Zwischen der "Süddeutschen" und dem "Spiegel", zwischen Hans-Werner Sinn hier und Wolfgang Münchau da, ging es ja in den letzten Tagen heftig hin und her: Beide streiten sich darüber, ob die gegenwärtige Wirtschaftswissenschaft überhaupt noch in der Lage wäre, Krisen vorauszusagen und ihre Ursachen zu benennen. Beide klammerten ein Diskussionsthema völlig aus: wie einseitig Wirtschaftswissenschaften heutzutage vermittelt werden. Exemplarisch machen das immer wieder auch Veröffentlichungen der INSM sichtbar.
Am 6. November polterte sie wieder mit so einer Meldung in die Welt: “Bundesregierung versucht Mindestlohnfolgen zu bekämpfen. Geringqualifizierte trifft es am schlimmsten”. Die nicht nur “wirtschaftsnahe” Initiative hatte sich auch wieder eine Studie bestellt. Studie – das klingt seriös, erst recht, wenn der beauftragte Studienersteller Professor an einem der deutschen Wirtschaftslehrstühle ist. In diesem Fall ist es Prof. Dr. Ronnie Schöb, der an der Freien Universität Berlin lehrt. Er bewirbt seinen eigenen Ruhm, indem er auf der Website seines Lehrstuhls darauf hinweist, dass ihn die FAZ zu einem der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands gekürt hat: “Professor Dr. Ronnie Schöb gehört zu den 100 einflussreichsten Ökonomen in Deutschland”.
Und einflussreich heißt eben: Er taucht in Zeitungs- und Radiointerviews auf, wird als Koryphäe befragt und gilt als Meinungsmacher. Meist ohne dass hinterfragt wird, welche Position er eigentlich in der politischen Landschaft der Wirtschaftswissenschaften einnimmt: eine markt-radikale? Eine eher liberale? Oder doch eine ordo-liberale?
Denn die Prämissen entscheiden darüber, wie Wertungen innerhalb der heutigen Wirtschaftswissenschaften entstehen, nicht die Fakten. Gerade die Wirtschaftswissenschaften der Gegenwart zeichnen sich durch eine mangelnde Lust aus, die aufgestellten Thesen auch mit Fakten zu untermauern. Das ist auch bei Schöb der Fall, wenn er die Grundprämisse seiner für die INSM erstellten Studie umschreibt: “In der Mindestlohndebatte wurde immer wieder argumentiert, der Anstieg des Niedriglohnsektors – im nächsten Abschnitt dokumentiert – zeige, dass immer weniger Menschen in Deutschland von ihrer Arbeit leben könnten und die Ungleichheit größer werde. Dass diese Interpretation jedoch nur eine sehr eingeschränkte Sichtweise widerspiegelt, wird deutlich, wenn man die Langzeitarbeitslosen in die Betrachtung miteinbezieht. Bei der ausschließlichen Fokussierung auf gering entlohnte Beschäftigung wird leicht übersehen, dass der Anstieg des Niedriglohnbereichs auch eine notwendige Folge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes war, die für den starken Rückgang der Arbeitslosigkeit maßgeblich verantwortlich zeichnete, wie im dritten Abschnitt gezeigt wird.”
Nur einfach noch einmal betont: Es ist eine These, die der Professor hier als gesetzt nimmt: “dass der Anstieg des Niedriglohnbereichs auch eine notwendige Folge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes war”. Eine Verdrehung der Fakten ist es obendrein, denn die “Flexibilisierung des Arbeitsmarktes” erfolgte fast ausschließlich durch Schaffung immer neuer Niedriglohnmodelle.
Der Professor hat also eindeutig Position bezogen – untermauert diese Position in seiner “Studie” aber nicht. Behauptet aber gleich im nächsten Satz: “Der sich ausweitende Niedriglohnsektor bot im letzten Jahrzehnt vielen Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen die Chance für den Einstieg/Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt.”
Was zu beweisen wäre. Aber wie?
Denn bislang ist es nur die marketing-technische Verdrehung der Tatsache, dass viele vormals vollbezahlte und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in den letzten Jahren in solche “flexiblen” Jobs aufgesplittet wurden. Der Niedriglohnsektor entstand zu großen Teilen nicht als neues Arbeitsmarktsegment, sondern als Erosion klassischer Beschäftigungsverhältnisse.
Aber auch das diskutiert der eifrige Professor nicht. Obwohl er sogar hübsch mit Tabelle zeigt, welche Rolle die Einführung des ALG bei der Entwicklung des Niedriglohnsektors spielte. Aus INSM-Sicht natürlich eine positive: Man hat den Betroffenen ein neues “Angebot” geschaffen. Tatsächlich hat das Drohpotenzial von ALG II samt Sanktionen erst dafür gesorgt, dass Menschen bereit waren, für eine nicht-existenzsichernde Bezahlung zu arbeiten.
