Wer wundert sich noch über Pegida, wenn die Großsprecher der Nation selbst nichts anderes zu tun, als dem Unmut der Ratlosen Argumente zu liefern, wie es Hans-Werner Sinn am 29. Dezember wieder tat? Er gehört zu den Wirtschaftstheoretikern mit der größten medialen Macht in Deutschland. Die FAZ räumte ihm noch kurz vor Jahresschluss Platz für eine Breitseite schweren Kalibers ein. Titel: "Migration ist ein Verlustgeschäft".
Nur auf den ersten Blick wirkt dieser Beitrag wie der nötige journalistische Ausgleich zu den anderslautenden Meldungen, die zuvor durchaus Überraschendes zur Rolle der Migration in der Bundesrepublik verkündet hatten. Und angerührt hatte das eine Stiftung, von der man das eher nicht so erwartet hätte. Die Fragestellung zwar schon: Was bringen Zuwanderer eigentlich dem deutschen Sozialsystem? – Die Aufgabe hatte die Bertelsmann Stiftung gestellt. Und sie hatte damit nicht das von Hans-Werner Sinn geleitete ifo Institut beauftragt. Aus gutem Grund, denn mit einer Sozialstaatsanalyse, die über das enge neoliberale Betrachtungsmuster von Markt und Wirtschaft hinausgeht, ist das ifo Institut in den letzten Jahren nicht aufgefallen.
Da beauftragte auch die Bertelsmann-Stiftung lieber ein konkurrierendes Wirtschaftsinstitut – das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Vielleicht frustrierte das den ifo-Mann, der der Bertelsmann-Studie etwas unterstellt, was man so zuletzt im politischen Diskurs von CDU und FDP gegenüber der linken politischen Konkurrenz gehört hat: Er verunglimpft die Arbeit der Mannheimer Forscher einfach mal als ideologiebelastet.
Nachtigall, ick hör dir trapsen, würde der Berliner an dieser Stelle sagen.
“Angesichts dieser Verhältnisse sollte nun endlich eine ideologiefreie und nicht vom Streben nach politischer Korrektheit getriebene Debatte über die Migrationspolitik beginnen”, schreibt Sinn in der F.A.Z. Hätte man Hans-Werner Sinn nicht unbedingt zugetraut. Aber hier steht es: ein erzkonservatives Lamento über eine von “politischer Korrektheit getriebene Debatte”.
Natürlich ist die ZEW-Studie viel gründlicher als die simple Feststellung, die viele Medien aufgriffen, dass Ausländer nämlich heute schon mehr in den Staatshaushalt einzahlen, als sie daraus bekommen. Der Passus steht gleich in der Einleitung: “Im Ergebnis bleibt für die 2012 in Deutschland lebenden Ausländer das Bild auch bei dieser vorausschauenden Generationenrechnung positiv. Durchschnittlich werden sie in ihrem Leben pro Kopf 22.300 Euro mehr an den Staat überweisen, als sie an Transfers von diesem erhalten. In Summe wird der Sozialstaat demnach in einer Größenordnung von 147,9 Mrd. Euro von den hier bereits lebenden Ausländern profitieren.”
Die seltsame Rechnung, die Sinn aufmacht, dass Deutschland am Ende 32 Millionen Zuwanderer brauche, um allein das Rentenniveau zu stabilisieren, macht ZEW-Autor Holger Bonin nicht. Warum auch? Sie ist Blödsinn. Sie ist auch so eindimensional, dass man sich fragt: Was will der Mann mit so einer Rechnung eigentlich erreichen? Neue Ängste schüren? Es sieht genau danach aus.
Auf den Kern der Boninschen Analyse geht er aber nicht ein. Denn für die Bertelsmann-Studie hat Bonin recht gründlich analysiert, wie sich Einwanderung auf die Bilanz auswirkt, wenn vermehrt Einwanderer mit höherem Bildungsniveau kommen.
