Während das ifo Institut in Dresden in Sachen Mindestlohn eher "Holland in Not!" rief, hat das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) sich lieber mal ein bisschen mit den Zahlen und Ursachen beschäftigt. Denn der Niedriglohn ist ja nicht vom Himmel gefallen. Und er kennzeichnet vor allem nicht die gesamte Wirtschaft, sondern ganz spezifische Branchen, die schon seit Jahren für ihr extrem niedrigen Lohnniveau bekannt sind. "Arbeitsintensive Branchen" sagt das IWH auch noch dazu. Man darf verblüfft sein.

Oder auch nicht. Denn wer Arbeit suchte in Ostdeutschland, der hat schon welche gefunden, wenn er nur wollte, auch richtig schweißtreibende. Für niedrige Bezahlung. Das ist eine der Schizophrenien des modernen Arbeitsmarktes, von dem etliche selbsternannte Experten immer wieder gern behaupten, Arbeit würde mit zunehmender Computerisierung verschwinden. Wir würden zunehmend zu einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgehe.

Das stimmt nur bedingt.

Tatsächlich sind wir eine Gesellschaft, in der wichtige Marktregeln außerkraft gesetzt sind und ein Großteil der dringend benötigten gesellschaftlichen Arbeit nicht mehr angemessen bezahlt wird. Das Lohngefüge stimmt nicht mehr. Einiges wird der Mindestlohn jetzt neu austarieren – auch über zwangsläufig steigende Preise, auch dort, wo Arbeitgeber mit allerlei Tricks versuchen, das Personal weiterhin mit Niedriglöhnen abzuspeisen.

Natürlich betrifft der Mindestlohn den Osten stärker als den Westen, wie das IWH feststellt. Akribisch hat es die Bruttolöhne für 2013 einmal zusammengestellt.

Knapp ein Viertel der Arbeitnehmer in Ostdeutschland hatte im Jahr 2013 einen Bruttostundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Dies zeigen vom IWH erstmals für das Jahr 2013 durchgeführte Berechnungen auf Basis aktueller Befragungsergebnisse.

“Damit liegt der Anteil der unter diesem Stundensatz verdienenden Personen in etwa auf dem Vorjahreswert”, so das IWH. “Besonders hoch ist dabei der Anteil in den arbeitsintensiven Branchen. Im Bereich Land- und Forstwirtschaft/Fischerei betrug dieser in Deutschland etwa ein Drittel; in Ostdeutschland war sogar fast die Hälfte aller Beschäftigten betroffen. Noch höher lag der Anteil im Gastgewerbe. In den Alten Bundesländern verdienten knapp die Hälfte der Arbeitnehmer und in den Neuen Bundesländern sogar etwa zwei Drittel weniger als 8,50 Euro je Stunde. Im Handel, der einen hohen Anteil an der Gesamtbeschäftigung hat, waren 41,5 % im Osten und 18,3 % im Westen betroffen.”

Bruttostundenlöhne Ost/West 2013. Grafik: IWH Halle
Grafik: IWH Halle

Unübersehbar ist gerade der Einzelhandel in den vergangenen Jahren zu einem Experimentierfeld der Niedriglöhne geworden. Und der niedrigen Preise. Wer hier 1 und 1 zusammenzählt, bekommt eine Ahnung davon, welche Marktdominanz die großen deutschen Einzelhandelskonzerne mittlerweile haben. Ihre Supermärkte bestücken sie zwar Woche um Woche mit immer neuen Schnäppchen-Angeboten – als gäbe es irgendwo tatsächlich Warenberge, die zu Schleuderpreisen unter das Volk müssten. Aber die Zeiten, dass derart chaotisch drauflos produziert wurde, sind lange vorbei. Auch im Einzelhandel gilt längst das Just-in-Time-Prinzip: Die Waren – egal ob Frischware oder Nonfood – werden genau dann in die Märkte geliefert, wenn sie im Sortiment gebraucht werden. Leichte Schwankungen gibt es lediglich bei saisonalen Angeboten.