Aber wenn man das aus Sicht der INSM interpretiert, wird natürlich gerade das Instrument, mit dem die Bundesregierung jetzt dieser Entwicklung gegensteuern will, zum Werkzeug des Teufels. Und das Erstaunliche: Die neoliberale Institution entdeckt jetzt auf einmal so etwas wie ihr Herz für – die Langzeitarbeitslosen.
Die INSM in ihrer Mitteilung dazu: “Die Vorschläge der Bundesarbeitsministerin zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit werden die negativen Effekte des Mindestlohns nicht ausgleichen können. Vor allem für Geringqualifizierte werden sich die Arbeitsmarktchancen deutlich verschlechtern.”
“Besonders der Einstieg in die Erwerbstätigkeit wird für diese Gruppe durch den Mindestlohn immer schwerer”, schreibt Prof. Dr. Ronnie Schöb in einem Kurzgutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM).
Schöb befürchte, dass der Staat die Subventionen für die Eingliederung von Arbeitslosen in Folge des Mindestlohns deutlich ausweiten werde: “Wenn sich der Mindestlohn als zu hohe Einstiegshürde erweist und sich die Politik nicht damit abfinden will, viele Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt auszuschließen, dann wird Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit nichts anderes übrig bleiben, als einen ähnlichen Weg wie Frankreich zu beschreiten.”
Und wie man’s besser macht, glaubt man im benachbarten Frankreich entdeckt zu haben: Der französische Staat subventioniere die Arbeitgeber seit 2005 mit 26 Prozent des Lohnsatzes, wenn sie einen Arbeiter zum Mindestlohn beschäftigen.
Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der INSM, warnt nun natürlich mit aller Verve vor dem Einstieg in die Lohnsubvention: “Die französischen Steuerzahler kostet die Mindestlohnsubvention über 20 Milliarden Euro im Jahr. Für Deutschland könnte es ähnlich teuer enden.”
Das Kurzgutachten zeige, so interpretiert es die INSM: “Rund ein Drittel der arbeitslosen ALG II-Empfänger, die in den vier Jahren zuvor einmal sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, haben einen Bruttostundenlohn in ihrer letzten Beschäftigung erhalten, der – fortgeschrieben bis zum Jahr 2015 – unter 8,50 Euro lag.”
Schöb wird noch einmal zitiert: “Damit sind die Langzeitarbeitslosen am Stärksten von der Einführung des Mindestlohns betroffen, stärker noch als die Gruppe aller neueingestellten Arbeitslosen oder als die Gruppe der derzeit Beschäftigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung.”Und dann wird – man hat ja nun ausgerechnet die Langzeitarbeitslosen als neue Klientel entdeckt – noch einmal das große Schnupftuch herausgeholt: in den vergangenen Jahren habe sich Deutschlands Arbeitsmarkt auf einem so guten Weg befunden.
Aber – so Schöb: “In demselben Umfang, wie der Niedriglohnsektor ehemals Arbeitslose aufgenommen hat, sind ehemalige Niedriglohnbezieher in höhere Gehaltsgruppen aufgestiegen.”
Diese Entwicklung werde aber mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gestoppt. Die Sozialpolitik laufe damit Gefahr, die Anhebung der unteren Lohngrenze mit dem dauerhaften Ausschluss einer großen Anzahl von Erwerbspersonen aus dem Arbeitsmarkt zu erkaufen. Oder eben, was Schöb ja als Alternativ-These anführt: Es gebe dann französische Verhältnisse. Schöb: “Wenn sich der Mindestlohn als zu hohe Einstiegshürde erweist und sich die Sozialpolitik nicht damit abfinden will, viele Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt auszuschließen, dann wird Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit nichts anderes übrig bleiben, als einen ähnlichen Weg wie Frankreich zu beschreiten.”
Keineswegs erstaunlicherweise diskutiert er das Ganze auf der Basis von “Lohneingriffsintensität”, wie es schon das Dresdner ifo-Institut im Auftrag der FDP getan hatte. Das ist quasi eine Diskussion innerhalb einer Blase: Man unterstellt einfach, dass alle, die bisher mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro entlohnt wurden, künftig eher arbeitslos sind. Neuverteilungsprozesse werden gar nicht erst untersucht. Stattdessen nimmt auch Schöb an, dass Menschen, die eh schon niedrig oder gar nicht qualifiziert sind und die heute schon am stärksten vom schnellen Absturz in ALG II betroffenen sind, nach Einführung des Mindestlohnes wieder das Nachsehen haben.
