Am 10. Dezember versandte die Bundesagentur für Arbeit schon einmal vorsorglich eine Mitteilung zu einem Jubiläum, das einige Leute in Deutschland mit Schampus feiern werden und wohl eine wesentlich größere Menge auf gar keinen Fall. Am 1. Januar 2005 trat die Stufe 4 der nach Peter Hartz benannten Reformen in Kraft, bis heute kurz und knapp "Hartz IV" genannt. Aus Sicht von Heinrich Alt, Mitglied im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA), ein Erfolg. Aus Sicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein gescheitertes Projekt.

“Zum Jahresbeginn 2005 wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende zusammengelegt. Die Arbeitslosigkeit sank seitdem erheblich”, resümiert nun die Bundesarbeitsagentur. “Während im Jahresdurchschnitt 2005 noch 4,9 Millionen Menschen arbeitslos waren, liegt die Zahl heute bei 2,9 Millionen. Dazu hat die Reform in großem Ausmaß beigetragen.” Was die Agentur bis heute nicht bewiesen hat. Aber auch in der Zentrale in Nürnberg geht man wohl davon aus, dass etwas, was man wie ein Mantra wiederholt, auch stimmen muss.

“Das Prinzip des Förderns und Forderns funktioniert”, befand denn am 10. Dezember auch Heinrich Alt. “Früher wurden viele Menschen in der Sozialhilfe nur verwaltet. Noch nie wurde so ernsthaft und spürbar mit den Menschen an ihren Integrationschancen gearbeitet. Dabei geht es auch um das Bewusstsein, gebraucht zu werden und etwas leisten zu können.”

Dass man damals mit völlig falschen Zahlen an den Start gegangen war, gibt die Bundesarbeitsagentur zumindest zu: “Der Start der Grundsicherung war allerdings hektisch. Es gab deutlich mehr Arbeitslosengeld-II-Empfänger als erwartet, und anfängliche Softwareprobleme verursachten hohe Zusatzaufwände. Dass es trotzdem gelungen ist, pünktlich zum Start das Geld auszuzahlen und dann auch bald die Arbeitslosigkeit in der Grundsicherung zu verringern, war für alle Beteiligten ein Kraftakt.”

Aber überdeutlich: Den Abbau der Arbeitslosigkeit schreibt sich tatsächlich die Arbeitsagentur auf die Fahnen.

Dabei bestätigt auch Alt selbst, dass man gerade daran im Prinzip keine Aktie hat. Die neu geschaffenen Jobcenter waren die ganzen zehn Jahren mit ganz anderen Dingen beschäftigt, die aber genau so von Anfang an in “Hartz IV” eingebaut waren.

Eigentlich wolle und wollte die Bundesagentur ja “die Menschen noch zielgerichteter dabei unterstützen, einen Arbeitsplatz zu finden”. Aber Mitarbeiter, die in der reinen bürokratischen Abarbeitung ersaufen, haben keine Zeit zur Vermittlung.

Heinrich Alt: “Dafür müssen die gesetzlichen Regeln einfacher und klarer werden. Die gute Idee der Grundsicherung war, anders als in der alten Sozialhilfe, eine angemessene Pauschale zu zahlen. Damit war die Erwartung verbunden, dass sich der Großteil der Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern mit der Integrationsarbeit beschäftigen können. Die heutige Realität sieht anders aus. Um die Betreuung und Vermittlung weiter zu stärken, müssen wir den Verwaltungsaufwand reduzieren. Ein erster Schritt zum Bürokratieabbau ist die Verlängerung der Bewilligungszeiträume von sechs auf zwölf Monate.”

Das wird nicht reichen. Denn das, was die Kunden der Jobcenter als ALG II gewährt wird, hat mit der von Alt erwähnten “angemessenen Pauschale” nichts zu tun. Die Jobcenter sind fast nur noch mit der bürokratischen Selbstverwaltung beschäftigt, haben aber weder finanzielle noch personelle Freiräume, um auf irgendeine Art und Weise eine wirkungsvolle Vermittlung in Beschäftigung zu betreiben.Und so sieht es auch der Paritätische Wohlfahrtsverband: Zehn Jahre nach Inkrafttreten von “Hartz IV” könne die Reform auf ganzer Linie als gescheitert betrachtet werden.

