auch bei Geburten und Sterbefällen wieder ein Plus hatte: Auf 5.889 Sterbefälle kamen 6.241 Geburten. Was übrigens fast 400 mehr waren als 2013. Was dann für Sozialbürgermeister Thomas Fabian wieder heißt: Er braucht noch mindestens zwei Kindertagesstätten zusätzlich. Und in sechs Jahren eine zusätzliche Grundschule. Usw. Das alles kostet viel Geld.

Und noch eine Zahl hat sich anders entwickelt als 2013 erwartet. “Wir haben damals mit einer Fertilitätsrate von 1,44 gerechnet”, sagt Andrea Schultz. “Es sind aber 1,47 geworden.”

Die Fertilitätsrate bezeichnet einfach die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau im geburtsfähigen Alter. Statistisch macht es schon einen Unterschied, ob jede Frau nun 1,44 oder 1,47 Kinder bekommt. Schon vor zwei Jahren war so ein Trend zu ahnen, dass Frauen wieder mehr Kinder haben wollten. Das macht sich 2014 erstmals in der Statistik richtig bemerkbar. Das erste Kind bekommen die Leipzigerinnen weiterhin im Durchschnitt mit 31 Jahren (was bannig spät ist und sich mit dem immer späteren Einstieg ins Berufsleben in den letzten Jahren immer weiter nach hinten verschoben hat), aber zum ersten Mal wurde 2014 wieder eine zweite Spitze sichtbar, wie sie zuletzt für die DDR typisch war: Immer mehr Leipzigerinnen erfüllen sich so mit 36 Jahren den Wunsch nach einem zweiten Kind.

Mit diesen Frauen hat es übrigens Sozialbürgermeister Thomas Fabian zu tun, wenn er nicht genügend Kita-Plätze bereitstellt: Frauen, die mitten im Berufsleben stehen und auch schnell wieder in ihren Job zurückwollen. Und die sich ganz bestimmt nicht mehr wie junge Hühnchen behandeln lassen. Und auch klagen, wenn es sein muss.

Für 2014 hatten Leipzigs Statistiker mit ihren alten Annahmen für Leipzig eine Bevölkerungszahl von 543.700 vorausgesagt. Das wird dann wohl auch die Zahl sein, die die Landesstatistiker irgendwann als amtliche Einwohnerzahl melden werden. Sie liegt aber schon um 8.000 unter der Zahl, die im Leipziger Einwohnermelderegister für 2014 steht: 551.871. Übrigens die Zahl, mit der Leipzigs Statistiker seit dem Debakel des “Zensus 2011” konsequent rechnen. Dass es ein Debakel war, würden sie zwar nie sagen – die Stadt Leipzig hat ja nicht gegen den Zensus geklagt. Dafür scheitern andere Städte mit ihrer Klage reihenweise.

Nur prüfen kann man das Ergebnis nicht. “Wir dürfen das Ergebnis nicht mit dem Melderegister abstimmen”, sagt Statistiker Peter Dütthorn. “Und damit haben wir auch keine Chance herauszubekommen, wo der Fehler liegt.”

So ist das mit den Zahlen in Deutschland. Dass die Prognosen dann alle nicht stimmen, ist dann fast schon konsequent. Eine neue Prognose der Einwohnerentwicklung hat das Amt für Statistik und Wahlen noch nicht wieder aufgelegt. Erst einmal gab es nur diese kleine aber sehr erhellende Fehlerdiskussion. Die natürlich wieder neue Perspektiven aufmacht und den Zeitpunkt, dass sich 600.000 Leipziger in den Büchern wiederfinden, immer näher rücken lässt.

Den Statistischen Quartalsbericht bekommt man für 7 Euro in gedruckter Form beim Amt für Statistik und Wahlen.

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