Und – was Sinn nur beiläufig erwähnt – er merkt an, dass die deutschen Staatsfinanzen heute schon nicht nachhaltig sind. Der Sozialstaat rutscht allein mit den schon in Deutschland Wohnenden tief in eine negative Zahlungsbilanz. Was natürlich an den halbierten Geburtenzahlen liegt und der massiv gestiegenen Lebenserwartung: Immer weniger junge Erwerbstätige müssen immer mehr Rentner mitfinanzieren. Und genau dieses Leistungsbilanzdefizit verringert sich, wenn die Zuwanderer vermehrt über mittlere und hohe Bildungsabschlüsse verfügen. Je mehr, umso besser.
Oder – um mal Bonin selbst zu zitieren: “Insgesamt verdeutlichen diese Variationsrechnungen, dass ein breites Spektrum an Qualifikationsstrukturen künftiger Zuwanderung mit einer fiskalischen Entlastung der einheimischen Bevölkerung verbunden ist. Die für eine entlastende Wirkung erforderlichen Qualifikationsmischungen liegen insbesondere bei einer an Humankapital- und Arbeitsmarktkriterien ausgerichteten Steuerung ökonomisch motivierter Zuwanderung gut im Bereich des Möglichen.”
Er verwendet bewusst das Wort Entlastung. Denn wenn diese Art Zuwanderung nicht erfolgt, steigen die Finanzierungslasten der einheimischen Erwerbstätigen in den nächsten Jahren drastisch an. Dann müssen sie die wachsende Renterzahl nämlich allein finanzieren.
Und Bonin geht auch darauf ein, dass die Entlastung des Sozialstaats schon frühzeitig einsetzt, dann nämlich, wenn die Zuwanderer auch schnellstmöglich in Arbeit kommen. Dann verändert sich nämlich sofort die Relation zwischen ausgezahlten Sozialtransfers und den Sozialabgaben, die in Deutschland nun einmal hauptsächlich auf der Erwerbstätigkeit liegen: Wer Arbeit hat, zahlt Steuern, Renten-, Krankenkassen- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Und weil in den letzten Jahren nicht nur die deutsche Bevölkerung, sondern auch vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund eine Arbeit fanden, hat das die Sozialtransfers des Staates spürbar verringert, die Höhe der Sozialabgaben aber steigen lassen.
Kann man natürlich fragen: Müssen Zuwanderer schon alle Qualifikationen mitbringen? Oder wäre ein Land wie die Bundesrepublik nicht gut beraten, die durchschnittlich jungen und sehr jungen Zuwanderer selbst zu qualifizieren und für den deutschen Arbeitsmarkt fit zu machen?
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Um eine Investition dieser Art kommt auch Deutschland nicht herum. Die teuerste Zuwanderung ist unübersehbar die, die dazu führt, dass Zuwanderer keine sozialversicherungspflichtige Arbeit aufnehmen können oder sogar dürfen.
Doch das einzige, was Sinn einfällt, ist ein Argument aus der ganz konservativen Ecke. “Deshalb forderte Sinn die deutsche Politik zu einer aktiven Bevölkerungspolitik auf, damit die Kinderzahl wieder steige”, schreibt die FAZ. “Es brauche ‘eine fundamentale und radikale Änderung der verzerrenden Anreizstrukturen im Steuer- und Rentenrecht zugunsten von Familien mit Kindern’.” Das könnte zwar Familiengründungen wieder erleichtern. Ob es die Zahl der geborenen Kinder steigert, ist eine ganz andere Frage. Bisher haben solche Rezepte so nie funktioniert. Die Sozialsysteme bleiben nur einigermaßen stabil, wenn immer wieder neue Leistungsträger ins Erwerbsleben eintreten. Das können die eigenen Kinder sein (wenn sie denn nicht am deutschen Bildungssystem scheitern), das können aber auch die Zuwanderer sein, für die natürlich der funktionierende Sozialstaat attraktiv ist.
Warum denn nicht?! Das ist doch genau das, was Europa und die Bundesrepublik heute in der Welt attraktiv macht: ein Gesellschaftsmodell, das wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Stabilität verbindet.
Aber Sinn macht es wie schon einige konservative Weltverbesserer vor ihm: Er behauptet einfach mal, es wären vor allem unqualifizierte Menschen, die da kämen. In der FAZ so zu lesen: “Der Sozialstaat wirke wie ein Magnet auf unqualifizierte Migranten, kritisierte er.”