Doch wenn es um das Aushandeln von Lieferantenpreisen geht, sitzt das dominierende halbe Dutzend der großen Einzelhändler am langen Hebel. Sie können praktisch diktieren, zu welchen Preisen ihnen geliefert wird. Und wenn die deutschen Bauern nicht mitspielen, gibt es die Konkurrenz gleich in Osteuropa oder wahlweise auch in Afrika und Südamerika. Die Konzerne nutzen ihre Marktmacht, um die Preise zu diktieren – und damit am Ende auch die Gehälter, die in der Landwirtschaft und der Lebensmittelindustrie gezahlt werden können.

Und da sie gleichzeitig im eigenen Laden alle Instrumente der flexiblen Beschäftigung nutzen, die der Gesetzgeber in den vergangenen 20 Jahren ermöglicht hat, sind zwangsläufig auch dort die Gehälter im Niedriglohnbereich. Und weil man so ein herrlicher Dienstleister ist, erweitert man dann für den ach so kauflustigen Kunden die Öffnungszeiten in den Nacht- und Feiertagsbereich. Was nur möglich ist, weil man mit all diesen flexiblen Lohnmodellen arbeiten kann.

Es ist auch nicht verwunderlich, dass gerade aus dem Bereich des Einzelhandels und des Gastgewerbes besonders starker Widerstand gegen den Mindestlohn kam. Auch im Gastgewerbe haben sich mittlerweile Arbeitszeitmodelle etabliert, die zwar den Betrieb bis weit nach Mitternacht sichern, die aber ohne eine Niedrigentlohnung fürs flexible Personal nicht funktionieren. Auch da wird sich einiges ändern müssen in den nächsten Monaten.

“Deutlich geringer war der Anteil im allerdings sehr heterogenen Bereich öffentliche und private Dienstleister”, stellt das IWH noch fest. “Hier verdienten lediglich 10,3 % der Arbeitnehmer weniger als den ab dem Jahr 2015 geltenden Mindestlohn. Der Anteil in Ostdeutschland war allerdings doppelt so hoch wie in Westdeutschland. In den von der Einführung des Mindestlohns am stärksten betroffenen Branchen war im Jahr 2013 der Median-Bruttostundenlohn der Vollzeitbeschäftigten besonders niedrig. So verdiente beispielsweise die Hälfte der ostdeutschen Beschäftigten im Bereich Land – und Forstwirtschaft/Fischerei 8,87 Euro und weniger, im Gastgewerbe waren es 8,92 Euro und im Handel 10,96 Euro.”

Das Problem der Auswertung ist die zum Teil arg irreführende Klassifizierung der statistischen Ämter. Denn in der Rubrik “Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister” stecken eben auch sämtliche Zeitarbeitsfirmen, die wesentlich dazu beitragen, dass hier 26,9 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten 2013 im Niedriglohnbereich beschäftigt waren.

Ein Handicap der Auswertung ist aber auch die Mauer in den Köpfen der Auswerter, die noch immer “Berlin-West” zum Westen der Bundesrepublik rechnen, als wäre es bis heute ein Fremdkörper im Osten – was es nicht ist.

Dass der Mindestlohn den Osten besonders betrifft, macht aber auch deutlich, wie sehr die Lohnentwicklung im Osten noch immer der im Westen hinterherhinkt.

Ob die Klassifizierung “arbeitsintensiv”, die das IWH gewählt hat, so kennzeichnend ist für die besonders von Niedriglohn geprägten Branchen, ist möglicherweise eine offene Frage. Aber auch im Bereich “öffentliche und private Dienstleister” sind es zum Beispiel die so dringend benötigten Pflegeberufe, die bislang besonders niedrig entlohnt wurden. Vielleicht hilft der Mindestlohn ja, Entlohnung in Deutschland wieder anders zu denken, nachdem das Trommelfeuer der Effizienz-Experten seit 30 Jahren dazu geführt hat, Arbeit eher als teuren Störfaktor zu betrachten.

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