Und dann stellt er eine weitere These auf, die er zu untersetzen versucht: “Besorgniserregend wäre der Anstieg des Niedriglohnsektors nur, wenn er sich dadurch erklärte, dass diejenigen, die noch vor wenigen Jahren Löhne oberhalb der Niedriglohnschwelle erhielten, in den vergangenen Jahren immer weiter nach unten abrutschten. Erklärt sich der Anstieg hingegen dadurch, dass eine stetig wachsende Zahl von Arbeitslosen wieder den Weg zurück in den Arbeitsmarkt gefunden hat, so wäre der ansteigende Anteil der Niedriglohnbeschäftigten Folge einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik und damit eine gute Nachricht.”
Nachweisen will er das, indem er zu den Niedriglohnbeziehern auch noch die Langzeitarbeitslosen hinzuzählt und sich dann bas erstaunt zeigt, dass die spezifische Arbeitslosenquote der Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung die letzten Jahren (justament seit 2005) deutlich gesunken ist. Die Frage, die er nicht beantwortet, ist: Kamen mehr Menschen ohne berufliche Qualifikation in Arbeit, weil die neuen Niedriglohnjobs das begünstigten, oder kamen sie in Arbeit, weil die deutsche Wirtschaft insgesamt mehr Arbeitskräfte brauchte? (Zwischenbemerkung: Die demografische Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt diskutiert er gar nicht.).
Allein die spezifische Arbeitslosenquote der Menschen ohne Berufsabschluss zu messen, erfüllt die faktische Begründung nicht – denn diese Menschen (wenn man sie denn mit Langzeitarbeitslosen gleichsetzt) können auch auf all den schönen Wegen, die sich Gesetzgeber und Arbeitsagenturen sonst noch ausgedacht haben, aus der Statistik verschwunden sein: in den vorgezogenen Ruhestand zum Beispiel – was übrigens sehr gut mit der Abschmelzquote von 3,6 Prozent in Einklang zu bringen wäre.
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Man kann nicht einfach sinkende Arbeitslosenzahlen nehmen, um herauszukriegen, wo die Langzeitarbeitslosen eigentlich gelandet sind. Dass sie oft genug den Teufelskreis von befristeter, schlecht bezahlter Arbeit, die sie schon nach wenigen Monaten wieder in die Räume des Jobcenters zurückspült, durchlaufen, macht die Sache nicht besser.
Tatsächlich beweist Schöb nur im Zirkelschluss, dass viele der von INSM und Freunden lieb gewordenen Billigjobs ab dem 1. Januar 2015 so nicht mehr funktionieren. Es wird – zwangsläufig – zu Umverteilungen kommen. Und in etlichen Branchen zu einer besseren Bezahlung von Jobs – und zu einem Steigen der Preise. Auch das ein Feld, das Schöb nicht diskutiert.
Seine Studie ähnelt also eher einem Schweizer Käse als einem belastbaren Ziegelstein. Und sie erzählt davon, wie wenig unabhängig deutsche Wirtschaftslehrstühle heutzutage tatsächlich denken.
So richtig zufrieden war wohl selbst die INSM nicht mit der Zuarbeit von Prof. Schöb. Sie hat auch das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, mit dem sie eng kooperiert, beauftragt, eine Studie zum Thema zu erstellen. Die wurde am heutigen 11. November veröffentlicht: Mit allen Mitteln verteidigt die INSM die so genannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse, scheint jetzt sogar eine regelrechte Kampagne entfesseln zu wollen.
Aber bestätigt nun vielleicht das IW Köln, was sich die INSM so sehr wünscht?
Mehr dazu morgen an dieser Stelle.
Das vollständige Gutachten von Prof. Schöb: www.insm.de/insm/Presse/Pressemeldungen/pressemeldung-geringqualifizierte-trifft-es-am-schlimmsten.html
Oder hier als PDF-Datei zum Download.
Das kleine – aber irreführende Streitgespräch zwischen Hans-Werner Sinn und Wolfgang Münchau
“Ignorante Kritik an Ökonomen: Sie sind wie Spürhunde”: www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kritik-an-oekonomen-der-grosse-irrtum-1.2198333
S.P.O.N. – Die Spur des Geldes: Meine Fragen an Hans-Werner Sinn: www.spiegel.de/wirtschaft/oekonomie-kritik-eine-replik-auf-hans-werner-sinn-a-1000763.html
Hans-Werner Sinn antwortet Wolfgang Münchau : “Ordnungspolitik funktioniert immer”: www.insm.de/insm/Presse/Pressemeldungen/pressemeldung-geringqualifizierte-trifft-es-am-schlimmsten.html
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