Die Vermittlung sei “gefloppt”, die Regelsätze seien nicht bedarfsgerecht und statt bürgerfreundlicher Verwaltung sei “Hartz IV” ein kompliziertes “Bürokratiemonster”.

Der Paritätische fordert die Bundesregierung zu einer Kehrtwende auf und legt einen Zehn-Punkte-Plan für durchgreifende Reformen in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Grundsicherung vor.

“Was seinerzeit großmundig als sozialpolitische Jahrhundertreform angekündigt wurde, entpuppt sich zehn Jahre später als Jahrhundert-Flopp mit verheerenden Auswirkungen auf viele Menschen in diesem Land”, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Denn die gesunkenen Arbeitslosenzahlen haben eine nicht gerade billige Kehrseite: das Entstehen eines immer weiter wachsenden Niedriglohnsektors, dem die CDU/SPD-Regierung jetzt mit dem Mindestlohn ab 1. Januar 2015 ein wenig gegensteuern will.

Dafür ist die Armut in Deutschland auf einem neuen Rekordhoch und die Gesellschaft tief gespalten, stellt der Paritätische Wohlfahrtsverband fest.

In “zehn Thesen” zieht der Verband zehn Jahre nach Inkrafttreten des SGB II (“Hartz IV”) Bilanz: “Hartz IV” sei zur “Sackgasse” für Millionen Menschen, insbesondere auch Kinder, geworden. Sinkende Arbeitslosenquoten seien mit einer “Amerikanisierung” des Arbeitsmarktes erkauft worden, die Langzeitarbeitslosigkeit habe sich auf hohem Niveau verfestigt, Hilfestrukturen seien kaputt gekürzt worden und faktisch nicht mehr existent. Der Verband kritisiert eine “Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik” und wirft der Politik vor, durch verschiedene sozialpolitische Maßnahmen in den letzten Jahren unter anderem die Probleme der Kinder- und Altersarmut noch verschärft zu haben.

Der Paritätische legt einen Zehn-Punkte-Plan vor und fordert darin durchgreifende Reformen in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Grundsicherung.

“Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich ernst zu machen mit der Vermittlung in Arbeit und durch öffentlich geförderte Beschäftigung auch jenen Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen, die bisher auf der Strecke geblieben sind”, so Schneider. Insbesondere aber müssten die Regelsätze dringend endlich auf ein bedarfsgerechtes Niveau angehoben werden. “Die Regelsätze wurden von Anfang an manipulativ klein gerechnet. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Zehn Jahre Hartz IV heißt auch zehn Jahre statistische Trickserei, um den Hilfebedürftigen bedarfsgerechte Leistungen vorzuenthalten”, so Schneider. Der Verband kündigt für das Jahresende eigene Regelsatzberechnungen an.

Die 10 Thesen des Paritätischen Wohlfahrtverbandes lassen von der Heile-Welt-Betrachtung der Bundesarbeitsagentur nicht viel übrig. Hier sind sie:

1. Hartz IV ist kein “Sprungbrett” in den Arbeitsmarkt, sondern eine Sackgasse verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit.

2. Die Regelsätze sind nicht bedarfsgerecht und fern der Realität.

3. Sinkende Arbeitslosenquoten wurden mit einer Amerikanisierung des Arbeitsmarktes erkauft.

4. Hartz IV bedeutet überbordende Bürokratie statt niedrigschwelliger Hilfen.

5. Hartz IV raubt Kindern Perspektiven.

6. Altersarmut ist vorprogrammiert.

7. Hartz IV bedeutet vor allem “Fordern” und Sanktionen statt “Fördern” und echte Hilfe.

8. Es wird eine Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik verfolgt, bei der die schnelle Vermittlung gut Vermittelbarer im Vordergrund steht, während schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose auf der Strecke bleiben.

9. Mit der zunehmenden Amerikanisierung des Arbeitsmarktes ging ein deutlicher Funktionsverlust der Arbeitslosenversicherung einher.

10. Hartz IV hat die soziale Spaltung in Deutschland vorangetrieben.

Zu den zehn Thesen hat der Paritätische auch zehn Forderungen formuliert, die auch eine längst überfällige “Totalreform” von “Hartz 4” bedeuten würden.

Beides findet man hier: www.10jahre-hartz4.de

Der Paritätische Gesamtverband: www.paritaet.org

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