Dass die Bundesrepublik viele Bildungsabschlüsse einfach nicht anerkennt, ist ein deutsches Problem. Und dass es nicht alles tut, um die Ankömmlinge zu integrieren, zu qualifizieren und fit zu machen für eine Erwerbstätigkeit im Land, macht es nicht besser, sondern schlimmer. Denn Fakt ist: Die meisten Zuwanderer kommen auch, um hier zu arbeiten. Eine Arbeitslosenquote von 16 Prozent unter Migranten erzählt eben nicht davon, dass sie sich in der ach so bequemen sozialen Hängematte ausruhen wollen. Die Quote erzählt bestenfalls davon, das die Vermittlungshemmnisse für sie noch deutlich höher sind als für die hier Geborenen.
Und was die FAZ völlig unterlässt, ist die Diskussion der Modelle, mit denen verschiedene Wirtschaftsinstitute in Deutschland rechnen. Wobei es nicht das ifo Institut ist, wie Sinn behauptet, das für eine breiter angelegte Betrachtung bekannt ist. Das ZEW schon eher.
Bonin hatte auch darauf hingewiesen, dass die bisherigen Migranten eigentlich eher eine komplizierte Berechnungsgrundlage abgeben, denn viele von ihnen kamen in den 1960er und 1970er Jahren als angeworbene Arbeitskräfte aus der Türkei, Italien, Portugal, Jugoslawien nach Deutschland. Erst die Kinder-und Enkelgeneration verfügt über ein wesentlich höheres Bildungsniveau. Und die aktuellen Zuwanderer nach Deutschland sind nicht – wie Sinn andeutet – schlechter qualifiziert.
Sinn bedient genau die Vorurteile, die die Bertelsmann-Studie widerlegt. Es ist die Bertelsmann-Stiftung selbst, die schreibt: “Zwei Drittel der Deutschen sind jedoch laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2012 überzeugt, dass Zuwanderung die Sozialsysteme belaste. Die vorliegende Studie widerlegt diese Auffassung. Bereits 2004 war den Sozialkassen ein Überschuss von 2.000 Euro pro Ausländer geblieben. Den Anstieg seitdem erklärt die Studie vor allem mit der günstigen Entwicklung am Arbeitsmarkt.”
Und man ahnt auch, warum die wirtschaftsnahe Stiftung so deutlich Position bezieht. Denn ähnliche Töne hört man mittlerweile auch aus den Wirtschaftsverbänden und Wirtschaftskammern, wo man sehr genau weiß, dass man in den nächsten Jahren ein hohes Niveau an qualifizierter Zuwanderung braucht. Und wenn man sie nicht bekommt, dann muss man sie schaffen. Zum Beispiel durch ein echtes, qualifiziertes Integrationsprogramm. Oder um noch einmal die Bertelsmann-Stiftung zu zitieren: “Dies erscheint zum einen nicht unrealistisch, weil das Qualifikationsniveau der Zuwanderer in den vergangenen Jahren bereits merklich gestiegen ist. Der Mikrozensus zählte im Jahr 2009 drei Viertel aller ausländischen Neubürger zu den Hoch- und Mittelqualifizierten.” Von wegen, die “Medien” hätten die “Bertelsmann-Studie falsch gelesen”, wie Sinn behauptet.
“Gute Bildungspolitik ist die beste Integrationspolitik”, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Selbst erhebliche zusätzliche Bildungsinvestitionen würden sich finanziell für den Staat lohnen. Womit er die doppelte Forderung in der Studie betont: Nicht nur qualifizierte Zuwanderer braucht Deutschland, sondern auch der eigene Nachwuchs braucht ein gut finanziertes Bildungssystem, das keine Verlierer produziert.
Hans-Werner Sinn poltert gegen die Bertelsmann-Studie:
www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/ifo-chef-sinn-migration-ist-verlustgeschaeft-fuer-deutschland-13344263.html
Direkt zur Bertelsmann-Studie:
www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/28_Einwanderung_und_Vielfalt/Bonin_Beitrag_Zuwanderung_zum_dt_Staatshaushalt_141204_nm.pdf
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